Читать книгу Russisch Blut/Doppelte Schuld - Anne Chaplet - Страница 19

Оглавление

3

Ein toter Hund. Ein alter Mann, den man an den Rand des Todes medikamentiert hatte. Katalina hatte nicht gut geschlafen nach der Begegnung mit dem Kranken gestern abend. Wieso wohnte der Exmann von Alma im Schloss, obwohl er noch nicht einmal Noas Vater war? Und warum hielt man seine Anwesenheit in den ehemals gräflichen Zimmerfluchten geheim?

Beim Zähneputzen fiel es ihr wieder ein. Irgend jemand hatte einen alten Mann erwähnt, 84 Jahre alt. Aber wann, wo, wer?

Sie trank ihren Kaffee in der Küche und hörte zu, wie das Findeltier mit gieriger Schnauze seinen Essnapf über den Küchenfußboden schob. Der Hund fraß mit beeindruckendem Appetit. Bei Tageslicht war er nicht hübscher geworden. Zeus, dachte sie. Der Göttervater, der sich nicht zu fein war, sich in ein niederes Tier zu verwandeln, wenn ihm nach Nähe zu den Menschen war. Gott ist auch in den hässlichsten Dingen. „Dein Name sei Zeus“, sagte sie und hob den Kaffeebecher. Der Hund stellte sein hingerissenes Schmatzen und Schlingen ein und blickte auf, die Ohren gespitzt, die bernsteinbraunen Augen voller Aufmerksamkeit. „Zeus“, wiederholte sie. Er bewegte seinen Schwanz, erst langsam, dann schneller, sprang auf sie zu und leckte ihr ausgiebig die Hand.

Die provisorische Leine, die sie ihm anlegte, bevor sie ihn mitnahm zum Einkaufen, kam weniger gut an. Sie gingen zu Fuß in die Stadt – sofern man von gehen sprechen konnte, wenn an jedem zweiten Baum angehalten werden musste, weil dem Köter etwas Aufregendes in die Nase stieg. Ihr Mobiltelefon verhielt sich erfreulich still. Die anderen Tiere Blanckenburgs schienen heute alle gesund zu sein – oder das frühlingshafte Wetter draußen hatte ihre Besitzer abgelenkt von der eigenen Einsamkeit. Zwei ihrer Kunden führten den Hund aus und begrüßten Katalina auf der Straße. Andere nickten ihr zu – sie war bereits eine bekannte Größe in der Stadt. Alle waren höflich, tätschelten Zeus und beglückwünschten sie zu ihrer Namenswahl, aber man sah ihnen an, was sie dachten: Zeus war der hässlichste Hund, den man jemals gesehen hatte. Nur die Dame mit dem ausladenden Hut konnte Katalina nicht gleich einordnen. Sie war nicht ohne weiteres wiederzuerkennen, weil sie bei Katalinas erstem Besuch kein Wagenrad auf dem Kopf getragen hatte – es war das Frauchen von Gero, dem schon etwas altersschwachen Weimaraners.

Man musste niemanden lange auffordern, über das Schloss, seine Geschichte und seine neuen Besitzer zu reden. Alex erregte allgemein die Neugier: Die einen hielten ihn für ein ganz großes Tier, die anderen fanden ihn wenigstens charmant. Peer Gundson entzündete die Phantasie weit weniger. „Wenn er schon bei der Bank ist, dann soll er mal das Geld beischaffen, damit endlich was passiert da oben in diesem Rattennest“, sagte die Buchhändlerin, bei der Katalina zwei dicke Krimis kaufte. Aber niemand erwähnte einen „alten Herrn“ und auf ihre direkte Frage, ob es außer den Frankens und ihrer Sippe noch andere Bewohner des Schlosses gäbe, erntete sie erstaunte Blicke. In der Tat: wer sollte das schon besser wissen als sie?

