Читать книгу Russisch Blut/Doppelte Schuld - Anne Chaplet - Страница 17

Оглавление

1

Der Geruch fiel sie an, sobald sie die Tür geöffnet hatte, er war ihr vertraut, sie kannte ihn viel zu gut. Katalinas Schritte hallten durch die Räume mit den leeren Wänden. Die Praxis von Dr. Gotsky war in einem erbärmlichen Zustand. Der Fußboden, eine Art Linoleum, hatte Flecken und Dellen und Einkerbungen, an den Wänden hingen schwärzliche Spinnweben, die stockfleckigen Tapeten lösten sich bereits. In der Luft stand der Geruch nach Desinfektionsmittel und nassen Hunden mit chronischer Zahnfleischentzündung.

Sie hatte nicht die Absicht, allzu viel Geld in die Praxis hineinzustecken, nur das Nötigste sollte getan werden, aber selbst das sah nach Arbeit für Wochen aus. Katalina lehnte sich in den Türrahmen und studierte die abgegriffenen Standardrassetafeln für Pferde und Rinder und die anderen eselsohrigen Plakate an den Wänden, auf denen für Floh- und Wurmmittel geworben wurde. Einige der dort genannten Medikamente waren schon vor Jahren aus dem Verkehr gezogen worden. War das wirklich so eine gute Idee gewesen, alle Brücken hinter sich abzubrechen und ausgerechnet hierhin zu flüchten? „Wer nirgendwo bleiben kann, ist niemals frei“, hatte der vorletzte ihrer Männer einmal gesagt. Es war eine kluge Bemerkung gewesen – das einzige, was sie daran gestört hatte, war der Vorwurf, der darin mitschwang. Zwei Monate später hatte sie ihre Koffer gepackt.

Warum nur kam der Neuanfang in Blanckenburg ihr diesmal nicht wie eine Befreiung vor? Sie löste sich von der Tür und ging zum Fenster. Sie hatte heute Nacht geträumt, bis in die Morgenstunden, als eine Nachtigall vor ihrem Fenster zu schlagen begann. Seit sie in Blanckenburg angekommen war, quälten die alten Dämonen sie wieder. Alles war da, alles, was sie zu verdrängen gelernt hatte. Vor allem Gavro. Das tat am meisten weh, denn jeder Traum von ihm, von seinem Lachen, seinen Küssen, seinen Worten, endete mit dem Erwachen in einem Leben, in dem es ihn nicht mehr gab.

Sie riss sich aus ihren Gedanken und öffnete die Tür zu einem dritten Raum. Ein, zwei Sekunden lang hielt sie die Luft an. Hier roch es nicht, es stank. Dr. Gotsky hatte alles, was er nicht mehr benötigte, in das fensterlose Zimmer gepackt: einen ramponierten Behandlungstisch, Besucherstühle, die noch aus tiefsten DDR-Zeiten stammen mussten, Medikamente, Verbandszeug und eine Kiste voller Instrumente, die ganz so aussahen, als ob sie bereits Sammlerwert hätten.

Katalina bückte sich und holte das stählerne Maulgatter hervor, mit dem man Pferden den Mund aufsperrte, damit man ihnen die Zähne stutzen konnte. Erfreulicherweise hatte es der alte Herr Gotsky schon zu einer bohrmaschinenbetriebenen Raspel gebracht, das sparte Betäubungsmittel und schweißtreibende Handarbeit. Tatsächlich sah alles noch einigermaßen brauchbar aus: die Kastrationszangen in allen Größen, die roten Nasen-Schlund-Sonden und das Wurfzeug für Pferde, diverse Fasszangen für die Geburtshilfe und ein Embryotron. Hoffentlich musste sie das so bald nicht einsetzen. Man holt damit tote Kälber stückweise aus dem Bauch der Mutterkuh.

Sie ging wieder nebenan, öffnete die Fenster, und begann, Blanckenburgs Handwerker abzutelefonieren. Beim Elektriker meldete sich niemand. Beim Klempner brüllte im Hintergrund ein Kleinkind. Die Klempnersfrau war freundlich, aber ausweichend. „Hoffentlich wird das auch was mit Ihrer Praxis. Soweit ich gehört habe ... Naja: sicher ist das nicht, aber der Eigentümer will alles so lassen, wie es ist. Sagt mein Mann.“ Der offenbar an diesem Auftrag nicht interessiert war.

