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ОглавлениеWingarten am Rhein
Ein Mann mit Glatze steht im Weinkeller und trinkt. Der Traum begann immer mit der gleichen Szene.
Auf dem Schädel des massigen Mannes spiegelt sich das Licht der vielen bunten Glühbirnen, die wie eine Girlande unter der gewölbten Kellerdecke hängen. Der Mann hat die Nase in das hohe Glas mit der tiefroten Flüssigkeit versenkt. Ein satter Seufzer erfüllt den Gewölbekeller, prallt von der aus roten Klinkern gemauerten Decke ab, fängt sich am Halbstückfaß, auf das der Mann sich mit dem rechten Ellenbogen stützt, fliegt eine endlos scheinende Reihe von Fässern entlang zu einer Nische an der Schmalseite des Gewölbes, in der in einem vielarmigen Leuchter weiße Kerzen flackern, und fällt schließlich erschöpft auf den feuchten Kellerboden. Der Mann hat die Nase aus dem Glas gehoben, hält es ans Licht der Kerze, die in einem Hügel aus Wachs auf dem Faß steckt, läßt den Inhalt kreisen. Setzt dann das Glas an, mit geschlossenen Augen, nimmt den ersten Schluck und schickt dem Seufzer ein lautes Schlürfen hinterher.
Der Mann steht am dritten Faß rechts in der langen Reihe von Fässern aus dunklem, aschefarbenen Holz; die Fässer links an der Gewölbewand haben eine hellere, noch goldene Tönung. Nebenan, im Nachbargewölbe, in das man über die Fässer hinweg hineinschauen kann, stehen weitere Reihen von Holzfässern.
Der Mann läßt den Schluck Wein in der Mundhöhle von einer Seite auf die andere wandern, kaut, schmatzt mit gespitzten Lippen und richtet beseligt die Augen nach oben, bevor er die Flüssigkeit die Kehle hinunterrinnen läßt. Dann schmatzt er noch einmal und federt auf den Zehenspitzen nach, bevor er das Glas wieder ansetzt.
Jetzt faßt seine linke Hand in die Außentasche des Sakkos, kommt wieder heraus und hält einen handlichen silbernen Gegenstand. Der Mann legt den Kopf in den Nacken und schaut zur Decke. Dann hält er sich den silbernen Gegenstand vor den Mund und sagt mit andächtiger Stimme »Spätburgunder Goldkapsel 1997« hinein, »Faßprobe bei Müller-Dernau im November«. Er läßt den Rest des Weines im Glas kreisen, das er zwischen Daumen und Zeigefinger am Fuß festhält, hebt es wieder in Augenhöhe und murmelt: »Farbe: sattrubin. Geruch«, fügt er nach einer Pause hinzu: »Röstaromen; Haselnuß.« Er steckt seine Nase ein weiteres Mal ins Glas: »Schokolade, Waldbeeren.«
Filmriß. Und dann eine neue Szene: gleicher Ort, gleiche Person. Das Licht in dem großen Keller ist jetzt merklich dunkler geworden, man sieht nur noch verschwommen, was passiert. Der Mann mit der Glatze geht langsam, den Rücken an ein Faß gelehnt, in die Knie, in der rechten Hand noch immer ein halbgefülltes Rotweinglas. Trinkt. Und trinkt. Und schließlich sitzt er vor dem Faß auf dem Hosenboden. In etwas, das wie eine Pfütze aussieht. Wie eine dunkelrote Pfütze. Wieder hat er das kleine silberne Ding in der Linken, diesmal lallt er hinein: »Susi.« Und noch einmal: »Susi.«
August M. Panitz knipste die Nachttischlampe an, setzte sich auf und hielt sich mit spitzen Fingern die schweißgetränkte Jacke des seidenen Pyjamas vom Leibe. Er träumte diesen Traum immer wieder – er wuchs sich langsam zum Alptraum aus. Ohne Zweifel: Die Sache war rätselhaft. Doch wenn er ehrlich war: Das größte Rätsel dabei war er sich selbst.