Die Frankens hatten offenbar mehr zu verbergen als ein bisschen Ehebruch und finanzielle Probleme. Katalina setzte sich auf einen der weißen Stühle vor dem italienischen Eiscafé und blinzelte in die Sonne, während ein erschöpfter Zeus sich zu ihren Füßen fallen ließ. Sie versteckten einen alten Mann. Und womöglich hatte jemand den Hund zu vergiften versucht. Noa? Mädchen in ihrem Alter waren zu den merkwürdigsten Dingen fähig. Und Noa zeigte alle Anzeichen pubertären Irreseins: Sie spionierte Alex Kemper hinterher, wahrscheinlich schwärmte sie für ihn, und sie wusste, dass Alex etwas mit Sophie hatte. Nichts läge also näher, Sophie durch das Vergiften ihres Hundes zu bestrafen. Den Zugang zu den entsprechenden Medikamenten hatte Noa ja.

Aber dass sie dem alten Herrn aus Absicht die doppelte Dosis des blutzuckersenkenden Mittels gegeben haben sollte ... Katalina hatte das Mädchen vor Augen. Das war echte Panik gewesen, da war nichts gespielt. Und es würde sie sehr wundern, wenn Noa der Zusammenhang zwischen Unterzuckerung und Koma vertraut wäre. Sie trank ihren Milchkaffee aus und stand auf.

„Haben Sie schon gehört?“ Ettore, der Besitzer vom „Golfo di Napoli“, quittierte ihren Wunsch nach der Rechnung mit höflicher Abwehr. Er hielt den kostenlosen Milchkaffee für eine Ehrensache, seit sie die Meerschweinchen seiner Bambini von Koliken befreit hatte.

„Es kam eben in den Nachrichten. Sie haben am Krellberg einen alten Bunker geöffnet und ein Munitionslager gefunden. Und zwei Skelette. Von Menschen .“

Den ganzen Heimweg über beschäftigte sie der Gedanke an die Menschenknochen. Sie war aufgewachsen in dem festen Glauben ihrer Großmutter, dass die Toten zurückkehren – nicht jene, die friedlich im Bett verschieden und ordnungsgemäß beigesetzt worden waren. Sondern die anderen: die man erschossen, erschlagen, ertränkt oder sonstwie gemeuchelt hatte. Ein Aberglaube, der im Land ihrer Herkunft Wirklichkeit geworden war – wahrscheinlich spülte noch immer jedes Frühjahrshochwasser Totenteile an die Oberfläche. Und hier, in Deutschland, fast sechzig Jahre nach dem Ende des Krieges? Auch hier stiegen sie aus dem Hades, die Opfer von Gewaltherrschaft und Krieg. Wann wurden Knochen zu Staub? Sie wusste es nicht. Es schien unendlich lange zu dauern.

Alma musste den ganzen Tag für ihre Soiree gearbeitet haben – der Gartensaal sah selbst im hellen Spätnachmittagslicht verwunschen aus. Katalina registrierte das charmante Lächeln, mit dem Alma sie begrüßte, ohne auch nur mit einem Blick auf die Ereignisse vom Abend zuvor anzuspielen. Auch die anderen waren da. Alex. Erin. Und Sophie, die ihr Gesicht unter einem großen Hut mit schwarzer Schleife verbarg und die Hand auf Peer Gundsons Knie gelegt hatte, als ob es der Hundekopf des treuen Leo wäre.

Noa drückte Katalina ungefragt ein Glas in die Hand. Das Mädchen servierte die Drinks mit der ganzen Zuvorkommenheit einer rebellierenden Fünfzehnjährigen. Die anderen Schlossbewohner aber waren zur Charmeoffensive angetreten.

Sophie war die einzige, die nichts Frühlingshaftes trug. Alma hatte sich pfundweise Eigenkreationen um den Hals gehängt, Erin sah ausnahmsweise mal nicht nur blass aus, und sogar Peer Gundson wirkte belebt. Alma schwirrte von Gast zu Gast wie eine Hummel von Blüte zu Blüte. Und Alex Kemper lehnte an dem reichlich ramponierten Klavier, das Alma sonstwo aufgetrieben haben mochte, und flirtete mit der Bürgermeisterin, wobei ihm Erin vom Fenster her zusah. Es war nicht das erste Glas, das er leerte, und er winkte viel zu schnell und viel zu gebieterisch nach Noa und Nachschub.