Ihre Laune näherte sich dem Nullpunkt. Sie schloss die Fenster, verließ die Wohnung und ging am mittelalterlichen Rathaus vorbei über den Markt bis zu der schmalen Treppe, die vom Städtchen hoch zum Schloss führte. Je höher sie stieg, desto stärker spürte sie den Sog, der von dem grauen Koloss ausging. Es war kein angenehmes Gefühl.

Als sie im Kutscherhaus ankam, war sie angespannt und gereizt. Der Kaffee von heute morgen schmeckte nicht mehr, er war in der Warmhaltekanne lauwarm und sauer geworden. Sie zuckte genervt zusammen, als das Mobiltelefon zu schnarren begann und über den Küchentisch rutschte.

„Ja?“ sagte sie ins Telefon, während sie sich auf den Stuhl sinken ließ.

„Sprechen Sie lauter!“ Eine ungeduldige Stimme. „Sind Sie die neue Tierärztin?“ Eine misstrauische Stimme.

Sie atmete tief ein. Eine Kundin. „Das ist richtig. Hier ist Katalina Cavic.“ „Ja. wo finde ich Sie denn? Sie sind auf dem Schloss, wurde mir gesagt. Aber da geh ich nicht hin, das ist mir zu weit!“

„Frau – “

„Ich bin Frau Werner und mein Liao hustet so komisch.“

„Liao ist Ihr – “ Erkälteter Guppy? Alles war möglich.

„Liao-Wangtai von Aasenheim. Ein Chow-Chow, fünf Jahre alt – ein ganz wunderbares Tier!“

Katalina notierte Name und Anschrift. „Und er hustet, sagen Sie.“

„Können Sie gleich kommen? Es ist dann nämlich Zeit für meinen Mittagsschlaf, und nachmittags kommt Besuch.“

Was für eine herrische Lady – getreu dem Spruch: „Der Chow ist ein Hund, der ein Herr ist, auf der Suche nach einem Herrn, der kein Hund ist.“ Wenigstens hatte die alte Dame zu tun. Es gab genug einsame Leute, die ihrem Tier alles mögliche andichteten, damit wenigstens ein Mensch mal nach ihnen sieht.

Sie kramte den Stadtplan von Blanckenburg hervor. Frau Werner wohnte nicht in der Altstadt, nein, sie residierte im Kurviertel, in dem sich die Bessergestellten um die Jahrhundertwende Jugendstilschlösschen und Fachwerkvillen hatten bauen lassen, damals, als ein Kurort mit Heilquelle nicht die Rentner, sondern die Reichen und Bedeutenden anlockte. Wie es sich gehörte für die Besitzerin eines reinrassigen Chow-Chows. Katalina sah auf die Uhr. Zu Fuß war das nicht zu schaffen. Sie brauchte bald einen Wagen oder wenigstens ein Mietauto. Ein Moped. Ein Fahrrad? Wie schnell man doch bescheiden wird. Sie hatte gestern ein Fahrrad gesehen, beim Stall, in einem offenen Unterstand.

Katalina zog Laufschuhe an, nahm die Wetterjacke vom Haken und griff sich den Arztkoffer. Dann lief sie hinüber zum Traiteurshaus. Eine Klingel gab es nicht, also ging sie hinein. Im Flur roch es noch immer nach Essen. Sie klopfte an die Küchentür. Nichts rührte sich. Sie zögerte. Dann öffnete sie die Tür.

Der Anblick überraschte sie. Alma stand in Rock und BH vor dem Sofa, auf den sie einen großen Spiegel gestellt hatte, und betrachtete sich. Sie hatte sich noch stärker geschminkt als sonst, ihr Dekolleté glitzerte, als ob sie Goldpuder aufgetragen hätte und um ihren nicht eben schwanengleichen Hals lag ein Kollier aus Glastropfen in tiefem Rot. Sie drehte sich langsam um.

„Und?“ fragte sie. „Was sagen Sie dazu?“

„Schön“, sagte Katalina. Mehr fiel ihr nicht ein.

