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Blanckenburg, im April 2004

Die Schläge dröhnten durchs ganze Haus. Sie waren vor der Tür, sie schlugen mit den Gewehrkolben dagegen, sie traten sie mit schweren Stiefeln ein, sie würden gleich im Haus sein, die Treppe hochlaufen, die Schlafzimmertür aufreißen, sie ...

Katalina hörte sich ächzen. Dann saß sie aufrecht im Bett, die Augen weit aufgerissen, mit rasendem Puls.

„Frau Cavic!“ Es pochte gegen die Haustür. Die Stimme klang nicht herrisch, nicht drohend, sondern ängstlich. „Hören Sie mich?“

Katalina tappte zum Fenster, schob den Vorhang beiseite, blinzelte in einen wässrig blauen Himmel und sah dann hinunter auf eine Person, die einen Hut, Regenjacke und Gummistiefel über der Jeans trug, obwohl es heute nicht nach Regen aussah. Wenn sie sich nicht täuschte, handelte es sich um Sophie Franken.

Sie fuhr sich durch die verstrubbelten Haare. Wahrscheinlich sah sie verschlafen und zerknittert aus. Egal, dachte sie und lehnte sich aus dem Fenster. „Was ist los?“

Das Gesicht Sophie Frankens hellte sich auf. Die dunkelblonde Frau, die gestern geistesabwesend und spröde gewirkt hatte, sah plötzlich weich und verletzlich aus. „Ich störe Sie nicht gern – und das an Ihrem ersten Tag hier – aber Leo – “ Sie machte eine vage Geste in Richtung Schloss. „Mein Hund, wissen Sie.“

Katalina nickte. „Ich komme“, sagte sie, schloss das Fenster und schlüpfte dann in die Jeans und den Pullover, die sie schon gestern bereitgelegt hatte. Arbeitsklamotten. Sie hatte sowieso nicht daran gedacht, den Tag tatenlos im Bett zu verbringen.

Leo lag noch immer in der Küche neben dem Sofa. Das Tier rührte sich nicht, als Sophie vor ihm niederkniete und Kosenamen flüsterte. Es trug ein makelloses schwarzes Fell, darunter feste Muskeln; eine weiße Brust und weiße Tupfer an den Vorderpfoten. Seine Ohren waren nicht kupiert. Eine deutsche Dogge, wie sie im Züchterstammbuch stand. Das Tier wirkte völlig gesund.

„Leopold of Wellesley Castle, genannt Leo. Er ist seit gestern so. Erst dachte ich mir nichts dabei. Aber heute – er ist ganz anders als sonst.“

Sophie tätschelte dem Hund die Ohren. Katalina untersuchte das Tier oberflächlich. Die Körpertemperatur war normal, die Lefzen gut durchblutet. Nur der Muskeltonus war ungewöhnlich – der Hund lag viel zu entspannt da und atmete zu langsam. Jetzt begann er auch noch zu schnarchen. Sie hob sein linkes Augenlid an. Dann richtete sie sich wieder auf.

„Haben Sie ihm ein Beruhigungsmittel gegeben? Oder eine Schlaftablette?“

„Ich?“ Sophie guckte gekränkt und überrascht zugleich.

„Hat er vielleicht selber so etwas gefressen?“ Hunde sind ewig neugierig und nagen an allem. Nichts ist unmöglich.

Sophie schüttelte zweifelnd den Kopf.

Katalina lächelte beruhigend. „Die Dosis dürfte nicht sehr hoch gewesen sein. Lassen Sie ihn einfach ausschlafen.“

Sie nahm den Weg zurück, der hinter dem Schloss vorbeiführte. Als sie zur Koppel mit den beiden schwarzen Friesen kam, brachen kräftige Sonnenstrahlen durch den Dunst. Die Knospen an den Büschen glänzten prall und das vielstimmige Vogelgeschrei kam ihr plötzlich ohrenbetäubend vor.

Die Stute raste über die Koppel, mit fliegender Mähne und pumpenden Muskeln unter dem schwarzen Fell. Das andere Tier beobachtete das Ganze mit erhobenem Haupt und mahlendem Kiefer, es wirkte erstaunt.

