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Frankfurt am Main

Die letzte Verhandlung heute steckte Karen Stark in den Knochen. Du kannst doch nicht jedesmal vor Mitleid zerfließen, sagte sie sich auf dem Weg zurück vom Gerichtssaal in ihr Büro. Nur, weil es wieder einmal um das fundamentale Mißverhältnis ging: die Beziehung zwischen Männern und Frauen. Vorsichtshalber lächelte sie den Protokollführer an, der ihr entgegenkam und zu ihr herüberguckte. Hatte sie schon wieder Selbstgespräche geführt?

»Kann es sein, liebe Kollegin, daß Ihre Gefühle manchmal Ihre Urteilskraft ein bißchen, sagen wir mal: überlagern?« hatte vor einigen Tagen Staatsanwalt Manfred Wenzel gefragt, mit dem sie den Fall diskutiert hatte. Sie hatte ihm heftig widersprochen und ihn Scharfmacher genannt. Karen grinste in sich hinein. Sie stritt sich mit Wenzel leidenschaftlich und regelmäßig, seit er vor zwei Jahren aus Hamburg zur Staatsanwaltschaft Frankfurt versetzt worden war. Er hielt sie für sentimental, sie hielt ihn für einen arroganten Frauenfeind. Wahrscheinlich würde beiden ohne ihre ständigen Reibereien etwas fehlen.

Im Grunde gab sie bereitwillig zu, daß er in diesem Punkt nicht gänzlich danebenlag. Natürlich hatte sie eine angemessen lange Haftstrafe gefordert für die eine der beiden Frauen. Und eine weniger lange für die andere, die die Täterin nach der Tat gedeckt hatte. Aber sie konnte nicht leugnen, daß dieser Fall ihr nahegegangen war. Und daß solche Fälle ihr immer nahegehen würden. Und daß es sie Anstrengung gekostet hatte, nicht die Täterinnen zu verteidigen, sondern ihr Opfer – und dessen Recht auf Leben. Auch wenn das Opfer, solange es lebte, ein Täter gewesen war.

Ein Mann war zu Tode gekommen. Nach allem, was die Polizei in Erfahrung gebracht hatte, war das auf folgende Weise geschehen: Der 56jährige Frührentner war, in alkoholisiertem Zustand, eine Kellertreppe hinuntergefallen. Als er hilflos unten lag, hatte man ihm mit einem Hammer Schläge auf den Kopf versetzt. An einem der gut ein Dutzend Schläge war er gestorben. Tatverdächtige: die Ehefrau und die Tochter.

Zunächst schien der Fall klar: Die Ehefrau war geständig. Wenn man ihren eigenen Einlassungen und den Zeugenaussagen trauen konnte – »Natürlich kann man!« hatte Karen das professionelle Mißtrauen Wenzels zurückgewiesen –, dann hatte der Ehemann ihr sicher zwanzig Jahre lang das Leben zur Hölle gemacht. Er hatte sie geschlagen, sie vergewaltigt, sie gedemütigt, sie eingesperrt. Auch die Tochter hatte er regelmäßig verprügelt und bedroht – und sexuell mißbraucht? Es hatten sich während der Ermittlung keine Anhaltspunkte dafür ergeben. Hätte sie darauf mehr achten müssen? Hatte sie etwas versäumt? Karen Stark schüttelte den Kopf. Auch die Verteidigung hatte die Möglichkeit von Mißbrauch nicht zum Geltendmachen mildernder Umstände angeführt.

Die junge Frau war schon früh aus dem Haus der Eltern ausgezogen. Zum Tatzeitpunkt hatte sie ihre Mutter besucht. Zunächst hatte sie die Einlassungen der älteren Frau bestätigt. Im Zeugenstand aber war sie weinend zusammengebrochen. Nicht die Ehefrau hatte den Ehemann erschlagen, sondern die Tochter den Vater. Um die Mutter zu beschützen. Karen spürte, wie die Szene sie noch immer rührte. Die Frauen hatten sich geradezu verzweifelt voreinandergestellt. Die Mutter, weil ihre Tochter das Leben noch vor sich hatte. Die Tochter, weil sie ihr Leben in Freiheit nicht einer Lüge auf Kosten der Mutter verdanken wollte. Karen hatte Mitleid mit den Täterinnen – und nicht mit deren Opfer.