Alma seufzte, nahm das Kollier ab und schlüpfte in die Bluse, die sie über den Stuhl vor dem großen Tisch geworfen hatte, auf dem Kästen mit Schmuckperlen lagen, Silberdraht, Zangen. „Ich wünschte, es wäre nur ein Hobby“, sagte Alma mit Blick auf ihr Handwerkzeug. „Aber ich müsste mal wieder was davon verkaufen.“

Dann drehte sie sich um und setzte den Wasserkocher auf.

„Ich habe eigentlich nur eine Frage.“ Katalina hatte keine Lust auf ein beschauliches Kaffeestündchen mit Alma. Und keine Zeit.

„Die anderen sind in der großen Stadt. Geld verdienen. Wichtige Termine. Na, was man so alles vorschützt, wenn man den Anblick hier nicht mehr erträgt.“ Alma nahm eine Dose aus dem Regal und versuchte, den Schraubdeckel zu öffnen. „Sophie ist Kunsthistorikerin, ich weiß gar nicht, ob Sie das wissen.“ Katalina schüttelte den Kopf. „Alex muss immer mal nach seiner Anwaltskanzlei gucken, Peer nach der Bank.“ Ein Banker. Irgendwie überraschte sie das nicht.

„Könnten Sie mal?“ Alma hielt ihr die Dose hin. „Sie sehen so aus, als ob – “

Alma sprach es wenigstens nicht aus. Aber Katalina wusste ja, wie sie wirkte. Wie eine, die gewohnheitsmäßig und mit leichter Hand zehn Bullen am Stück kastrieren konnte. „Patent“ hatte der Arzt sie genannt, bei dem sie ihr zweites Praktikum absolvierte. Er musste es als Kompliment gemeint haben, denn er war ihr trotzdem an die Wäsche gegangen. Sie reichte die geöffnete Dose zurück.

„Und Erin hockt in ihrer Bibliothek.“ Alma klang plötzlich geringschätzig. „Ich – nun ich habe das Glück, hier die Stellung zu halten und auf meine nichtsnutzige Tochter aufpassen zu dürfen.“ Sie setzte sich an den Tisch und schob mit dem Unterarm die Kästen und Werkzeuge beiseite. „Warum setzen Sie sich nicht?“

„Ehrlich gesagt – “

„Und haben Sie eigentlich mitgekriegt, dass der Hund tot ist? Sophie hat gestern Abend ein Theater gemacht, als ob es ihren Lebensgefährten erwischt hätte.“

„Leo?“ Die Nachricht überraschte sie. Das Tier hatte zwar betäubt gewirkt, aber davon abgesehen völlig gesund. Hatte sie sich etwa getäuscht? Einen Fehler gemacht?

„Vor dem Schlafengehen wollte sie mit dem Hund nochmal raus – wundern Sie sich übrigens nicht, wenn Sie in einen dieser gigantischen Haufen treten! Sophie scheint der Meinung zu sein, die Absonderungen ihres Lieblings seien der reine Naturdünger.“ „Gab es – Fremdeinwirkung?“

„Ein Messer in der Brust oder so etwas? Nein. Er sah ganz friedlich aus.“ Alma wirkte wenig erschüttert. „Sie hat übrigens getobt und geschrien und behauptet, Sie hätten Leo für gesund erklärt.“

„War er auch.“ So ein großer Kerl stirbt nicht gleich, wenn er mal eine Schlaftablette verschlingt. Oder? Sie wischte ihre Selbstzweifel fort. „Es tut mir zwar leid, aber – “ Alma nickte. „Sie können nichts dafür.“

In der Tat. Leos Tod war erstens nicht zu ändern und zweitens nicht ihr Hauptproblem. „Ich habe eine Bitte. Ich muss zu einer Kundin.“

„Nennt man das so bei Ihnen? Nicht – Patientin?“ Alma runzelte die Stirn.

„Ich würde mir gern Ihr Fahrrad leihen – sonst bin ich nicht rechtzeitig da.“

„ Mein Fahrrad?“ Alma sah an sich hinunter. „Sehe ich so aus?“

„Es steht eins beim Stall.“ Katalina wäre fast ungeduldig geworden, wenn ihr nicht aufgefallen wäre, dass Alma sich von ihren üblichen einsamen Klientinnen nur durch eines unterschied: sie hatte kein Schoßtier als Vorwand für ihr Redebedürfnis.