Am Gatter stand Alex Kemper. „Ist das – normal?“ fragte er und deutete mit dem Daumen auf das Tier, das jetzt bockte.

„Wie man’s nimmt.“ Katalina stellte sich neben ihn.

„Es ist natürlich wieder einmal nur Daphne. Woodstock ist die Ruhe in Person.“ Katalina setzte die Stiefelspitze auf die unterste Planke des Weidegatters und legte die Arme auf den obersten Balken. „Kein Wunder“, sagte sie. Daphne schüttelte die Mähne und stieß ein helles Wiehern aus. „Ein Wallach ist dafür nicht mehr empfänglich.“ „Wofür, um Himmelswillen?“

Katalina sah ihn von der Seite an. Konnte ein Pferdehalter so naiv sein? „Machen Sie sich keine Sorgen. Das hier ist ganz normal.“

„Normal?“ Kempers Stimme war schrill geworden. „Sie hat Schaum vor dem Mund!“ Katalina musste grinsen. „Naja – in ihrem Zustand – “

„In welchem Zustand?“ Kempers Gesicht war deutlich gerötet. Und mit einem Mal konnte sie den schwachen Geruch identifizieren, der ihr vorhin in die Nase gestiegen

war. Alex Kemper hatte eine Fahne. Morgens um halb zehn.

„Sie ist rossig.“

Er starrte sie verständnislos an.

„Haben Sie schon mal daran gedacht, Daphne decken zu lassen?“ fragte sie so sanft wie möglich.

Er sah sie an, als ob allein die Idee daran kränkend wäre. Dann drehte er sich um und ging. Sie sah ihm nach, dieser Gestalt in den ausgebeulten Kordhosen und der gelben Regenjacke und dachte an die Szene von gestern Abend. Niemand schien in dieser Familie richtig glücklich zu sein.

Zurück im Kutscherhaus, stellte sie die Kaffeemaschine an und aß etwas von dem Brot und dem Käse, die Alma ihr gestern Abend noch mitgegeben hatte. Am dringendsten war die Renovierung der Tierarztpraxis in der Stadt. Sie nahm den großen Schreibblock und ihren Füllfederhalter und machte sich an die Planung. Hoffentlich waren Blanckenburgs Handwerker schnell und verlässlich.

Etliche Stunden, viele Tassen Kaffee und zwei Käsebrote später stand sie auf und streckte sich. Sie musste raus, spätestens jetzt, da sich die Sonne gegen die letzten Schleierwolken durchgesetzt hatte. Und sie hatte noch nichts vom Park gesehen.

In den Bäumen johlten frühlingstrunkene Vögel. Der Weg zum Park war gepflastert und von Gebüsch und wilden Rosen gesäumt. Jemand hatte begonnen, das Unterholz zu lichten und die Sache auf halbem Weg wieder aufgegeben. Nach wenigen Metern verzweigte sich der Weg, sie nahm den rechten Pfad. Die verschorften und zerborstenen Giganten links und rechts des Weges wiesen keine Anzeichen des grüngrauen Flaums auf, der bei anderen Bäumen den nahen Frühling signalisierte. Sie hielten ihre kahlen Äste in die Höhe, als ob die Jahreszeiten im Park von Schloss Blanckenburg außer Kraft gesetzt seien. Katalina tippte auf Eichen und Buchen. Und auf Ahorn, Ulmen und irgend etwas Exotisches.

Der Weg schien immer tiefer in ein ungeordnetes Stilleben von Baumriesen hineinzuführen. Umso überraschter war sie, als sich der Baumbestand lichtete und sie plötzlich auf einer Wiese stand, nein: auf einer Art Plateau, das sich vor dem Schloss erstreckte, obwohl es von unten wie ein in die Felsen geklebtes Räubernest gewirkt hatte.