Katalina stand an der Terrassentür, die Nase so nah wie möglich an der Luft, die nach warmer Erde und Narzissen roch, und betrachtete das Tableau im Gartensaal von Schloss Blanckenburg, das alle Merkmale eines Heimatromans aus dem 19. Jahrhundert versammelte. Wenn die von der Burg zum Empfang luden, kamen immer noch alle: Der Bürgermeister und der Pfarrer und der Lehrer. Es störte noch nicht einmal, dass der Bürgermeister viel zu jung war, der Pastor eine Frau, der Lehrer der Leiter einer hochangesehenen Eliteschule eine Burg weiter und der Advokat fehlte. Wenn sie sich dazustellte, wäre sogar der Arzt zur Stelle – wenn auch nur der Tierarzt.

Die einzige, die nicht ins Bild passte, war Noa, die bauchfrei trug und hohe Stiefel zur engen Hose. Und Alma. Sie lachte zu laut. „Ein Golfhotel? Nein, nein, keine Sorge, daran sind schon unsere Vorgänger gescheitert!“

Die Bürgermeisterin nickte. Sie sah verloren aus unter dem großen Ölgemälde über dem Kamin, unter dem selbst Alma wie eine Zwergenkönigin wirkte. Irgendein Pippin der Seltsame. Gestern hatte es dort noch nicht gehangen. Katalina trat näher. Man hatte das Bild nicht gerade gut behandelt – der Rahmen sah billig und nicht sehr alt aus und dort, wo ein empfindungsloser Mensch die Leinwand gefaltet oder geknickt hatte, war die Ölfarbe abgesprungen. Ein Urahn derer von Blanckenburg? Finster genug sah er drein, der hakennasige Herr mit dem strengen Mund. Und die anderen, kleineren Bilder, einige älteren, einige jüngeren Datums? Sie hingen ohne Ordnung an der Wand, Alma hatte sie offenbar nach Größe und Schönheit sortiert und nicht nach einer Familienchronik, die ohnehin niemanden betraf, der heute auf Blanckenburg wohnte.

Trotzdem verglich Katalina die drei Schwestern mit dem finsteren Ahnen. Er kam ihr bekannt vor. Aber nein, es gab keine Ähnlichkeiten. Höchstens Alma konnte es an Imposanz mit dem gräflichen Vorfahren aufnehmen.

Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute nach oben, dorthin, wo noch Reste des alten Stucks an der Decke hingen. Man würde viel, sehr viel Geld brauchen, um das Schloss wieder herzurichten. Ein Thema, das auch die Anwesenden beschäftigte, wieder einmal. Sie senkte den Kopf und blickte in die Runde.

„Ein Gartenfestival ist nun wirklich keine zündende Idee“, murmelte Sophie, ohne Erin anzusehen, von der offenbar der Vorschlag gekommen war, und nippte an der Tasse mit dem Kaffee, der schon längst kalt sein musste. „Und stell dir vor: all die Leute, die dir den Rasen kaputtrampeln und alles mitnehmen, was nicht angeschraubt ist.“

„Man muss die Geschichte einbeziehen. Die eigentliche Tradition von Schloss Blanckenburg“, sagte der Schulmann mit tragender Stimme. „Sie sind hier von Geschichte umgeben!“

Alma nickte eifrig.

„Wir können die Entstehungszeit der ursprünglichen Burganlage auf das 12. Jahrhundert zurückführen.“ Die Bürgermeisterin klang, als ob sie auch bei Tatsachenbehauptungen auf die parteipolitische Zulässigkeit ihrer Aussage achtete. „Die Napoleonischen Kriege. Blanckenburg war von französischen Truppen belagert und der Schwarze Herzog starb 1815 bei Quatrebras.“

„Vielleicht denken Sie auch an die Kirche, die bis 1945 neben dem Schloss stand“, sagte die Pfarrerin leise. Klara Buddensen war die einzige unter den Gästen, die sich nicht wohl zu fühlen schien. „Wäre der damalige Stadtkommandant nicht so stur gewesen, stünde sie noch heute da.“

„Romanisch. Zweimal abgebrannt. Zweimal wieder aufgebaut. Zerstört durch einen amerikanischen Jagdbomber-Angriff am 20. April 1945 um 11 Uhr“, fügte der Lehrer soldatisch knapp hinzu. „Gesprengt im August. Natürlich ist auch das Geschichte, die es wert ist, bewahrt zu werden.“

„Und was ist mit den Jahren danach? Wir haben in der Bibliothek eine wunderhübsche Sammlung realsozialistischer Memorabilia gefunden.“ Alex Kemper blickte unschuldig. „Eine Marxbüste. Die illustrierte Volksausgabe von Karl May. Und einen Meter Jugendbücher, Reihe ‚Spannend erzählt’, vom Verlag Neues Leben.“

Der Lehrer lächelte mild, die Bürgermeisterin guckte gequält.