„Ach das“, sagte Alma. „Bedienen Sie sich.“

Katalina dankte und war schon bei der Tür, als Alma leise ihren Namen rief. Sie drehte sich um.

„Kommen Sie heute Abend zum Essen?“

Sie nickte und zog behutsam die Tür hinter sich zu.

Liao war ein sehr stilvoller Hund. Katalina horchte ihn ab, schaute sich Zahnfleisch und Zunge an, suchte im seidig gestriegelten Fell nach Zecken oder anderem Ungeziefer und versuchte gar nicht erst, ihm ein Thermometer in den Hintern zu schieben. Sie gab sich mehr Mühe als sonst, der Fall Leo saß ihr in den Knochen. Aber es half nichts: das Tier war in bester Verfassung.

Frau Werner nickte, so, als ob sie es immer schon gewusst hätte. „Ich wollte nur sehen, ob Sie was von Ihrer Arbeit verstehen.“

Katalina atmete tief ein und zählte bis drei.

„Dr. Gotsky machte keine Hausbesuche und roch schon mittags nach Alkohol. Liao mochte ihn nicht.“

Verstehe, dachte Katalina. Und jetzt möchten Sie meine Zeit verschwenden. Sie griff in den Koffer, nach dem Quittungsblock.

„Und wenn Sie einer alten Frau verzeihen mögen – “

Katalina schaute auf. Frau Werner hatte zu lächeln begonnen, was ihr Gesicht völlig veränderte.

„Ich wollte wissen, wer Sie sind. Wer freiwillig in diese weltabgeschiedene Gegend kommt, in der wir alle nur bleiben, weil wir hier immer schon gewohnt haben. Oder weil uns niemand sonst haben wollte.“ Das Lächeln wurde tiefer. „Wer sich traut, oben aufs Schloss zu ziehen. Und wer das ist, dem es gelungen ist, meine alte Freundin Mariechen Weber für Tage aus der Ruhe zu bringen.“

Katalina hatte keine Ahnung, von wem die Rede war.

„Bäckerei Weber. Sie ist die Seniorchefin. Mariechen war fünfzehn, als sie nach Blanckenburg kam. Sie sprach kein vernünftiges Deutsch und war völlig verstört. Ich war das einzige der Mädchen, das mit ihr befreundet sein mochte.“ Frau Werner guckte wie die Klassenbeste. „Meine Eltern hielten nichts von Vorurteilen.“

War das ein mehr oder weniger feinfühliger Hinweis darauf, dass Menschen in Blanckenburg vor einer Tierärztin mit ausländischem Nachnamen zurückschrecken könnten? Bislang hatte Katalina nichts davon gespürt.

Frau Werner rückte einen Stuhl vom Tisch ab. Wie auf Befehl setzte sie sich. Die alte Dame stellte eine Karaffe mit einer bernsteingelben Flüssigkeit auf den Tisch und zwei fingerlange, schmale Gläser, die alt aussahen und kostbar.

„Erzählen Sie.“ Frau Werner goss ein. Sie hoben einander die Gläser entgegen. Katalina nippte nur am Sherry. Der Tropfen sank wie eine warme Wolke hinunter in ihren Magen.

„Was gibt es da zu erzählen?“

„Kindchen! Wann Sie weg sind aus Jugoslawien! Wie Sie das erlebt haben, das ganze Gemetzel!“ Frau Werner schüttelte sich theatralisch.

„Ich bin schon Anfang der achtziger Jahre in den Westen geflüchtet.“ Sie zeichnete mit dem Zeigefinger das Muster auf der Tischdecke nach. Was ging es die alte Dame an, dass sie nach 1991 zurückgekehrt war und mehr von dem „ganzen Gemetzel“ mitgekriegt hatte, als ihr lieb war? „Ich bin hier. Ich versuche nicht mehr daran zu denken.“ Dann sah sie auf und der Frau ins Gesicht. Die lächelte noch immer. Es war ein Lächeln, das sie, wenn sie Mariechen Weber und fünfzehn gewesen wäre, nicht lange ertragen hätte. Es war das Lächeln der unendlichen Großmut.