»Als Vertreterin der Strafverfolgungsbehörden haben Sie kriminelle Handlungen zu verfolgen. Ganz einfach – und wenn das Opfer hundertmal ein Verbrecher ist«, hatte Wenzel ihr bei der Diskussion des Falles entgegengehalten. »Und kommen Sie mir nicht mit Notwehr! Der Mann war nach dem Sturz von der Kellertreppe völlig hilflos! Die Beklagte hat mit dem Hammer auf einen wehrlosen Mann eingeschlagen! Das ist durch gar nichts zu rechtfertigen!«

Karen seufzte tief auf. Sie hatte Wenzel vehement widersprochen. Dabei hatte er recht. Tatsächlich war die Tat besonders brutal gewesen – und das war wirklich durch nichts zu rechtfertigen. Auch nicht, wenn die Täterinnen Frauen waren, die ihren Peiniger erschlugen.

Trotzdem hatte sie in ihrem Plädoyer die Notlage der beiden Frauen herausgestrichen. Das dankbare Lächeln der Tochter hatte ihr einen Stich versetzt. Die junge Frau würde viele Jahre im Gefängnis verbringen, bevor sie entlassen werden konnte. Aber es schien sie für den Freiheitsverlust zu entschädigen, daß sogar die Staatsanwältin ihr die moralische Rechtfertigung nicht absprach.

»Und demnächst mutieren Sie zur Vertreterin des gesunden Volksempfindens und applaudieren mit, wenn Frauen die Mörder ihrer Kinder im Gerichtssaal erschießen? Und halten ein Plädoyer für Selbstjustiz?« hatte Wenzel gefragt.

So ein Quatsch. Natürlich nicht. Karen eilte den langen, nach Reinigungsmittel riechenden Flur entlang, gefolgt vom Echo ihrer Pumps auf dem Linoleum. Sie haßte Selbstjustiz, wie sich das für eine Staatsanwältin gehörte. Andererseits sah das deutsche Strafrecht in Fällen wie diesem mildernde Umstände vor. Und einen Ermessensspielraum, von dem, wie sie hoffte, der Richter auch Gebrauch machen würde.

Sie ließ die rechte Schwingtür am Ende des Ganges mit einem geübten Fußtritt auffliegen und stürmte hindurch. Sie glaubte nicht an die angeborene Bösartigkeit des Mannes. Und daß Frauen zu äußerster Brutalität fähig waren, zeigte nicht zuletzt dieser Fall. Das alles aber änderte nichts daran, daß die Statistik die Männer in der Mehrzahl der Fälle als die Täter auswies. Als die Mörder und Totschläger, als die Vergewaltiger und Kinderschänder. Die Frauen waren nicht das bessere, die Männer hingegen das gewalttätigere Geschlecht. Sie bezweifelte, daß sich an diesem Verhältnis bald etwas ändern würde. Höchstens, wenn sich Frauen endlich einmal rechtzeitig wehrten.

Plötzlich merkte sie, daß sie nicht mehr mitleidig sein wollte, sondern zornig. Die Zeiten waren schließlich längst vorbei, als man in Polizeidienststellen und bei den Verfolgungsbehörden Prügel und Vergewaltigung für einen Teil des ganz normalen Ehealltags hielt. Warum zeigten die Frauen den Tyrannen im Hause nicht an, bevor sie zum äußersten Mittel griffen? Zum alleräußersten Mittel – zu Mord und Totschlag. Zu Selbstjustiz.

»Bravo, Frau Kollegin«, hörte sie im Geiste die kühle Stimme Manfred Wenzels sagen. »Willkommen im Rechtsstaat!«

Klugscheißer! Karen ging langsamer. Ihr Büro war nur noch ein paar Schritte entfernt. Sie stellte den Aktenkoffer vor die Tür und suchte in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel, schloß auf, ließ die Tür hinter sich zufallen und schlüpfte erleichtert aus den Schuhen mit den hohen Absätzen. »2 Anrufe«, meldete der kleine Bildschirm des Telefons. Das konnte bis morgen warten. Sie ging zum Wandschrank mit der Waschgelegenheit, wusch sich die Hände und beugte sich zum Spiegel über dem Waschbecken hinunter, um sich die Lippen nachzuziehen und die roten, glatten Haare zu kämmen. Warum hatte sie es eigentlich bis heute nicht geschafft, den Spiegel einfach ein bißchen höher zu hängen, ihrer Körpergröße entsprechend?

