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Ankunft in Blanckenburg, fast sechzig Jahre später

Ein Bahnhof war wie der andere.

Katalina Cavic setzte Koffer und Taschen ab und zog sich den Kragen ihrer gefütterten Lederjacke enger um den Hals. Über den Platz vor Blanckenburg-Bahnhof strich ein eisiger Luftzug. Die wenigen Menschen, die an diesem frischen Apriltag zu sehen waren, hatten den Kopf gesenkt und stemmten sich gegen den Wind.

Es war ihr mittlerweile egal, wo sie ankam – und was sie hinterließ, wenn sie wieder ging: Eine heruntergewirtschaftete Wohnung, ein paar Bücherkisten, ein altes Auto. Manchmal auch einen Mann. Warum Blanckenburg? Warum nicht. Das letzte Mal war es Kerken gewesen und davor Bramsche und davor ...

Sie schob die Hände in die Jackentaschen und zog die Schultern hoch. Irgendwann kam die Zeit, da würde sie auch Blanckenburg wieder den Rücken kehren. Heimat ist, wo es Arbeit gibt. Der Rest ist Erinnerung.

Sie blickte auf die Uhr. Er kam zu spät.

Als sie wieder aufsah, glaubte sie sich in einer anderen Welt.

Zwei schwarze Pferde vor einer offenen Kutsche galoppierten mit wehenden Mähnen auf den Platz. Das passte weder zum Wetter noch zu diesem trübsinnigen Vorort. Das Friesengespann stob an ihr vorbei, trommelnde Hufe, geblähte Nüstern, rollende Augen. Der Mann auf dem Kutschbock hatte sich halb aufgerichtet, rief den Pferden etwas zu und zerrte an den Zügeln. Vergeblich.

Katalina hielt ihr Gesicht in den Wind und hätte fast gelacht. Ja, es gab zu tun. Blanckenburg hatte eine Verabredung mit ihr. Sie würde das Städtchen schneller kennenlernen, als seine Einwohner ahnten und es ihr lieb war: den Mann, der seine Pferde nicht im Griff hatte. Und all die anderen, deren Hunde und Meerschweinchen, Katzen und Zierfische Koliken oder Flöhe hatten. Das war der Gang der Dinge. Ein Beichtvater war nichts gegen einen Tierarzt, diese natürliche Vertrauensperson aller Menschen mit Tieren, insbesondere der älteren und einsamen. Und ein Tierarzt war nichts gegen eine Tierärztin.

Manchmal machte sie das traurig. Manchmal brachte es sie zum Lachen. Und manchmal sorgte es dafür, dass sie wieder ging.

Immer auf der Flucht, dachte Katalina.

Das Friesengespann hatte eine Runde um den Platz gedreht und kam jetzt zurück. Das Fell der Pferde glänzte, der Kötenbehang, die Fellstulpen um die Fesseln, und die unbeschnittenen Mähnen waren sauber gekämmt. Rotes Ledergeschirr, schwarze Kutsche – man hatte offenbar Geld und Geschmack. Als das Gespann vor ihr zu stehen kam, griff Katalina dem nervöseren der beiden Tiere ins Zaumzeug und murmelte „Polako, Polako.“ Der Gaul reagierte, als ob er flüssig im Bosnischen wäre.

„Ich weiß nicht, was mit ihr los ist“, sagte der Mann in Reitstiefeln und grüner Cordhose, der von der Kutsche sprang und ihr mit ausgestreckter Hand entgegenging. „Alex Kemper. Sind Sie – ?“

Das also war der Mann, der ihr beim letzten Telefongespräch versprochen hatte, sie abzuholen. Er schaute fragend. Was hatte er erwartet? Eine blonde Fee? Sie ließ die Hand in der Jackentasche.

Verlegen lächelte er. „Sie müssen Katalina Cavic sein.“

„Und Sie sind der Herr von Schloss Blanckenburg?“ Ihre Handbewegung umfasste Wagen und Gespann.

Kemper verzog den Mund und lachte dann doch. „Ein Herr, der noch nicht einmal seine Pferde im Griff hat?“ Er tätschelte den Hals des Wallachs, der ruhig dastand, während die Stute noch immer dampfend atmete. „Das hier ist Woodstock und die nervöse Dame heißt Daphne.“

Kemper verstaute das Gepäck und half Katalina mit übertriebener Galanterie in den Wagen. Kaum saß er selbst, gingen die Pferde los, als stünde der Große Preis von Niedersachen auf dem Spiel. Die wenigen Zuschauer tuschelten und grinsten.

