Читать книгу Russisch Blut/Doppelte Schuld - Anne Chaplet - Страница 20

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Zeus gab keine Ruhe. Unwillig schlug Katalina die Augen auf. Sie überließ dem Hund einen ihrer Hausschuhe, den er begeistert in die Zimmerecke schleppte, um ihn zu zerlegen, und lehnte sich noch einmal in die Kissen. Ein paar weitere Stunden Schlaf hätten wahrscheinlich Wunder gewirkt – gegen müde Augen und einen dicken Kopf. Sie hatte viel zu viel getrunken gestern Abend, denn nach dem Abgang der Gäste war überraschend gute Laune ausgebrochen und Gundson hatte eine Flasche nach der anderen aus dem Weinkeller geholt.

Zeus unterbrach seinen Versuch, den eigenen Schwanz zu fangen, um aufs Bett zu springen und ihr einen feuchten Stupser gegen das Kinn zu verpassen.

Sie war ziemlich angeheitert gewesen, als sie sich im Schlosshof mit einer Umarmung von Alex verabschiedete. Zu ihrer Überraschung hatte er versucht, sie zu küssen. Sie hatte nicht wirklich etwas dagegen gehabt, aber ihr war aufgefallen, dass Alex just in dem Moment zärtlich geworden war, in dem Erin aus der Tür zum Turmflügel trat. So, als ob er Katalina daran hindern wollte, darüber nachzudenken, wo seine Frau mitten in der Nacht gewesen sein konnte. Zu Besuch bei ihrem Patienten, der aller Wahrscheinlichkeit nach um diese Zeit schon schlief? Katalina merkte, wie sie unruhig wurde. Sie musste nach dem alten Herrn gucken. Der Gedanke an das Rohypnol und das Ableben von Sophies Dogge machte sie nervös.

Sie schob die Bettdecke von sich in der schwachen Hoffnung, Zeus, der sich wieder hingebungsvoll dem Schuh widmete, würde nichts merken. Aber einen solchen Hund täuschte man nicht. Er wollte raus, sobald sie aus dem Bett war, und zwar sofort, nicht erst, nachdem sie Kaffee getrunken und ihn gefüttert hatte. Hundeliebe war verdammt anstrengend.

Er sah ihr aufmerksam zu, wie sie in die Fahrradklamotten schlüpfte. Ein kluger, aber wirklich und wahrhaftig hässlicher Kerl: Das längliche Fell senfbraun, das linke Ohr abgeknickt, die Schnauze zu spitz, die Beine zu kurz; er sah aus wie eine Mischung aus Riesenschnauzer und Dackel. Nur seine Augen waren groß und bernsteinbraun, perfekt für den ergebenen Hundeblick.

Als sie am Spiegel vorbeiging, drehte sie sich um und blickte hinein. Vorne nix und hinten nix, die Schultern zu breit, die Haare zu kurz. Nur die Augen waren groß und dunkel und – naja: voller Seele, dachte Katalina. Wie bei Zeus. Ganz so wie er sah sie zwar noch nicht aus, aber ihre besten Zeiten waren vorbei. Natürlich hatte Alex sie nur aus taktischen Gründen geküsst.

Sie schüttelte sich, lief die Treppe hinunter und öffnete die Haustür, um den Hund herauszulassen. Alles ging viel zu schnell. Das Leben rauschte an ihr vorbei – und der Frühling war, wie jedes Jahr, förmlich explodiert. Sie hatte schon wieder alles versäumt: wann waren die Bäume ergrünt? Seit wann blühten die Forsythien? Und wieso waren die Krokusse schon fast wieder vorbei?

Zeus lief japsend voran. Am Wegesrand blühte der Bärlauch, und selbst die Baumveteranen im Schlosspark hatten Frühling angeordnet. Zeus sprang einer Hummel hinterher, vergrub die Nase tief im Erdreich, schnüffelte an einem der zerfallenden Haufen, die noch an Leo erinnerten. Sie folgten dem Weg bis zu den Wiesen und Ställen. Kurz vor dem Pferdestall blieb der Hund stocksteif stehen.

Aus dem Stall trat Sophie, einen hellen Strohhut mit Blumengesteck tief ins Gesicht gezogen. Zeus gab ein leises Grollen von sich. Katalina stieg vom Rad und legte ihm die nagelneue Leine an. Dann richtete sie sich wieder auf. Sie hatte kein Wort mehr mit Sophie gewechselt seit der Tragödie mit Leo, auch gestern hatte sie das Gefühl gehabt, die Frau weiche ihrem Blick aus. Dabei konnte sie nichts für den Tod der Dogge. Oder hätte sie Sophie vielleicht raten sollen, das Tier ins Krankenhaus zu bringen und ihm den Magen auspumpen zu lassen?