Karen Stark war groß, sie war sogar auffallend groß, und sie hatte eine tiefe, dunkle Stimme. »Damit kann man eigentlich nur Staatsanwältin werden«, pflegte ihr alter Freund Harri Ebinger zu behaupten. »Oder Burgschauspielerin«, entgegnete sie dann meist.

Beruflich war das nützlich. Stimme und Statur verliehen Autorität und verfehlten selten ihren Eindruck auf Angeklagte, Verteidiger und Richter. Wenigstens auf den ersten Blick wirkte sie strenger und beherrschter, als sie sich fühlte – was irgendwie beruhigend war. Sie zog die Robe aus und schälte sich aus dem Kostüm, das sie in den Wandschrank neben dem Waschbecken hängte. Selbstkritisch betrachtete sie sich: von vorne und, vor allem, von der Seite. Für diese Art der Inspektion hing der Spiegel an genau der richtigen Stelle: Der Speckgürtel um die Leibesmitte war nicht zu übersehen. Karen kniff sich in die Seite. Verdammt, dachte sie. Soviel Statur ist auch wieder nicht nötig.

Ächzend bückte sie sich und holte die Sporttasche aus dem Wandschrank. »Ein Aufbäumen gegen das Unvermeidliche«, sagte ihre Freundin Marion dazu. Aber sie mußte etwas tun. Das war ihr klar geworden, seit sie vor einer Woche gemeinsam einkaufen gewesen waren.

»Du brauchst offenbar keine Dessous, sondern Stütze«, hatte Marion gesagt, als Karen das ansteuerte, was ihre Freundin süffisant ein Miederwarenfachgeschäft nannte. Der Bedarf nach stützenden Maßnahmen war größer, als Karen angenommen hatte. Jedenfalls würde sie lange nicht den Blick vergessen, mit dem eine ältere, hagere Blondine im Geschäft sie taxiert hatte, als sie nach einem BH verlangte und verschämt die Größe sagte, an die sie sich irgendwie zu erinnern glaubte.

Die »hervorragende Fachkraft« – hinterhältiger Kommentar Marions – legte ihr wortlos zwei Nummern größere Ware vor, schickte sie in die Umkleidekabine und sagte: »Und dann sehen wir weiter.«

Die Frau hatte recht gehabt. Karen Stark fühlte, wie ihr das Strahlen abhanden gekommen war, als sie an der Kasse bezahlte. »Ich bin zu dick, Marion«, klagte sie auf dem Weg vom Roßmarkt zur Schillerstraße.

»Du bist nicht zu übersehen.« Marion kannte das Lamento schon.

»XXL. Vollschlank.«

»Hmmmh«, machte Marion. »Botticelli hätte seine Freude an dir.«

»Aus dem Leim gegangen.« Karen war immer noch nicht nach Scherzen zumute gewesen. Marion hatte sie liebevoll angesehen und »du spinnst« gesagt.

Karen hatte sich ein intensives Trainingsprogramm verordnet – Laufen, Radfahren. Und wieder öfter zum Krafttraining gehen. Sie hatte sich viel zu lange gehenlassen, den ganzen Winter über. Jetzt mußte der Speck weg.

Mit Marion konnte man über dieses Thema im Grunde nicht reden. Marion würde auch noch als Greisin wie eine Elfe aussehen. »Ich kann nichts dafür«, pflegte sie dazu zu sagen. »Es sind die Gene. Und – möchtest du im Ernst wie ich aussehen?« Natürlich nicht.

Marion, die kleine, zierliche Aschblonde mit der Stupsnase und den Veilchenaugen, wirkte zart und hilflos und weckte alle Beschützerinstinkte. Das konnte Karen nicht gebrauchen. Auch wenn es im Falle ihrer Freundin natürlich die reine Irreführung war. Marion bezahlte ihre Donna-Karan-Kostüme selbst und war eine erfolgreiche Börsenmaklerin. »Ich zocke gerne«, pflegte sie über ihren Beruf zu sagen und so zu tun, als ob das völlig normal wäre.