Man blickte von der großzügigen Fläche über das Städtchen und über den nahen Fluss, über das Gewerbegebiet, das inzwischen jede deutsche Gemeinde aufwies, die auf sich hielt. Auf eine zerklüftete Felswand linker Hand, die wie ein steinerner Vorhang die Stadt begrenzte. Und auf die Bergkette am Horizont, deren höchster Gipfel der sagenumwobene Brocken war, auf dem sich die Hexen zur Walpurgisnacht trafen. Und rechts ... Das Bild war ihr vertraut. Sie hatte es viel zu oft gesehen: aufgerissene Erde, Grabkreuze. Dennoch trat sie näher. Die Steine, die dort standen, waren zerborsten, die Inschriften von Wind und Regen ausgewaschen, die Kreuze, ebenfalls aus Stein, verwittert. Wenn das hier ein Friedhof war, dann war er jahrhundertealt. Sie berührte das Wappen auf einem der grauen Steine, dessen Konturen nur noch schwach mit den Fingerkuppen zu tasten waren. Und sagte die Worte, die schon ihre Großmutter sagte angesichts der Zeichen des Todes.

Als sie Stimmen hörte, zuckte sie wie ertappt zusammen. Alma trat aus dem Wald, sie war nicht allein. Hastig drehte Katalina sich um und ging in die andere Richtung davon. Der Mann an Almas Seite hatte eine Figur, die weder zu Alex noch zu Peer Gundson passte.

Ihr Rückzug führte sie an einer Scheune mit eingestürztem Dach vorbei, daneben frisch zusammengezimmerte Ställe. Sie schlüpfte durch die halboffene Stalltür. Man konnte nichts erkennen im Dämmerlicht, aber sie hörte etwas. Stimmen. Sie stand still, damit sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnen konnten.

„Hat sie dir nichts erzählt? Sie ist doch täglich bei ihm oben.“ Das klang nach Sophie Franken.

„Er ist nicht ansprechbar. Sagt sie.“ Alex Kempers Stimme klang gleichgültig. Und dann flüsterte er: „Ich hab dich so vermisst.“

„Du tust mir weh.“ Sophie flüsterte zurück.

„Entschuldige.“ Katalina hörte den Mann atmen. „Aber dieser verdammte Reißverschluss!“

„Wenn er nur endlich reden würde ... du weisst, wie viel davon abhängt für dich und mich.“ Für dich und mich. Katalina grinste in sich hinein.

„Verflucht! Was hast du denn bloß gemacht mit dieser blöden Jeans?“ Man hörte Alex schnaufen. „Ich krieg den Reißverschluss weder rauf noch runter!“

„Er muss doch mal mit der Sprache rausrücken. Das war doch der Deal.“ Sophie Franken schien ungerührt von Alex’ Bemühungen. „Nun mach schon!“

„Er ist krank, Sophie.“

„Er simuliert.“

„Er wird 84.“

„Das ist kein Argument!“

Dann hörte man eine Weile gar nichts. Katalina fragte sich, ob Sophie die Hose noch nicht wieder an- oder noch gar nicht ausgezogen hatte.

„Ich kann ihn doch nicht zwingen.“ Kempers Stimme klang plötzlich sanfter.

Dafür schraubte sich Sophies Stimme höher. „Aber findest du das nicht alles sehr merkwürdig? Und dann – Leo. Er könnte vergiftet worden sein, meint die Tierärztin.“ „Beruhige dich, Liebling.“ Alex Kemper schien der Schwester seiner Frau zärtliche Worte ins Ohr zu murmeln. Katalina zog sich zurück. Als sie wieder in der Sonne stand, atmete sie tief durch. Ihr Aufenthalt hier begann nicht ohne unterhaltsame Entdeckungen.

In die nächste wäre sie fast hineingelaufen. Das Mädchen hatte braune Haare und braune Augen und davon abgesehen keinerlei Ähnlichkeit mit Alma. Aber es musste ihre Tochter Noa sein.

Katalina hielt ihr die Hand hin. Noa reagierte nicht. Sie schien den Stimmen im Stall hinterher zu lauschen, konzentriert, mit zusammengezogenen Augenbrauen. Katalina zog die Hand wieder zurück und streckte sie in die Hosentasche.

Endlich sah das Mädchen sie an.