„Langsam!“ Der Mann hielt die Zügel viel zu kurz. Sie hätte sie ihm am liebsten aus der Hand genommen. Aber nach einer Weile fielen die Tiere von selbst in einen lockeren Trab und nach wenigen Minuten hatten sie den tristen Vorort mit dem Bahnhof verlassen. Katalina lehnte sich aufatmend zurück und ließ den Blick über die Landschaft gleiten. Rostrote aufgebrochene Erde auf den Äckern. Dazwischen graugrüne Wiesen und verkrautetes Brachland, ein Tannenwäldchen in der Ferne, am Bachlauf verwehtes Gehölz.

Kemper entspannte sich langsam. „Eigentlich wollte ich bei Ihnen Eindruck schinden“, sagte er. „Aber Friesen können zickig sein.“

Das Ende der Verbindungsstraße kam in Sicht. Vor ihnen lag Blanckenburg-Stadt, genau da, wo das flache Land sich zu erheben begann und gemächlich dem höchsten Punkt des tannendunklen Gebirges zustrebte. Über dem Städtchen sah man das Schloss thronen. Blanckenburg schien sich zu ducken unter seinem gewaltigen Wahrzeichen. „Renaissance-Schloss seit dem 16. Jahrhundert, ab 1705 barock umgebaut. Die Burganlage selbst stammt aus dem 12. Jahrhundert“, sagte Kemper.

Autos und Menschen strömten ihnen entgegen, während die Pferde die Hauptstraße entlang zogen. Die Stute ging im Gleichklang mit dem Wallach, ihre prächtigen Hinterteile wogten, die Köpfe mit den spitzen Ohren nickten, ab und an schnaufte eines der beiden Tiere. Nur Kemper wirkte verkrampft, er grüßte niemanden, obwohl man ihm zuwinkte und ihnen hinterhersah.

Dafür lächelte Katalina in die Menschenmenge, als ob sie ihre Untertanen segnete. Es waren ihre künftigen Kunden, die Frau im Regenmantel, deren geschorener Pudel ein bunt gemustertes Deckchen trug, der Jugendliche in Schlabberhosen, der sich von einem energiegeladenen Malamud über die Straße ziehen ließ – und die Frau vor dem Schaufester einer Buchhandlung. Zum vornehmen Grau des edlen Weimaraners, der neben ihr stand, trug sie ein bodenlanges dunkelrotes Gewand und einen auffallend breitkrempigen Hut.

In diesem Moment stieß Daphne ein markerschütterndes Wiehern aus und sprang vorwärts. Woodstock, überrumpelt, hielt nicht lange dagegen und schloss sich dem wilden Galopp an. Die Kutsche schlingerte über die Straße, fast wäre das Gespann mit einem entgegenkommenden Kleintransporter zusammengeprallt.

Alex Kemper brüllte und zerrte an den Zügeln. Diesmal nahm Katalina sie ihm aus der Hand. Sie spürte fast im selben Moment, wie sie Kontakt aufnahm mit den beiden kraftvollen Kreaturen vor ihr, wie über eine Nabelschnur. Daphne schüttelte noch einmal schnaubend den Kopf, Schaumfetzen flogen nach rechts und nach links. Dann wurde sie ruhiger und schließlich fielen beide Pferde wieder ins Schrittempo.

Katalina atmete tief auf. „Was um Himmelswillen ist los mit den Gäulen?“ „Ich hatte gehofft, Sie könnten mir das erklären.“ Kemper klang resigniert. „Es kommt aus heiterem Himmel.“

Sie bogen von der Hauptstraße ab, in eine kopfsteingepflasterte Gasse. Es ging bergauf. Über ihnen hing das Schloss wie ein graues Felsennest. Das Gespann zog einen weiten Bogen um den Schlossberg, bis sie durch einen steinernen Torbogen in den Innenhof einfuhren.

Das Geräusch der Pferdehufe hallte von den beiden langgestreckten Seitentrakten des Gebäudes wieder. Sie musste die Zügel unwillkürlich angezogen haben, denn die Pferde schritten wie in einem Trauerzug auf die Schlossruine zu.