Die Freundschaft zu ihr hatte nur einen Nachteil, dachte Karen manchmal: Sie fühlte sich an schlechten Tagen in Marions Anwesenheit wie der schwerere Part von Pat und Patachon. »Besser dick als doof«, murmelte sie und holte den dunkelroten Trainingsanzug und die Laufschuhe aus der Sporttasche. Eineinhalb Stunden Trott durch den Grüneburgpark. Dann nach Hause, unter die Dusche. Und dann ins »Trapez«. Harri Ebinger, der Direktor von Deutschlands schönstem Varieté, wie er auf seine bescheidene Weise behauptete, hatte sie zum Eröffnungsabend seiner neuen Frühjahrsgala eingeladen.

Sie zog sich um, schulterte die Sporttasche, griff sich den Aktenkoffer und ging zum Parkhaus. Ihr Gepäck warf sie auf den Rücksitz ihres grünen Sportwagens. Dann startete sie und fuhr die drei Etagen hinunter zum Ausgang. Dort waren die für Frauen reservierten Parkplätze, die auch heute, wie meistens, leer standen, weil ihre Kolleginnen ebensowenig wie sie glaubten, einen besonderen Schutz nötig zu haben. So beraubt man sich aus purem Stolz der wenigen Privilegien, die unsereins noch hat, dachte Karen und wedelte mit der Hand zu den leeren Parkplätzen hinüber.

Am hinteren Eingang zum Grüneburgpark stellte sie ihr Auto ab – nur halb illegal, also ein Glücksfall –, stieg aus, schloß ab und trabte in gemütlichem Tempo los, gerade so, daß sie nicht außer Atem geriet.

Es verblüffte sie immer wieder, wie unterschiedlich Menschen aussahen, wenn sie sich der Grundfortbewegungsarten bedienten. Vor ihr lief ein schlaksiger, offenbar junger Mann, der mit den großen Füßen seitwärts ausschlug, bevor er sie wieder aufsetzte. Die alte Dame, die ihr entgegenkam, trug eine leuchtend rote Mütze auf dem Kopf, den sie leicht zur Seite geneigt hielt, und trippelte wie eine Bachstelze auf Karen zu. Und hinter ihr rollte unter Schnaufen ein ganzer Trupp an, aus dem ein herzhaftes »Tempo, Tempo!« ertönte, während die alten Herren sie dampfend überholten. Strahlende Gesichter hatte sie heute noch nicht gesehen. Dabei sollte das Laufen doch glücklich machen.

Sie hatte das immer für ein Gerücht gehalten. Irgendwie war ihr das Wunder der Endorphinausschüttung noch nicht widerfahren. Obwohl, na ja: Auch sie erlebte Glücksmomente bei diesem monotonen Im-Kreis-herum-Laufen, immer wieder auf denselben Wegen und an denselben Natur- und Kulturdenkmälern vorbei: Eben hatte sie die riesige Rotbuche passiert. Jetzt lief sie an der Gartenbank vorbei, die, wie ein auf der Rückenlehne angebrachtes, an den Rändern abgeplatztes Emailleschild behauptete, von Helene Mordkowitsch gestiftet worden war. Gleich mußte sie zum wiederholten Male an dem riesigen Haufen Hundescheiße vorbeilaufen, den ein entsprechend dimensionierter Köter, wahrscheinlich unter den bewundernden Blicken von Herrchen oder Frauchen, mitten auf den Weg gesetzt hatte und auf dem grünschillernde Fliegen hockten, die heftig mit den Flügeln rotierten, wenn man vorbei kam.

Man sollte sie mit der Nase hineinstupsen, dachte sie. Nicht die Hunde. Die Herrchen und Frauchen, deren Tierliebe exponentiell wuchs, je einsamer sie waren. Aber richtig erregen über diesen Egoismus städtischer Singles konnte sie sich heute nicht. Einsam war sie selbst. Und bald, fürchtete sie, würde sie ebenso verschroben sein wie ihre Nachbarin mit dem immer kahler werdenden Pudel.

Was sie am Laufen schätzte, war die Tatsache, daß man nach der zigsten Umdrehung plötzlich abhob und, zumindest gedanklich, in einer anderen Galaxis landete. Sie hatte schon die kniffligsten Probleme eines Falls beim Joggen gelöst. An irgendeinem Punkt befreite sich das Hirn von seinen erdgebundenen Ankern namens Gewohnheit und Disziplin und schwebte davon. Auch heute waren ihre Gedanken weit schneller als das behäbige Tempo, mit dem sie sich durch den fast leeren Park schob. Nur war es nichts Bedeutendes, woran sie dachte, waren es keine juristischen Spitzfindigkeiten, die sie bewegten, sondern die viel schlichtere (und plötzlich viel wichtigere) Frage, mit wem sie in diesem Jahr in den Urlaub fahren würde.