„Ich bin die neue Tierärztin. Katalina Cavic.“

Das Mädchen musterte sie abschätzend. Unter ihrem kurzen Rock sah man lange schlanke Beine auf Sandalen mit viel zu hohem Absatz. Jedenfalls für Waldwege und Kopfsteinpflaster – das linke Knie war verschmutzt und blutete. „Du musst Noa sein.“

Das Mädchen nickte. Endlich lächelte es ansatzweise. Katalina hatte offenbar den Test bestanden: sie war keine Konkurrenz für frisch aufgeblühte Weiblichkeit.

„Was ist mit deinem Knie?“

Noa sah an sich herunter. Sie hatte die langen dunklen Haare zu einem eleganten Zopf geflochten. Für den Bruchteil einer Sekunde schmerzte der Anblick. Katalina trug ihr Haar kurz, schon seit langem. Seit damals.

„Ach – das“, sagte sie. Und dann, trotzig: „Es gibt Schlimmeres.“

Natürlich, dachte Katalina. Zum Beispiel einen Onkel Alex, für den man ein bisschen geschwärmt hat, bevor man entdecken musste, dass er eine andere liebt. Ehefrauen zählen ja nicht für Mädchen dieses Alters.

„Sind alle Männer so?“

„Nein“, sagte Katalina behutsam.

Noa presste die Lippen zusammen und nestelte an ihrem Zopf. Schließlich versuchte sie ein mädchenhaftes Grinsen. „Sie fragen mich gar nicht, warum ich nicht in der Schule bin.“

„Muss ich das wissen?“

„Und ob ich nichts Besseres zu tun hätte als hier herumzustehen.“ Sie verzog das Gesicht.

„Wie käme ich dazu?“ Katalina hätte fast gelacht. Man meinte, die Stimme Almas zu hören, mit dem üblichen fürsorglichen Nörgeln, das Mütter so drauf haben.

Noa legte den Kopf auf die Seite und inspizierte sie. „Können Tierärztinnen auch – ?“

Katalina stemmte die Fäuste in die Taille. „Bullen kastrieren?“ fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Das wollten alle wissen.

Noa errötete und kicherte.

„Kälbchen aus dem Mutterleib ziehen? Pferden das Gebiss reinigen? Goldhamstern einen Bypass legen?“

Noa lachte. „Könnten Sie Mamas Pfauen bitte das Schreien abgewöhnen?“ Sie streckte Katalina die Hand hin, murmelte kleinmädchenhaft „Bis bald!“ und war verschwunden.

„Sie sind die neue Tierärztin?“ Der Apotheker ließ den Blick zu ihrem Hals und tiefer gleiten. Katalina zog den Reißverschluss der Jacke höher. Der Blick des Mannes im weißen Kittel ging über die in Horn gefasste Lesebrille hinweg ins Unbestimmte. „Das nenn’ ich mutig.“

„Warum?“ Ihre Finger spielten mit der Tube Wundheilcreme, die er ihr auf den Tresen gelegt hatte.

„Ich meine – dass Sie oben im Schloss wohnen. Bei diesen ... Leuten.“

„Er ist Rechtsanwalt, nicht?“ fragte sie unschuldig.

„Eben. Was will wohl so ein Mann mit einer Ruine?“

Genau das hatte sie sich auch gefragt auf dem Weg hinunter ins Städtchen. Es war schon wieder kalt und ungemütlich draußen und Blanckenburg selbst wirkte an diesem Vormittag wie ausgestorben. Was um alles in der Welt zog Städter wie die drei Schwestern und ihre Männer in diese Einöde?

„Sie wollen doch nicht etwa die Praxis ins Schloss verlegen? Für die alten Leutchen ist das nichts.“ Eine etwa fünfzig Jahre alte Frau, deren Haarfarbe nicht ganz zum Rot ihres Mantels passte, hatte nach Katalina die Apotheke betreten und sah sie neugierig an. Natürlich nicht. Keine kurzatmige Rentnerin würde sich mit ihrem herzkranken Dackel hinauf zum Schloss schleppen. Und kein Katzenbesitzer würde sein Tier in einer Ruine abgeben. „Bis die Praxis von Dr. Gotsky renoviert ist, mache ich Hausbesuche.“

Die Rothaarige nickte und reichte ihr die Hand. „Klara Buddensen“, sagte sie. „Pastor.“

„Sie ist in Wirklichkeit eine Brockenhexe.“ Der Apotheker feixte.