Das von Ferne so imposante Gebäude sah aus der Nähe wenig einladend aus. Die Uhr am Turm des Schlosses schien schon lange auf halb sechs zu stehen. Die steinernen Figuren auf den Simsen rechts und links davon wirkten grau und gebrechlich. Türen hingen schief in den Angeln oder waren mit roten Klinkern zugemauert.

„Der alte Kasten ist nicht bewohnbar.“ Besitzerstolz merkte man Kemper nicht an. „Wir wohnen standesgemäß nebenan, im Traiteurshaus, da hauste früher der Koch.“ Er half ihr vom Bock. „Sehen Sie sich ruhig um. Aber Sie sollten nicht allein hineingehen. In den oberen Stockwerken kann man für nichts mehr garantieren.“

Der einstmals ockerfarbene Putz hatte sich in dicken Placken von der Fassade des vierflügligen Baus gelöst. In den Regenrinnen wuchs Unkraut. Einige Scheiben der tiefgezogenen Fenster waren zerschlagen, andere mit Pappe zugeklebt. Katalina versuchte einen Blick durchs Fenster. Hier musste eine Kapelle gewesen sein. Die Stuckverzierungen an der Decke des Kreuzgewölbes waren größtenteils abgefallen und lagen in weißen Brocken auf dem Boden.

Durch die Fenster zum nächsten Saal konnte man noch Reste von prächtigen Deckengemälden und Wandmalereien erkennen. Die Kachelöfen, das Parkett, die Wände schienen Opfer von jugendlichen Vandalen, Hausschwamm und kaputten Regenrinnen geworden zu sein. Katalina zog fröstelnd die Schultern hoch.

Der durchdringende Schrei hinter ihr ließ sie zusammenzucken. Die erbitterte Klage eines frustrierten Schlossgeistes? Katalina drehte sich um. Ein Pfauenpärchen schritt heran. Es passte zu der verkommenen Pracht mindestens so gut wie das Pferdegespann mit den schwarzen Friesen.

Sie atmete tief durch. Der Turmflügel wirkte nicht ganz so verwahrlost wie die beiden Seitenflügel. Im ersten Stock waren die Fenster noch intakt, im zweiten mit Holzplanken vernagelt oder mit Plastikfolie geflickt. Der Anblick des Verfalls löste ein Gefühl in ihr aus, das sie nicht gleich entschlüsseln konnte. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf zum Turm, um den ein Schwarm Krähen kreiste. Genau. Das alles war ihr vertraut. Es erinnerte sie. An Kälte, Feuchtigkeit, Hunger, Verfall. An das graue Bauernhaus, durch dessen Fenster und Türen der Wind blies. An das blakende Herdfeuer in der Küche. An die Großeltern. An Gavro.

Es erinnerte an zu Hause.

Zu Hause ist da, wo es Arbeit gibt, wies eine strenge innere Stimme sie zurecht, die wie Großmutter klang, wenn sie zu lange in der Bibel gelesen hatte. Nun, an Arbeit mangelte es in Blanckenburg sicher nicht: Sie hatte die örtliche Tierarztpraxis übernommen, in einem Fachwerkhaus in der Altstadt, das renoviert werden musste. Bis alles fertig war, durfte sie im Kutscherhaus des Schlosses wohnen, das hoffentlich in nicht ganz so trostlosem Zustand war wie das herrschaftliche Anwesen selbst. Sie musste möglichst bald verlässliche Handwerker auftreiben und sich um ein neues Auto kümmern. Schließlich wollte sie nicht auch noch ihre Freizeit in diesem Ruinenstilleben verbringen.

Katalina schlenderte zurück zum Traiteurshaus, einem kompakten Bau, der vor der Schlossmauer lag und bewohnbar wirkte. Eine schrille Stimme schallte ihr entgegen. Sie schaute hinauf zum ersten Stock. Eine Frau mit einem dunklen, strengen Pagenschnitt um das runde Gesicht lehnte aus einem der Fenster und rief wieder etwas, das Katalina nicht verstand. Es klang wie ein empörtes „Nein“ auf bayrisch.

„Ich suche Noa, meine nichtsnutzige Tochter“, sagte die Frau, als sie schließlich hinunterblickte und Katalina sah. „Sie sind die neue Tierärztin, stimmt’s?“

Katalina nickte.

„Hat Alex Sie hier stehengelassen? Wo ist Ihr Gepäck? Wie war die Fahrt? Sprechen Sie überhaupt deutsch? Frieren Sie nicht?“

Katalina musste nicht antworten, denn die Frau hatte ihren Kopf noch vor dem letzten Fragezeichen zurückgezogen. Minuten später öffnete sich die Haustür.