Die Frau steckte hastig etwas in eine Umhängetasche, nahm den Hut ab und lächelte sie verlegen an. Es war nicht Sophie. Es war Erin. Katalina nickte ihr zu und zog den grollenden Zeus weiter. Ausgerechnet Erin hätte sie nicht zugetraut, dass sie Spaß daran haben könnte, sich am hellichten Tag in einem Pferdestall herumzutreiben. Von drinnen hörte man Hufe gegen die Bretterwände schlagen. Das war im übrigen auch für Pferde nicht die geeignete Lebensweise. Sie musste mit Alex reden. Daphne war eindeutig verstört, aber auch Woodstock bekam es nicht, tagelang nicht bewegt zu werden, nur weil sein Besitzer seinem Beruf nachging. Und wieso die Pferde bei diesem Wetter im Stall standen, war gänzlich unverständlich.

Als sie weit genug von Erin entfernt waren, nahm sie dem unleidlichen Hund die Leine wieder ab. Wie ein Blitz war er im Unterholz verschwunden. Nach einer Weile hörte sie ihn freudig bellen. Sie fuhr hinterher, auf die Wiese mit den alten Gräbern. Zeus hatte seinen Freund von gestern wiedergefunden und sprang mit verzücktem Jaulen an Moritz Bergen hoch. Dessen Kollege Rust hatte eine Gruppe junger Leute um sich versammelt, darunter Noa, und redete auf sie ein.

Katalina stieg ab und lehnte das Rad an einen Baum. Rusts ölige Stimme war nicht zu überhören. „Wir wollen den Bewohnern von Blanckenburg zeigen, wie großartig unsere technischen Möglichkeiten heute sind, bevor auch nur ein Spatenstich nötig ist. Schau’n wir also mal, was sich unter den Trümmern der Kirche findet. Die Krypta mit dem Familiengrab? Die leiblichen Überreste der Kirchenmänner? Oder vielleicht sogar der Brunnen, der schon bei Merian erwähnt wird und als Besonderheit Blanckenburgs überliefert ist?“

„Wieso baut jemand in einen Brunnen eine zweite Wand, hinter der 150 Stufen in die Tiefe führen?“ fragte einer der Studenten.

„Gute Frage“, antwortete Rust, der Katalinas Anwesenheit nicht zur Kenntnis nahm. „Der Brunnen und der gemauerte Zylinder in diesem Brunnen gehören zur Baugeschichte der Burgenzeit, und es ist anzunehmen, dass er zu einem unterirdischen Gang führt.“

„Und der wiederum führt – ?“

„Das herauszufinden“, sagte Rust, „wäre doch eine schöne Aufgabe für Ihre Seminararbeit. Also: los geht’s!“

Katalina fiel auf, dass Noa den vier Studenten folgte, als ob sie dazugehörte. Als sie den Blick sah, mit dem das Mädchen den größeren der beiden jungen Männer bedachte, war ihr der Grund klar. Noa hatte endlich Ersatz gefunden für Alex Kemper.

„Mark Kennedy, Archäologiestudent im 4. Semester“, sagte Moritz Bergen neben ihr, der ihrem Blick gefolgt zu sein schien. „Einer unserer besten Studenten. Ein netter Kerl.“

Die fünf räumten einen Kombi aus, der am Weg hinter den Grabsteinen stand. Auch Noa schleppte etwas, das wie ein Grillspieß aussah.

„Die vier bauen die ‚Campus Geopulse’ auf. Eine einkanalige Gleichstrom-Geoelektrik-Apparatur mit einer maximalen Ausgangsleistung von 17 Watt. Wir können damit bis zu 64 Elektroden ansteuern, in unserem Fall haben wir uns auf 50 beschränkt.“

„Ach ja?“ Katalina sah ihn an.

Moritz grinste zurück. „Und wenn Sie es noch genauer wissen wollen: Noa trägt einen der polarisierbaren Stahlspieße, die wir verwenden, dazu wird als Meßsignal ein Rechtecksignal mit wechselnder Polarität eingespeist und das Eigenpotential an den beiden Potentialelektroden bestimmt.“

„Das ist – sehr interessant.“

Moritz überhörte ihren Spott. „Wir haben mittlerweile die phantastischsten Methoden zur Verfügung. Da ist zum Beispiel – “

Zeus, der zufrieden zu ihrer beiden Füße gesessen hatte, so, als ob er eine glückliche Ehe gestiftet hätte, gab Laut.

Ein Mann näherte sich, mit langem lockigen Haar und offenem weißen Hemd über der Jeans. Er trug eine Fernsehkamera über der Schulter. Daneben marschierte eine Blondine, die schon von weitem winkte.