„Ich verstehe, Katalina – darf ich Katalina sagen?“ Frau Werner hob ihr Glas wieder und leerte es. „Ich werde Ihr Loblied singen. Bei all den Damen und Herren, die vernünftige Ernährung und einen täglichen Marsch mindestens so nötig hätten wie ihre verfetteten Schoßhunde.“

Beim Herausgehen sah sie Gummistiefel neben der Haustür stehen unter der wetterfesten Jacke am Garderobenhaken.

Als sie das Fahrrad besteigen wollte, meldete sich wieder das Mobiltelefon. Es hörte für den Rest des Tages kaum noch auf zu piepsen. Halb Blanckenburg wollte offenbar überprüfen, ob man ihr die geliebten Ponies, Zwergkaninchen, Katzen, Wellensittiche und Reitpferde würde anvertrauen können.

Als Katalina zum Schloss zurückradelte, begannen sich die Wolken vor den Strahlen der Abendsonne aufzulösen. Sie bildete sich ein, dass der grüne Schleier über Bäumen und Sträuchern in den vergangenen Stunden kräftiger geworden war. Die Hecken aus Schwarzdorn am Straßenrand standen in voller Blüte, es roch nach Wildnis und Tieren. Kurz vor dem Anstieg zu Schloss stieg sie ab und schob.

Blanckenburg unterschied sich nicht von anderen Kleinstädten. Sie würde in Windeseile alles erfahren, was man für berichtenswert hielt – und in manche Geheimnisse eingeweiht werden, für die andere Geld bezahlt hätten. Sie würde mit den Stammbäumen bedeutender und weniger bedeutender Familien der Stadt vertraut sein, mit deren Größe und deren Niedertracht, würde von der Taufe bis zum Grabgang jedes Ereignis im menschlichen Leben aus erster Hand miterleben, würde mitleiden, mitverfluchen, sich mitfreuen und irgendwann wieder fliehen müssen vor soviel Menschlich-Allzumenschlichem. Katalina Cavic war weder ein halber Mann noch empfindungslos.

Eine Stunde später war sie geduscht und umgezogen und ging zum Traiteurshaus hinüber. Alma hantierte mit Töpfen und Pfannen. Auf dem Sofa in der Wohnküche räkelte sich ein junges Mädchen mit endlos langen Beinen, hielt einen Apfel in der Hand und las eine Zeitschrift, die nach Mode oder Musik aussah. Noa hatte die Größe, ihr verschwörerisch zuzulächeln, bevor sie sich wieder in das Magazin vertiefte. „Kannst du mal bitte, Noa.“ Alma klang wie die meisten Mütter halbwüchsiger Töchter

– nach bis zum Äußersten angespannten Nerven.

„Was ist denn?“ murmelte Noa halblaut und biss geräuschvoll in den Apfel.

„Noa!!“ Das Mädchen rollte die Augen gen Himmel, sah Katalina mit dem Ausdruck tiefster Erschöpfung an und sammelte ihre langen Gliedmaßen ein, um sich ins Unvermeidliche zu fügen. Katalina hörte nicht hin, während die beiden sich lustlos und routiniert stritten.

Das Traiteurshaus spiegelte etwas vom vergangenen Glanz des Schlosses – selbst in der Küche gab es Stuck an der Decke und Holzvertäfelung an den Wänden. Den Kamin hatte man leergeräumt; wahrscheinlich zog der Schornstein nicht mehr, sonst hätte man das Rohr des Kanonenöfchens nicht zum Fenster hinausgeführt. Über dem Kamin hing ein Gemälde, es zeigte eine Frauengestalt in hellen, fließenden Gewändern. Als sie näher trat, fiel ihr Blick auf die Bibel, die auf dem marmornen Kaminsims lag. Und auf die drei Stiche, die in schmalen Holzrahmen daneben standen.

„Ist nicht viel übriggeblieben von der alten Herrlichkeit. Die Bibel ist alt, und die Bilder – naja.“ Alma setzte eine Schüssel auf den Esstisch. „Wir haben das meiste auf dem Dachboden gefunden. Alles nix wert.“ Dann trat sie neben Katalina.