Nur Alma lachte. Zu laut. Alle starrten sie an, als sie sich mit strahlendem Lächeln in Bewegung setzte. In diesem Moment hob Zeus den Kopf, der bis dahin zufrieden vor der Terrassentür gelegen hatte, und stieß ein erstaunlich tiefes Knurren aus. Mit einem Satz hatte er Alma eingeholt, die mit ausgestreckten Armen auf die Tür zurauschte. Katalina versuchte, ernst zu bleiben. Zeus wuchs über sich hinaus. Wahrscheinlich glaubte der kleine Kläffer, er sei als Ersatz für Leo eingestellt. Sie versuchte gar nicht erst, ihm hinterherzupfeifen. Der Hund war nicht schlecht erzogen. Er war noch gar nicht erzogen.

Alma stieß einen spitzen Schrei aus, Noa ließ ein Glas fallen und von der Tür her hörte man erstaunte Laute. Dann hatte Zeus sich beruhigt. Er saß fromm auf seinen Hinterläufen und ließ sich von einem der beiden Männer, die im Türrahmen standen, die Ohren kraulen.

„Das sind – unsere Überraschungsgäste“, sagte Alma mit einem schiefen Lächeln. „Die Überraschung ist ganz meinerseits“, sagte der andere der beiden Männer und trat in den Raum. Er hatte seine runden Körperformen in einen rustikalen Tweedanzug mit Weste gesteckt, wie ihn der gepflegte Landmann trägt, am Hals eine weinrote Fliege, und er trug einen Hut – wahrscheinlich, um den Kahlkopf zu verbergen. Seine Gesichtsfarbe deutete darauf hin, dass er dem guten Leben nicht abgeneigt war.

Der andere, der Hundeflüsterer, dem Zeus wie ein Lämmchen folgte, die Lefzen zu einem anmutigen Lächeln verzogen, hatte ein schmales, asketisches Gesicht mit hellblauen Augen, die ein wenig schräg zu stehen schienen, volle, dunkle Haare, obwohl er nicht mehr der Jüngste zu sein schien, und scharfe Falten zwischen Nasenwurzeln und Mundwinkeln.

Alma hatte sich wieder beruhigt, hakte den kleinen Dicken unter und zog ihn mit sanfter Gewalt in die Mitte des Raumes. „Das ist Professor Doktor Sigurd Rust, der bekannte Archäologe!“

Niemand schien diese Auskunft sonderlich zu erregen.

„Und das ist – “ Alma kniff die Augenbrauen zusammen. Mit dem anderen Gast hatte sie offenkundig nicht gerechnet.

„Dr. Moritz Bergen, ein Kollege“, sagte Rust großmütig. Der Mann wusste, wer hier der Star des Abends war.

„Habe ich nicht kürzlich etwas gelesen von Ihnen?“ Sophie runzelte die Stirn.

Rust neigte den Kopf. „Sie meinen sicher meinen Beitrag zum Streit über die Varusschlacht?“

„Quinctili Vare, legiones redde!“ rief der Schulmeister.

Rust lächelte, geschmeichelt. „Ja, der Artikel hat Aufsehen erregt. Zu Recht. Ich kann schlüssig nachweisen, dass der nationalgeschichtlich so bedeutsame Sieg der Germanen über die römischen Legionen nicht dort stattfand, wo man Millionen von Steuergeldern in ein gigantisches Museum investiert hat, um dem Publikum das Geld aus der Tasche zu ziehen. So etwas nennt man unter ehrlichen Wissenschaftlern Betrug.“

„Und Sie wissen – wo es wirklich geschah?“ Alex Kemper klang irreführend höflich.