„Freut mich“, sagte Katalina. „Die Frankens – ich meine: ist es denn bekannt, was die mit dem Schloss vorhaben?“

„Die? Der Anwalt und diese Dame mit der extravaganten Brille?“

„Sophie Franken ist Kunsthistorikerin, Walter.“

„Die grüßen einen auf der Straße noch nicht einmal, wenn man direkt vor ihnen steht!“

„Man hätte das Schloss schon vor Jahren der Familie zurückgeben müssen. Die hätte sich wahrscheinlich noch am ehesten gekümmert um ihren alten Stammsitz“, sagte die Pfarrerin bestimmt.

„Die Gräflichen?“ Jetzt legte der Mann im weißen Kittel tiefe Verachtung in seine Stimme. „Die wurden zurecht enteignet. Die wollen wir nicht wiederhaben.“

„Lieber den alten Kasten da oben verfallen lassen, ja? Oder glaubst du im Ernst, in den öffentlichen Kassen ist noch Geld für die Erhaltung von Baudenkmälern?“

Die beiden schienen ein eingespieltes Team zu sein. Katalina holte Luft. „Und die neuen Besitzer?“

„Die haben das Schloss wahrscheinlich nachgeschmissen gekriegt. Damit sie was draus machen. Aber passieren tut rein gar nichts.“ Der Apotheker hatte sich auf den Tresen gestützt und schien sich auf eine längere Debatte einzustellen.

Die Pfarrerin seufzte. „Man erfährt ja nichts. Das schlimmste wäre – “ Sie blickte ins Leere.

Eine Sekte? fragte sich Katalina. Ein Internat? Ein Vergnügungspark?

„Wissen Sie“, sagte die Buddensen leise. „Das Schloss hat Geschichte. Man sollte sorgsam damit umgehen.“

„Ach was.“ Der Mann im weißen Kittel richtete sich abrupt auf und hielt den Scanner über die Tube. „Geld regiert die Welt. Da kannst du nicht gegen anstinken.“

Katalina holte ihr Portemonnaie hervor.

„Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen“, sagte die Pfarrerin.

Katalina lächelte zurück. „Rufen Sie an, wenn Ihr Wellensittich mal nicht mehr singt.“ Klara Buddensen zog spöttisch die Augenbrauen hoch. „Ich habe keine Schoßtiere zu Hause. Noch nicht einmal einen Mann.“ Sie zögerte einen Moment. „Aber ich gebe Ihre Handynummer gerne weiter.“

„Ich auch. Ich mache ein bisschen Reklame für Sie“, sagte der Apotheker gönnerhaft und ließ den Blick wieder halsabwärts gehen.

Katalina verabschiedete sich, ein wenig hastiger, als höflich gewesen wäre.

Wieviel die drei Schwestern und ihre Männer für die Schlossruine wohl hatten bezahlen müssen? Egal – sie würden Millionen in die Erhaltung stecken müssen. Millionen, die offenbar keiner von ihnen besaß, wenn sie die Tischgespräche im Traiteurshaus richtig deutete. Warum nur ließen sie sich auf ein solches Abenteuer ein? Zumal hier, in diesem Niemandsland, im ehemaligen Sperrgebiet zwischen Ost und West?

Katalina schlenderte die leere Fußgängerstraße entlang. Sie würde alles Nötige erfahren, auch ohne danach fragen zu müssen. Geheimnisse waren dazu da, den Menschen entlockt zu werden. Sie war darin mindestens so gut wie in der Diagnose neurotischer Hundebesitzer.

Die verwinkelte Altstadt unterhalb des Schlosses wirkte nur auf den ersten Blick malerisch. Man hatte in den schmalen Gässchen das Kopfsteinpflaster erneuert. Viele Fachwerkfassaden waren liebevoll restauriert, die kleine Buchhandlung, der Teeladen, eine Boutique für Damenkleidung, die Drogerie und der Gemüseladen logierten hinter altertümlich aufgemachten Ladenfronten und unter phantasievollen Schildern. Aber gleich nebenan waren die Fenster der Ladenlokale verdreckt, vergilbten die Zettel mit der Aufschrift „Zu vermieten“. Und ein paar Häuser weiter wurde ein Fachwerkhaus von mächtigen Balken am Einstürzen gehindert. Blanckenburg war weit davon entfernt, eine Fremdenverkehrsattraktion zu sein. Und das war wohl das einzige, wovon man sich im Osten Deutschlands noch etwas versprach.