Er mußte zuviel getrunken haben, damals, bei der Faßprobe im Weinkeller von Müller-Dernau. Aber warum? Panitz kratzte sich die Brust unter dem nassen Pyjama. Normalerweise trank er bei Weinproben keinen Wein. Für das Urteil eines Fachmannes reichte es völlig aus, den Wein im Mund gehabt zu haben. Man muß nicht schlucken, was die Geruchsrezeptoren in der Nase und die Geschmacksknospen in der Mundhöhle geprüft haben.
Er verzog das Gesicht. Damals hatte er aus irgendeinem Grund nicht nur riechen und kauen und analysieren und ausspucken wollen, sondern trinken. Trinken. Trinken. Er schielte mit zusammengekniffenen Augen nach seinem Wecker und stellte fest, daß es noch viel zu früh zum Aufstehen war. Er würde trotzdem nicht wieder einschlafen können. Der Traum verfolgte ihn. Dabei war die ganze Sache ein gutes halbes Jahr her.
Er hatte sein Diktiergerät mehrmals abgehört. Erst seine Notizen, völlig korrekt abgegeben. Danach Funkstille. Und dann das gelallte »Susi«. In merklich weggetretenem Zustand gesprochen. August M. Panitz, besoffen auf dem Boden sitzend und an »Susi« denkend – er ließ sich wieder ins Bett zurücksinken. Lächerlich. Peinlich! So kannte er sich nicht.
Susanne hieß sie in Wirklichkeit, die kleine Blondine mit den schönen Rundungen an der richtigen Stelle. Na ja – an den Waden hätte es ruhig ein bißchen weniger sein dürfen. Er hatte sie bei der Geburtstagsparty von Walter Prior getroffen, der zur Feier des Tages ein paar verstaubte Flaschen aus dem Keller geholt hatte. Sie war in Begleitung eines Winzers aus Geisberg gekommen. Er hatte sie beobachtet – schließlich war ein hübsches Mädchen in dieser Szene selten –, hatte zugeguckt, wie sie wiederum all die anderen beobachtete, die Weinprofis, manch einer auch schon ziemlich angestaubt, die sich um den mit einem weißen Tuch bedeckten Tisch drängten, auf dem die Raritäten präsentiert wurden, und ihre Nasen in die Gläser hielten.
Auf ihrem Gesicht hatten sich Verblüffung und Belustigung abgezeichnet – das wunderte ihn nicht. Für Laien und aus der Distanz betrachtet, sind Weinproben seltsame Veranstaltungen. Wichtig blickende Männer blähen ihre Nüstern, pumpen die Backen auf, spitzen die Münder, nicken oder schütteln die Köpfe, schlürfen, mampfen und spucken. Eine ekstatisch quakende Horde von Ochsenfröschen. Und er gehörte dazu. Susanne hatte alle ausgelacht – auch ihn. Und das hatte ihm gefallen.
Mann, hast du dich verguckt, alter Knabe, dachte er und rutschte tiefer in die Kissen. Er spürte, wie ihn noch heute der Gedanke an sie erregte. Und das mußte des Rätsels Lösung sein: Weil er damals im November an die junge blonde Susanne Eggers aus Bersenbrück gedacht hatte, hatte er sich betrunken. Und deshalb nichts gemerkt. Er hatte in Müller-Dernaus Keller lallend in einer Weinlache gesessen und nicht gemerkt, daß der Kerl sich schon seit geraumer Zeit nicht mehr blicken ließ. Hatte statt dessen – wie oft? er wußte es nicht mehr – die gläserne Gärspirale oben aus dem Faß mit Müller-Dernaus bestem Wein genommen, den Stechheber vollaufen lassen und das Glas bis an die Oberkante mit dem roten Saft gefüllt. Und es ausgetrunken.
Es war Susannes Naivität gewesen, die ihm gefallen hatte. Oder, besser gesagt, ihr Unwissen. »Mein Onkel hat mich mitgenommen, damit ich mal was anderes kennenlerne als Lüttje Lage«, hatte sie gesagt.
»Lüttje Lage?« Er hatte erstaunt getan. »Ich kenne nur große Lagen.« Den Witz fand er auch heute noch gut.
»Lüttje Lage ist Bier mit Korn!« Susanne hatte ihn angestrahlt.