„Sophie ist sich nicht sicher, aber sie glaubt, das Porträt sei eine mindere Arbeit aus dem 18. Jahrhundert.“ Sie seufzte und straffte die Schultern. „Ich stelle mir manchmal vor, es ist die weiße Frau. Die schwangere Gräfin, die im 16. Jahrhundert bei einem Schlossbrand ums Leben gekommen ist und seitdem hier spukt.“

Katalina sah sie von der Seite an. Meinte sie das ernst?

„Na, wenigstens ein Schlossgespenst sollten wir vorweisen können, oder?“ Alma wandte sich wieder ab. „Was Handfesteres gibt’s hier nicht mehr. Was die Gräflichen 1945 nicht mitgenommen haben, wurde geplündert – erst von den Amerikanern, dann von den Engländern, zum Schluss von den Russen. Gottlob hatte irgendein DDR-Bonze hier später sein Jagdschloss. Ohne den stünden wir heute noch trauriger da.“

Die Dame in Weiß hielt eine verwelkte Rose in der Hand und schaute elegisch aus dem Fenster auf eine Landschaft mit Flusslauf. Katalinas Blick streifte die alte Bibel. Zwei der Stiche, die daneben standen, zeigten Blanckenburg, wie es einmal gewesen war. Ein Städtchen zu Füßen des Schlosses. Das Schloss selbst in barocker Vollkommenheit – die Mauer, der Hof, auch das Traiteurshaus waren zu erkennen. Katalina kniff die Augen zusammen und versuchte, alle Details zu erfassen. Im wesentlichen stimmte das Alte mit dem Neuen überein, nur eines fehlte heute: die Kirche, die sich auf dem Stich neben dem Schloss erhob. Sie musste da gestanden haben, wo sie vorgestern die alten Grabsteine entdeckt hatte, auf dem Plateau in südlicher Richtung. Ein Kriegsschaden? Oder kommunistischer Vandalismus?

„Noa!“ Alma brüllte schon wieder nach ihrer Tochter. Katalina begann, sich nach einem ruhigen Abend im Kutscherhaus zu sehnen. Dann setzte man sich endlich zu Tisch. Alma kochte keineswegs schlecht; diesmal gab es keinen „Schweinefraß“, sondern eine zarte Lammkeule. Aber der Impuls, der Alma ihre Einladung hatte aussprechen lassen, schien verflogen. Die Spannung zwischen Mutter und Tochter ließ jedes Gespräch ersterben. Als Katalina sich bedankte und verabschiedete, wirkte niemand traurig. Draußen in der frischen Nachtluft atmete sie tief durch. Vielleicht war es doch von Vorteil, keine Kinder zu haben. Der Gedanke kämpfte kurz mit dem Schmerz, den die Erinnerung enthielt. Dann schüttelte sie ihn ab. Das war vorbei.

Erst als sie fast vor dem Kutscherhaus stand, fiel ihr auf, dass sie ihren Schal über der Stuhllehne im Esszimmer hängengelassen hatte. Ein Blick zurück zeigte ihr, dass noch Licht war im Traiteurshaus. Kurz entschlossen lief sie zurück, drückte die Eingangstür auf und ging durch den Flur zur Küche.

„Ich habe mein Tuch vergessen“, rief sie zu Alma hinüber, die sich erschrocken umdrehte. Ihr wäre gar nicht aufgefallen, dass sie etwas zu verbergen hatte, wenn sie nicht so bemüht gewesen wäre, ihren ausladenden Leib vor das zu schieben, was auf dem Küchentisch stand. Ein Tablett mit einem Glas Rotwein und mit einem Teller, von dem Dampf aufstieg.

„Gute Nacht!“

Alma antwortete nicht. Als Katalina wieder im Park stand und sich zum Haus umdrehte, wurden unten die Lichter ausgeschaltet. Dafür sah sie oben im zweiten Stock eine Lampe angehen. Und dann – nein, diesmal täuschte sie sich nicht. Es brannte Licht im Turmflügel des Schlosses, im ersten Stock, dort, wo man nicht hingehen durfte, weil alles angeblich so baufällig war.

Aber das war nicht die erste Lüge, die man ihr in Schloss Blanckenburg aufgetischt hatte.

Russisch Blut/Doppelte Schuld

Подняться наверх