Es war schön, mit Marion unterwegs zu sein, mit dem Flugzeug nach London oder Paris zu fliegen oder mit dem Auto und wenig Gepäck gen Süden zu fahren. Es war nett, mit ihr in Bistros und vor Cafés zu sitzen und Männer zu taxieren. Und es tat sogar noch immer gut, mit Marion spätestens nach der zweiten Flasche Wein an der ewigen Frage zu scheitern, warum beide miteinander in den Urlaub fuhren – und nicht, wie andere Frauen auch, mit ihren jeweiligen Männern.

»Sie machen sich im Bett immer so breit.« Marion guckte bei diesem Vorwurf meistens besonders traurig.

»Sie lassen ihre schmutzigen Socken in der Badezimmerecke liegen.«

»Sie sind geizig mit dem Trinkgeld.« Marion war für Karens Geschmack erheblich zu großzügig.

»Sie kriegen in den unpassendsten Situationen einen Herzinfarkt.«

Das war Karens stärkstes Argument gegen Männer. Aber irgendwie …

»Keiner mag erfolgreiche Frauen im besten Alter«, hatte Marion kürzlich geklagt. Das hatte humorvoll klingen sollen. Doch Karen fürchtete mittlerweile, daß es nichts als die Wahrheit war.

Dabei fühlte sie sich im Prinzip als glücklicher Mensch. Sie lebte allein in einer lichten, großzügig geschnittenen Westendwohnung. Kochte nur dann für mehr als eine Person, wenn Freunde kamen – was zwei-, dreimal im Jahr passierte. Schlief in einem Bett, das groß genug war für drei. Fühlte sich wohl, so allein – meistens jedenfalls. Weshalb es sie tief erschüttert hatte, als sie sich kürzlich eingestehen mußte, daß ihr die Vorstellung panische Schweißausbrüche verursachte, ihr Leben lang allein zu bleiben.

Irgendwann würde sie ernstlich eine Anzeige auf dem Heiratsmarkt dieser Wochenzeitung aufgeben, die als so seriös galt. Aber wie formulierte frau, was sie vom anderen Geschlecht erwartete? »Suche Mann mit guten Manieren und trainiertem Verstand«? Ganz kurz nur blitzte ein Bild vor ihrem inneren Auge auf, das Bild eines Mannes mit blondem Haar und hellbraunen Augen. Und mit unglaublich starken Armen. Unwillig wischte sie es weg und versuchte sich auf ein anderes Bild zu konzentrieren. Auf das Bild eines Mannes, dem man von den Augen ablesen konnte, daß er sie ehren und begehren und nie langweilen würde. Aber die Leinwand blieb, allen gedanklichen Bemühungen zum Trotz, leer.

Hinterher hielt sie sich zugute, daß der Gedanke an den Idealmann der Karen Stark ihr Vorstellungsvermögen derart strapaziert haben mußte, daß alle anderen Sensorien sich ausgeschaltet hatten, damit das Hirn für diese eine, diese große Aufgabe genug Kapazität bereitstellen konnte. Jedenfalls hatte keiner ihrer Sinne sie gewarnt. Und keiner ihrer Reflexe war stark genug. Bevor sie abbremsen oder ausweichen konnte, landete ihr rechter Fuß mitten in einer weichen Masse und rutschte nach hinten weg. Karen ruderte verzweifelt mit den Armen und versuchte noch, ihr Gewicht vom rechten auf den linken Fuß zu verlagern. Aber der rechte Fuß rutschte weiter und knickte über dem Knöchel ein. Sie landete mit einem dumpfen Schlag auf der Seite. Scheiße, dachte sie, während der Sturz ihr den Atem verschlug.