Rust schien Kempers Ironie nicht zu bemerken. „Nicht nur ich vermute, dass Varus nie in Kalkriese war.“

„Aber man hat doch etwas gefunden dort!“ Sophie schüttelte den Kopf.

„Münzen. Eine Axt. Eine Gesichtsmaske, der einzige Fund von Belang. Beschläge von Fuhrwerken. Ein paar verrottete Pfosten. Reste von Sandalen. Solche Funde kann man überall machen, wo Römer waren.“

„Aber – “

Rust strahlte Sophie an. „Genau! Es fehlt jeder konkrete Hinweis auf eine finale Schlacht! Aber wer will schon zugeben, dass die Fördermittel ins falsche Projekt geflossen sind?“

„Und nun sagen Sie uns noch, dass das wirkliche Schlachtfeld gerade hier um die Ecke war und wir können unsere Probleme als gelöst betrachten!“ sagte Kemper.

„Wer weiß?“ Rust schüttelte Gundson die Hand und sah Alma dabei an. „Ich habe es gleich gespürt, gnädige Frau. Hier liegt etwas in der Luft“ – er hob die Nase, als ob er den Geist der Geschichte erschnüffeln wollte. „Hier gibt es – Magie.“

„Wir sprachen gerade darüber, Herr Professor.“ Alma klang andächtig. „Von der wechselvollen Geschichte dieses Ortes.“

„Vom 12. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg“, assistierte Alex. „Da lag ganz schön was in der Luft – ganze Bombergeschwader, zum Beispiel.“

Der Professor ließ sich von Noa ein Glas Prosecco in die Hand drücken. „Die Menschen bauten schon immer dort, wo sie einen spiritus loci verspüren. Auch vor dem 12. Jahrhundert wird dieser Ort hier sein Kraftfeld entfaltet haben. Die Geschichte ist älter und größer, als wir kleinen Geister ermessen können.“ Er leerte das Glas und hielt es so lange am ausgestreckten Arm in die Luft, bis Noa endlich begriffen hatte, dass sie nachschenken sollte.

Katalina schielte zur Terrassentür hinaus. Draußen spreizten sich die Pfauen, nickten die rosa Blüten der Zierkirschen in den Blumenkübeln.

„Also?“ Almas Gesicht glühte.

Sigurd Rust beugte sich vor und deutete mit dem Zeigefinger auf den Fußboden. „Also müssen wir nachschauen!“

Katalina hätte fast gelacht, als alle Blicke dem Zeigefinger folgten.

Der Archäologe erging sich in Plänen, die das große Feld bei den Grabsteinen, eine Gruppe junger Studenten und wissenschaftliche Methoden mit unaussprechlichen Namen einbezogen. Die anderen verstummten. Selbst Alex Kemper schien zuzuhören. Nach einer Weile verlor sich der spöttische Zug auf seinem Gesicht.

Katalina gab es auf, irgend etwas verstehen zu wollen. Sie beobachtete Moritz Bergen, der noch immer Zeus’ Ohren kraulte und dessen Gesicht eine Art widerwillige Bewunderung erkennen ließ. Entweder fand er, dass Rust ein Scharlatan war. Oder er steckte mit ihm unter einer Decke. Ihr Blick wanderte hinaus, in den sonnendurchfluteten Garten, durch den die Hummeln schwärmten. Erst als Klara Buddensen ihre Stimme erhob, sah Katalina wieder auf.

„Ich möchte nur eines dazu anmerken. Mehr steht mir nicht zu.“ Die Pastorin übertönte mühelos alle anderen.

„Dort, wo Sie offenbar Ihre Sonde ansetzen wollen, Herr Rust“ – sie nickte dem mittlerweile ziemlich betrunken wirkenden Rust zu – „liegen die Trümmer der alten

Schlosskirche. Deren Fundamente reichen bis ins 13. Jahrhundert zurück. Und wahrscheinlich würden Sie darunter nur die Krypta finden – mit den Gräbern von Äbten, Bischöfen und derer von Hartenfels zu Blanckenburg.“

„Mir ist das egal.“ Alma hörte sich nicht an, als ließe sie sich von einem Plädoyer für ungestörte Totenruhe beeindrucken. „Was wir brauchen, ist Geld für die Sicherung des Schlosses. Und wenn wir dadurch die Grabruhe einiger vermoderter Knochen stören.“ „Malerisch über den Schatz der Nibelungen gebreitet“, sagte Alex.