„Das Fernsehen“, sagte Rust feierlich. Während er seine Mitarbeiter vorstellte – Marla und Inge, Mark und Gunnar, „und die kleine Noa vom Schloss“ – , brachte der Lockenkopf seine Kamera in Position.

Der Professor reagierte aufs Fernsehen und auf die Blonde wie auf eine Wahrheitsdroge. „Die Kelten ... die frühe Bronzezeit – “ Die Fernsehfrau nickte bei jedem seiner Worte.

„Römische Kohorten ... schon Drusus oder Tiberius ... die Horden der Cherusker – “ Katalina bewunderte den Mut, mit dem sich die Redakteurin schließlich in den Redeschwall des Professors warf. „Hatten Sie nicht gesagt, die Varusschlacht – ?“ „Die deutsche Nationallegende ... große Bedeutung ... touristische Attraktion – “

„Ich meine: was genau suchen Sie hier bei Schloss Blanckenburg, besser gesagt: was wollen Sie finden?“

Rust straffte sich. „Ja, spüren Sie nicht den Atem der Geschichte, der über dieses Stückchen Land hinweggeht?“ Endlich schien er begriffen zu haben, was die Frau wollte, die selig lächelte.

Als er eine Atempause einlegte, drehte die Blonde sich um. Niemand hatte damit gerechnet, vor allem nicht Noa, als sie ihr das lange Mikrofon mit dem knallgelben Schoner unter die Nase hielt. „Und was sagen Sie als Schlossbewohnerin zu all diesen Plänen?“

Noa plapperte nach einer Schrecksekunde und einem Seitenblick auf Mark Kennedy fröhlich los. Das Mädchen machte eine gute Figur. Nur eines fiel Katalina auf, weil Noa sich ein ums andere Mal die Haare hinters Ohr strich: der rote Nagellack auf ihren Fingernägeln war verschmiert. Ihre Nägel sahen aus, als ob sie jemanden umgebracht hätte.

Endlich hatte sie Zeus, der nicht verstehen wollte, warum man nicht einfach da bleiben durfte bei all den netten Menschen und vor allem bei Moritz Bergen, überredet, mit ihr nach Hause zu kommen. Aber sie interessierte sich im Moment weder für die Vergangenheit noch für Brunnen und Schächte und komplizierte Forschungsmethoden. Die Gegenwart stellte ein wesentlich wichtigeres Problem dar: ihre Tage in Blanckenburg waren offenbar gezählt, früher als erwartet. Seltsamerweise bedauerte sie das.

Kurz bevor sie ging, hatte die Bürgermeisterin sie gestern noch beiseite genommen und ihr bestätigt, was die Frau des Klempners angedeutet hatte: aus der Renovierung der Tierarztpraxis wurde erstmal nichts, weil der Vermieter ihr nicht zustimmen wollte, solange „die Eigentumsfrage“ nicht geklärt sei.

„Er ist ein alter Mann, wissen Sie. Da wird man sturköpfig.“

„Aber was ist denn ungeklärt an den Besitzverhältnissen?“ Fünfzehn Jahre nach der Wende musste hier doch mal Klarheit eingekehrt sein.

„Gar nichts.“ Die Bürgermeisterin lächelte beschwichtigend. Ein falsches Lächeln, hatte Katalina gedacht. „Es gab einen Bericht in der Zeitung, den er zu wörtlich genommen hat, das ist alles.“

„Und – worum ging es da?“ Sture alte Männer waren ein Kreuz.

„Sie wissen doch – “

Das sagen Politiker immer, wenn sie nicht weiter wissen. Nichts wusste Katalina. Und sie bemühte sich, genauso auch zu gucken.

Die Bürgermeisterin seufzte. „Seit der Europäische Gerichtshof die Rechtmäßigkeit der Enteignungen nach 1945 wieder in Frage gestellt hat, sind hier alle nervös.“

„Und, was meinen Sie: Gibt es Grund dafür?“

„Ach was. Man kann doch nicht alles wieder zunichte machen, was wir in den letzten Jahren aufgebaut haben. Das kann doch niemand wollen.“ Das Gesicht der Bürgermeisterin zeigte jedoch, dass sie „denen da oben“ jede Dummheit zutraute.

„Und was mache ich jetzt mit meiner Praxis?“ Eine Übernahme wäre das einfachste gewesen. Die Adresse war bekannt, das Haus lag zentral. Andererseits konnte es nicht weiter schwierig sein, irgendwo anders geeignete Räume zu finden – es standen so viele Häuser leer in Blanckenburg.

„Machen Sie sich keine Sorgen. Wir finden eine Lösung.“ Die Bürgermeisterin hatte ihr die Hand vertraulich auf den Unterarm gelegt und kurz zugedrückt. Dann war sie gegangen.

Russisch Blut/Doppelte Schuld

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