Beim Metzger, beim Gemüsehändler, im kleinen Lebensmittelladen empfing man sie freundlich. Auch hier schien man von den neuen Besitzern des Schlosses wenig zu halten und gar nichts zu erwarten. Der Metzger wollte die DDR zurück, der Gemüsehändler die Gräflichen und nur im Lebensmittelladen zeigte man sich interessiert an Alex Kemper und seiner offenbar illustren Anwaltskarriere.

„Hat er wirklich diesen Millionenbetrüger verteidigt? Und den Menschenfresser?“ Katalina wusste es nicht, und man entließ sie leicht enttäuscht.

Auch beim Bäcker Weber war sie die einzige Kundin. Eine rotbackige Frau mittleren Alters stellte sich als Elisabeth Weber vor und fragte Katalina gründlich aus. Nach einer Weile gesellte sich eine ältere Frau hinzu, „meine Mutti“, sagte die Weber. Die Ältere hatte bewegliche braune Augen in einem kindlich wirkenden, fast faltenlosen Gesicht. Warum war Katalina nicht verheiratet, warum hatte sie keine Kinder? Ob sie schon länger in Deutschland wohne und woher sie käme?

„Aus Glogovac“, hörte sie sich sagen. Und dann, als ob das etwas erkläre, das die beiden Frauen verstünden: „Aus Bosnien. Aus Schutzberg.“

Die alte Frau Weber, deren Hände unablässig mit ihrer blaugepaspelten weißen Schürze beschäftigt waren, erstarrte. „Aus Schutzberg!“ sagte sie atemlos.

„Reg dich nicht auf, Mutti.“ Elisabeth Weber sah Katalina an und schüttelte den Kopf, als ob man Nachsicht haben müsse mit einem starrköpfigen Kind.

„Dann kennen Sie die Sommers? Die Frau Eisenweis?“ Die alte Dame lächelte, fast entrückt.

„Mutti, Frau Cavic kann die Leutchen gar nicht kennen. Die sind doch schon lange tot.“ Katalina wusste ein paar Atemzüge lang nicht, was sie sagen sollte. Als sie 1982 aus Glogovac flüchtete, gab es dort keine Deutschen, es hatte seit dem Krieg dort keine mehr gegeben. Auch viele der serbischen Familien wohnten noch nicht lange da, weshalb sie es nie bereut hatte, weggegangen zu sein. Schlimm war das nur für die Großeltern gewesen. Und für Gavro begann die Katastrophe erst, als sie zurückkehrte – in der Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, in den blutigen Jahren, als ein Mensch mit der falschen Herkunft vogelfrei war. Was ihr passiert war, war längst nicht so schlimm wie das, was sie ihm angetan hatten.

„Sie haben uns verjagt“, hörte sie die alte Bäckersfrau klagen, als sie ging.

Wie viele andere auch, dachte sie. Nur Zyniker nennen das ausgleichende Gerechtigkeit.

Als sie zurückkam zum Schloss, schien niemand da zu sein. Auf dem Schlossplatz paradierten drei Pfauen und zeigten sich gegenseitig ihre prächtigen Schwanzfedern. Die untergehende Sonne spiegelte sich in den Fensterscheiben, die noch heil waren. Katalina blieb wie angewurzelt stehen. Die vier überlebensgroßen Marmorfiguren, die in der Kuppel des Glockenturms standen, schienen sich zu bewegen im unklaren Licht. Und hinter den mannshohen Sprossenfenstern irrlichterte etwas. Das war nicht der Widerschein des Abendlichts. Ganz bestimmt nicht.

Der Mann ohne Kopf. Die weiße Frau. Sie wunderte sich über ihr Unbehagen. Seit wann war sie abergläubisch?

In dieser Nacht ließ sie im Kutscherhaus ein Licht an im Flur.

Russisch Blut/Doppelte Schuld

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