Die Umstehenden waren verstummt. Deshalb hörte man umso deutlicher, wie Erin „Ich kann das Wort Schatz nicht mehr hören“ zischte und den Raum verließ.

Die Pfarrerin war weiß im Gesicht geworden. „Frau Franken“, sagte sie mit fester Stimme. Katalina konnte sich mittlerweile vorstellen, wie das klang, wenn die Frau in einer vollbesetzten Kirche von der Kanzel herab mit den Sündern abrechnete. „Sie haben dieses Schloss nicht ererbt. Sie sind Nutznießer der Tatsache, dass man die rechtmäßigen Besitzer nach 1945 um ihr Eigentum gebracht hat. Ich – finde es unfein, wie Sie aus den Trümmern einer großen Vergangenheit Geld herauspressen wollen, koste es, was es wolle.“

Und dann wurde ihre Stimme ganz leise. „Folkert von Hartenfels zu Blanckenburg ist 1944 von den Nazis aufgehängt worden, weil er an einer Verschwörung gegen Hitler beteiligt war. Das ist Geschichte, an die man erinnern sollte. Auch wenn es die Touristen nicht so interessieren dürfte wie ein Römerhelm.“

Klara Buddensen folgte Erin. Aber sie ging nicht leise, bescheiden und achselzuckend, sondern mit der Bühnenpräsenz einer Brünhilde. Katalina sah in die erstaunten Gesichter der Anwesenden, in das verblüffte Kempers, das schockierte Sophies, das ungläubige Almas. Und plötzlich war sie dankbar für diese Verteidigung einer Tradition, die ihr eigenes Vorstellungsvermögen weit übertraf.

Draußen schrie ein Pfau. Katalina sah das Haus vor sich, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, zusammen mit ihrem jüngeren Bruder Milo und den Großeltern. Wie armselig es wirklich gewesen war, zeigte der Geröllhaufen, den eine Panzerfaust an einem Frühlingsmorgen davon übrigließ.

Sie spürte, wie ihr die Kehle eng wurde und blinzelte in den hellen Himmel draußen vor der Terrassentür. Geschichte. Bis zurück ins 12. Jahrhundert. Fast tausend Jahre. Dort, wo sie her kam, hatte niemand Wurzeln, geschweige denn etwas, das man Geschichte nennen könnte. Die, auf die sich einige Leute etwas einbildeten, war Legende – mit tödlicher Wirkung.

Als sie sich wieder umdrehte, stand Alex Kemper neben ihr.

„Und was glauben Sie, Frau Doktor?“ Fast war sie versucht, sein Lächeln zu erwidern. „Soll Blanckenburg zum Anziehungspunkt der Golfer dieser Welt werden? Oder zu einem Paradies für Gartenfreunde? Oder sollten wir unsere Finanzen mit archäologischen Sensationen aufpäppeln? Stellen Sie sich vor – “ Er breitete die Arme aus. „Die Schlacht bei Blanckenburg. Sammeln Sie echte germanische Pfeilspitzen und römische Bleigefäße! Und abends servieren wir Wildschwein am Spieß, wie bei Asterix und Obelix!“

Jetzt lachte sie doch. Alex Kemper war ein Frauenheld, aber ein unterhaltsamer.

„Und wer weiß, was sich noch alles finden wird irgendwo in den Katakomben von Schloss Blanckenburg.“ Alex grinste. „Unschätzbar kostbares Geschmeide, versteckt in einem schweinsledern eingebundenen, ausgehöhlten Gesangbuch? Geheime Dokumente in der Familienbibel, denen zufolge den Eigentümern von Blanckenburg in Wirklichkeit der ganze Industriepark Nord mitsamt seinem Erlebniseinkaufscenter gehört?“

Die Bürgermeisterin lachte verschämt.

„Kostbare Gemälde?“

Täuschte sie sich, oder warf Sophie ihrem aufgekratzten heimlichen Liebhaber einen strafenden Blick zu? Katalina schenkte Alex ein strahlendes Lächeln. Jetzt erst recht.

Russisch Blut/Doppelte Schuld

Подняться наверх