Das war's. Soviel charmanter Unkenntnis konnte er nicht widerstehen. Er hatte ihr ein Privatissimum erteilt – er erinnerte sich noch, wie verächtlich ihn Maximilian von der Lotte angeguckt und »Predigt Nr. 23, Vers 5, Absatz 16« gemurmelt hatte. Der reine Neid.
Er hatte ihr erklärt, warum diese Männer den Wein berochen, durchkauten, schlürften und dann wieder ausspuckten – weil das Riechen an erster Stelle kommt beim Weingenuß, der Geschmack im Mund an zweiter. Und die Kehle keine Rolle spielt. Das war das ABC des Weintrinkens: Nur die Nase kann den Duft des Weines, die Vielzahl von Aromen wirklich erfassen. Und nur in der Mundhöhle können Süße oder Säure, Perlenbildung, Temperatur, Dichte, Geschmeidigkeit und vor allem, beim Rotwein, Tanninhaltigkeit festgestellt werden. Tannine riecht man nicht; es sind die Geschmacksknospen im Mund, die uns einen Wein als hart, bitter, ledrig oder holzig empfinden lassen. Und das ist der Grund, warum der Kenner grimassiert und kaut und den einen Schluck hin und her wendet. Der Wein soll mit all den vielen Geschmacksknospen, die da drinnen auf ihn warten, in Berührung kommen.
Sie hatte ihm geduldig zugehört und ihn mit großen blauen Augen immerfort angesehen. Obwohl sie der ganze Sermon wahrscheinlich einen feuchten Kehricht interessiert hatte. Panitz gähnte und runzelte die Stirn. Das war ja das Problem – die mangelnde Weinerziehung im Land. Wenn die Konsumenten mehr wüßten, hätten die Betrüger keine Chance!
Aber Betrüger starben nicht aus – trotz der neuen Generation von Winzern wie Prior. Oder Blasius. Oder Müller-Dernau. Die erstklassigen Winzer hatten längst umgedacht – weg von der Massenproduktion, hin zu individuellen, qualitätsvollen Weinen. Bei denen man Wind, Wetter und Boden schmeckt, dachte er und schmatzte laut. Müller-Dernau gehörte zu der neuen Generation von Winzern, die dem deutschen Wein wieder zu Weltruhm verhelfen würden. Weltruhm – er liebte dieses Wort. Er wollte der Verkünder des neuen deutschen Weinwunders sein. Um so unnachsichtiger mußte man gegen Panscher und Betrüger vorgehen.
Vielleicht hatte auch Müller-Dernaus Keller dazu beigetragen, daß er sich damals so selbstvergessen aufgeführt hatte. Müller-Dernaus 200 Jahre alter Gewölbekeller war groß genug, um als Gärkeller und als Lagerkeller zugleich zu dienen. Im Lagerkeller ruhte Flasche um Flasche, die Raritäten lagen in Wandnischen, die wie Grüfte aussahen: bestaubt und von Spinnweben überzogen und von flackernden Kerzen erleuchtet, die Müller-Dernau ansteckte, wenn er bei hohem Besuch einige seiner besseren Bouteillen öffnete. Der Keller hatte die perfekte Temperatur und Luftfeuchtigkeit, seine Wände waren bedeckt von Cladosporium cellare, dem dunkelgraugrünen Kellerpilz, der Kelleratmosphäre und -feuchtigkeit natürlich regulierte. Laien ekelten sich davor. Er aber bewunderte die Natur, die eine so häßliche, schleimige Kreatur noch nützlich sein läßt.
Im Gärkeller hatten sich Müller-Dernaus beste Weißweine mitten im Gärprozeß befunden. Es gab kein schöneres Geräusch als das Glucksen, Rülpsen und Stöhnen, das entsteht, wenn die Gärgase aus den aufs Faß gesteckten Gärspunden und Gärspiralen entweichen. Müller-Dernau war mit der Lese spät dran gewesen, was auch gut so war, denn der Oktober war zum Schluß doch noch einmal sonnig und warm geworden, das hatte die Öchslegrade in die Höhe getrieben. Panitz war umgeben gewesen von besten Weinen bei der Arbeit. Gibt es einen schöneren Ort als einen Weinkeller?