Katalina würde sich immer an diesen Augenblick erinnern, in dem sie Alma Franken zum ersten Mal begegnete: Alma sah aus wie eine russische Mamotschka, es fehlte nur das Kopftuch. Sie war klein, rund wie ein Kegel und trug einen bodenlangen, schweren Faltenrock, ähnlich solchen, die alte Frauen in jenen Gegenden tragen, in denen man an Kirchweih noch Tracht anlegt. Das stark geschminkte Gesicht und die auffälligen Schmuckstücke um Hals und Handgelenke passten nicht zu dem biederen Gewand. „Kommen Sie rein in unsere malerische Residenz.“

In Flur war es düster; es roch nach Essen. Alma öffnete die Tür zu einer Art Wohnküche. Der Raum war überheizt, im Backofen brutzelte irgend etwas und unter dem Fenster bullerte ein schwarzer Kanonenofen. Eine Frau saß auf einem durchgesessenen Sofa und starrte konzentriert auf einen Laptop. Zu ihren Füßen räkelte sich eine riesige schwarze Dogge. Das Tier hob den Kopf, schien sich nicht entscheiden zu können, ob es gähnen oder knurren sollte, und ließ ihn wieder fallen.

„Das ist Frau Dr. – “

„Cavic“, sagte Katalina. „Praktische Tierärztin. Ohne Doktor.“

„Also die neue Veterinärin“, sagte der hagere Mann, der beim Herd gestanden hatte und sich nun neben die Frau auf dem Sofa setzte. „Willkommen auf Schloss Blanckenburg.“ „Die unhöflichen Herrschaften auf dem Sofa sind übrigens Sophie Franken und Peer Gundson“, sagte Alma und wandte den beiden den Rücken zu. „Meine jüngste Schwester und ihr – Lebensgefährte.“ Die Frau mit dem Laptop hob den Kopf, sah blicklos in Katalinas Richtung, nickte und senkte den Kopf wieder. Peer Gundson hob eine Hand und winkte matt.

„Es fehlt noch Erin, das ist die mittlere von uns dreien. Verheiratet mit Alex.“

Nanu, dachte Katalina. Kemper sah nicht nach Ehemann aus.

„Und meine Tochter Noa. Wo ist der Satansbraten?“

Alle guckten zur Tür. Aber es war Alex Kemper, der einen Schwall kühler Luft, ihre Arzttasche und einen mürrischen Gesichtsausdruck in die stickige Küche brachte.

„Es stinkt“, sagte er. „Kann es bei uns nicht dieses eine Mal, wenn wir schon mal einen Gast haben, etwas kultivierter zugehen?“ Er ließ die Tasche fallen.

Die Frau mit dem Laptop klappte ihr Gerät zu und blickte kurzsichtig in die Runde. Alma begann geräuschvoll den Tisch zu decken. Und Katalina wünschte sich weit fort. Dennoch folgte sie der unausgesprochenen Einladung, sie hatte Hunger. Alle setzten sich – bis auf Sophie Franken, die nervös abwinkte. Kemper schob seinen Teller schon nach den ersten Bissen von sich.

„Geht’s uns so schlecht, liebe Alma, dass wir diesen Schweinefraß hier essen müssen?“ „Du weißt, wie es uns geht“, sagte Alma mit leidender Miene. „Gut, dass uns Frau Cavic demnächst allmonatlich ihre Miete vorbeibringen wird. Dann können wir uns deinen vorzüglichen Geschmack vielleicht wieder leisten.“

Peer Gundson, der bei Kempers Bemerkung aufgestanden und hinausgegangen war, kam zurück mit einer Flasche in der Hand. Verlegen lächelnd sah er Katalina an und goss ihr, als sie nickte, ein.

Alex prostete ihr zu. Im Unterschied zu den anderen hatte sie mit Appetit gegessen. „Als Tierärztin scheint man einen guten Stoffwechsel zu haben“, sagte er mit Blick auf ihren Teller. Sie sah auf. Alle schienen auf ihren Teller zu starren. Katalina starrte zurück. Ich weiß, was Hunger ist, dachte sie und hob das Glas.

Der Rotwein schmeckte schwer und würzig und ließ sie an gefüllte Heuschober und an ihre Großmutter denken, wie sie mitten im heißesten Sommer in der Küche stand und Marmelade aus schwarzen Johannisbeeren einkochte.