Einen Moment lang war sie wie gelähmt. Sie sah sich auf der Intensivstation liegen. Aus einer Schnabeltasse trinken. Im Rollstuhl sitzen. Als sie sich endlich wieder bewegen konnte und aufstehen wollte, merkte sie, daß sich der rechte Fuß nicht belasten ließ. Sie schrie leise auf. Der Schmerz über dem Knöchel pochte nur und war zu ertragen. Aber sie konnte nicht auftreten. Sie hockte sich aufs linke Bein, stützte sich mit beiden Händen ab und kam schließlich mühselig hoch. Schwankend stand sie auf einem Bein und fühlte eine große Hilflosigkeit in sich aufsteigen. Sie hüpfte die paar Meter zurück zur Bank der Helene Mordkowitsch und hielt sich mit der Hand an der Lehne fest. Nix Rollstuhl, dachte sie. Gips.

Die braune Pampe an ihrem Schuh stank widerlich. Der Grüneburgpark war verwaist, der graue Himmel hatte sich noch ein bißchen tiefer gesenkt, nur von ferne klangen die Geräusche der Straße und Hundegebell herüber. Karen fühlte sich unendlich allein auf der Welt.

Der Jogger mit dem dunkelgrünen Stirnband war ihr schon dreimal entgegengekommen. Jetzt kam er das vierte Mal auf sie zu. Seltsam, dachte sie hinterher, was einem in solchen Momenten alles auffällt. Sie nahm die Schweißspur wahr, die trotz Stirnband auf der linken Wange des Mannes glänzte. Und den kleinen glitzernden Stein, den er im Ohrläppchen trug.

»Ich habe Sie fallen gesehen«, sagte der Mann. »Ich könnte die verdammten Köter alle abknallen!« Er steckte ein kleines silbernes Gerät, das er in der rechten Hand gehalten hatte, in die linke Brusttasche. Karen fühlte, wie ein hysterisches Lachen in ihr hochstieg. Sie hatte sich vorhin schon gefragt, warum der Mann Selbstgespräche zu führen schien – und sich dabei die Hand vor den Mund hielt. Er benutzte beim Joggen ein Diktiergerät. Meisterhaft.

Er sah sie stirnrunzelnd an. »Ist Ihnen was passiert?«

Karen wollte schon den Kopf schütteln – gewohnheitsmäßig, sozusagen. Ihr passierte schließlich nie etwas. Statt dessen nickte sie, mit einem überwältigenden Gefühl der Erleichterung, das ihr die Tränen in die Augen trieb. Und dann kicherte sie los.

Der Mann nickte, als ob er es gewohnt sei, daß sich große rothaarige Frauen, die beim Joggen in Hundescheiße ausgerutscht waren, halb kaputtlachten, griff mit der linken Hand in die rechte Brusttasche, zog ein Funktelefon heraus und schilderte der Notrufzentrale in kurzen, präzisen Sätzen, was geschehen war. Karen lachte immer noch – unter Tränen. Sie hatte einen echten Profi erwischt. Aber leider keinen, der dem soeben entworfenen Steckbrief ihres Traummannes entsprach. Der Mann mochte Männer.

Er half ihr, den versauten Schuh vom rechten Fuß zu ziehen. Nur einmal, als er nicht vorsichtig genug war, atmete sie scharf ein. Danach bestand sie darauf, daß er den Schuh in den Abfalleimer neben der Bank steckte. »Aber es ist doch …«, sagte der Mann. Richtig, sie trug die luftgepolsterten Laufschuhe von Reebok. Die waren teuer gewesen. Man mußte schließlich an seine Gelenke denken.

»Aber man kann doch …« Der Mann trug die ebenso teuren Adidas.

»Nein«, sagte Karen bestimmt, hielt sich mit der einen Hand an seiner Schulter fest und wischte sich mit der anderen die Tränen aus den Augen. Man konnte nicht. Sie wollte den Schuh nie wieder sehen.

Als sie auf den Krankenwagen warteten, dachte Karen an den Aktenkoffer, der in ihrem Auto stand. An die Anklageschrift gegen den Autoschieberring, die sie morgen skizzieren wollte. Und spürte ein ungewohntes Gefühl der Erleichterung in sich aufsteigen. Sie würde das erste Mal in ihrer Berufskarriere krankheitsbedingt ausfallen. Das empfand sie plötzlich als einen wunderbaren Wink des Schicksals.

Nur ins »Trapez« würde sie heute abend nicht gehen können. Das war das einzige, was sie bedauerte. Dann überließ sie sich wieder der ungewohnten Passivität und den Händen der Rettungssanitäter.

Wasser zu Wein

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