Er zog sich die Bettdecke bis unter das Kinn. »Das war's«, sagte er laut. Das alles mußte zusammengewirkt haben: Der vorzügliche Spätburgunder, der Gedanke an die blonde Susanne und die wohligen Geräusche des Gärkellers hatten ihn eingelullt, hatten eine perlende Euphorie in ihm aufsteigen lassen. Er hatte glücklich auf dem Boden gehockt, an ein großes, beruhigendes Faß gelehnt, den Wein im Glas kreisen und schwappen lassen und sich betrunken.
Du Idiot, dachte er, richtete sich wieder auf und stopfte sich das Kopfkissen hinter den Kopf. Ausgerechnet ihm mußte das passieren. Dabei hatte er alles noch am Tag zuvor der hübschen Susanne erklärt.
»Hefen verwandeln Zucker in Alkohol.« Sie hatte genickt. »Diese Gärprozesse setzen Kohlendioxid frei, das aus den Gärspunden oder Gärröhren in die Luft entweicht. Kohlendioxid verdrängt Sauerstoff, weshalb jeder vernünftige Keller gut belüftet wird – mit Ventilatoren, wenn der Keller tief liegt.« Wieder hatte sie genickt. Hoffentlich hatte sie es auch verstanden. Erst kürzlich war ein Winzergehilfe bei Reinigungsarbeiten in einem der großen Weintanks erstickt. Kohlendioxid war schwerer als Luft und konzentrierte sich unten, am Boden.
Dummheit war eben verdammt verbreitet. Auch da, wo man Verstand vermutet hatte. Auch bei Weinkritikern von einem gewissen Renommee wie August M. Panitz – der sich gar nicht gefragt hatte, warum er in Müller-Dernaus tiefem Keller kein Ventilatorengeräusch mehr hörte. Warum Müller-Dernau nicht zurückkam. Und warum ihm so schwer und süß zumute war, so wohlig und geil. Dabei blakten die Kerzen – die auf dem mehrarmigen Kerzenleuchter waren bereits ausgegangen, den Müller-Dernau auf den Boden am Ende des langen Ganges gestellt hatte, in dem die Fässer mit dem neuen Riesling-Jahrgang standen. Die Zeichen konnten nicht deutlicher sein.
Irgendwann war die Botschaft bei ihm angekommen. »Gärprozesse setzen Kohlendioxid frei«, hatte er Susanne erklärt. Kohlendioxid verdrängt Sauerstoff. Sauerstoffmangel macht erst euphorisch – und dann tot. Wie ein Blitz hatte ihn die Erkenntnis durchzuckt: Er mußte hier raus. Und zwar sofort.
Panitz stöhnte auf und krampfte seine Hände um die Bettdecke. Er hatte sich so unendlich hilflos gefühlt. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, bis er sich hochgerappelt hatte, hoch vom kalten, glitschigen Kellerboden. Und die ganze Zeit hatten sich die Finger seiner rechten Hand um das Rotweinglas gekrampft, als ob er sich daran festhalten wollte.
Fluchend und mit berstendem Kopf, schwankend und rutschend hatte er sich zur Kellertreppe vorgearbeitet und hätte dann fast aufgegeben: Wie sollte er da hochkommen? Na wie schon! Auf den Knien, dachte er, die Szene vor Augen. Demütig.
Auf den Knien also war er hochgekrochen, hoch zur Tür; mit letzten Kräften hatte er sich aufgerichtet, die Klinke heruntergezogen und sich gegen die Tür gestemmt. Nichts. Die Tür war zu, verschlossen. Auf sein Klopfen und Rufen hatte niemand geantwortet. Er hatte sich hingesetzt, den Kopf auf die Brust sinken lassen und einen letzten Gedanken an Susanne geschickt.
An Susanne? Oder hatte sich, bevor er weggedämmert war, ein anderes Gesicht vor Susannes geschoben? Das Gesicht einer anderen blonden Frau. Eva?
Panitz schob den Gedanken resolut von sich und schlug die Bettdecke zur Seite. So sterben, hatte er irgendwann einmal feierlich erklärt. Mit einem Glas Wein in der Hand. In einem der schönsten Weinkeller, die er kannte. Umgeben von Hektolitern der feinsten Weine der Welt. So sterben. So möge der Tod ihn ereilen.
Alles Quatsch, wußte er heute. Sterben? Mußte das sein?