„Solange wir noch was im Keller haben“, sagte Alex und prostete in die Runde. „Und wer weiß – vielleicht werden ja doch noch alle Wünsche wahr.“

Alma nahm einen Schluck und stellte das Glas dann wieder ab. Sie hatte die schwarzen Augenbrauen zusammengezogen und blickte in die Runde. „Sollten wir nicht doch – nach anderen Möglichkeiten Ausschau halten? Ich meine – das Projekt mit dem Golfhotel war vielleicht übertrieben, aber – “

„Es ist vor allem gescheitert, liebe Alma“, sagte Peer Gundson.

„Ich finde, wir sollten Geduld haben“, sagte Sophie, die noch immer neben dem leise schnarchenden Hund saß. Ihre Stimme zitterte vor Nervosität.

„Aber das eine schließt doch das andere nicht aus! Ich meine, bevor wir das Schloss weiter verfallen lassen müssen... Viel Zeit ist nicht mehr!“

„Diesen Sommer hält es noch durch!“ Alex Kemper klang bestimmt, aber Katalina war der kurze Seitenblick hin zu ihr nicht entgangen.

„Ich habe darüber nachgedacht, ob wir nicht besser – “

„Heute nicht, Alma. Unser Gast interessiert sich nicht für unsere Sorgen.“

Katalina senkte den Kopf, damit niemand sie lächeln sah. Familie ist doch was Schönes, vor allem, wenn man sie nicht hat, dachte sie.

Ein kluger Gedanke – nur schade, dass er wehtat.

Nach einer Weile löste der Wein die Anspannung, unter der die Schlossbewohner zu stehen schienen. Schlossbewohner? Das Schloss war eine Ruine, seine Besitzer wohnten im Dienstbotenhaus und schienen auch noch auf das bisschen Miete angewiesen zu sein, die sie ihnen zahlte. Zugleich hielt man sich ein kostspieliges Pferdegespann. Seltsam. „Lachen Sie nur über uns.“ Alma lehnte sich zu ihr hinüber, die Stimme verschwörerisch gesenkt. „So ist das in Familien. Abgesehen davon, dass es bei uns nicht die drei Schwestern sind, die sich zanken, sondern unsere Männer.“

„Aber was denn! Peer ist die Bescheidenheit und Zurückhaltung in Person.“ Alex grinste spöttisch. „Und im übrigen bin ich sicher, dass Katalina das alles brennend interessiert.“

Ersatzweise begannen nun alle, sie auszufragen. Verheiratet? Nein. Kinder? Keine. Haustiere? Nicht mehr. Noch nicht. Als irgendwann die Küchentür aufging, schaute keiner hin. Eine zarte, unauffällige Person, die vom Alter her nur Erin sein konnte, schlüpfte auf den freien Stuhl neben Gundson. Alma bemerkte sie als erste und schien sie fragend anzusehen. Erin hob die Schultern und ließ sie wieder fallen und schüttelte dann leicht den Kopf. Alma seufzte, räumte die Teller zusammen und stand auf.

Katalina verabschiedete sich, sobald es die Höflichkeit zuließ. Als sie, von Alex begleitet, hinausging, hob die Dogge den Kopf. Was für ein schönes Tier, dachte sie noch und sah erstaunt, wie sich der Blick des großen Hundes verschleierte und ihm der Kopf wieder auf die Pfoten sank.

Kemper trug ihr das Gepäck zum Kutscherhaus. Er atmete wie sie tief durch, als sie durch die kühle Nachtluft gingen. „Wir sind – eigentlich ganz normal, Katalina“, sagte er nach einer Weile.

Erwartete er eine Antwort?

Das Kutscherhaus war schäbig eingerichtet, aber es hatte Zentralheizung und warmes Wasser. Katalina legte sich in die Badewanne und kroch schließlich angenehm durchwärmt und todmüde ins Bett. In der Nacht träumte sie von Flicka, der alten Mähre, die sie vor den Leiterwagen gespannt hatten, wenn Großvater sie mitnahm zum Markt in Glogovac. Sie träumte von einem warmen Pferdestall, vom malmenden Geräusch, mit dem die Stute den Hafer fraß. Von ihrem leisen Schnauben. Vom Meckern der beiden Schafe. Von dem betäubenden Geruch aus Heu, Schafwolle und Pferdeäpfeln. Von Gavro.

Russisch Blut/Doppelte Schuld

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