Читать книгу Wenn ich das geahnt hätte - Anne Christina Mess - Страница 10

Wenn Eltern zu Waisen werden …

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In den folgenden Ausführungen werden die Phasen des Trauerns in leicht modifizierter Form aufgegriffen. Eine fiktive Person berichtet aus ihrer Erfahrung mit dem Selbstmord ihres 18-jährigen Sohnes, was ihr in den verschiedenen Stadien jeweils wichtig wurde und womit ihr andere Menschen helfen konnten.

Eine Mutter, nennen wir sie Frau G., die ihren damals 18-jährigen Sohn durch Selbstmord verlor, beschreibt im Folgenden, was Eltern durchleben, deren Kind sich umgebracht hat. Es ist kein mir persönlich bekannter Fall, sondern es sind auf Tatsachen und Beobachtungen beruhende Stufen. Sie beschreiben, was verwaiste Mütter und Väter durchleben können, wenn ihr Kind sich umgebracht hat.

Der Schock (1. Stufe)

»Plötzlich wurde ich aus meiner bisherigen Welt gerissen und betrat eine andere, mir bisher unbekannte Welt. Ich hatte diesen Weg nicht freiwillig gewählt, sondern wurde gezwungen, ihn zu gehen. Ich spürte, dass er mein Denken, Fühlen, Erleben und Verhalten sowie meine Beziehungen nachhaltig verändern würde. Auf einmal war alles anders, nichts stimmte mehr. Ich konnte es nicht glauben und wurde von einem einzigen Satz beherrscht: ›Es ist nicht wahr.‹«

Frau G. stand zu dieser Zeit unter Schock, der die normale menschliche Reaktion auf den Verlust eines geliebten Menschen ist. Die Schockphase kann über einige Stunden gehen, aber auch Tage andauern. Durch die Schockreaktion Schutz schützt der Körper sich. Menschen unter Schock fühlen sich wie in einen Schutzmantel gehüllt, wie betäubt und gelähmt in ihrem Denken, Fühlen und Handeln. Manchmal kommt es in dieser Phase auch zu unkontrollierten Handlungen wie z. B. Weglaufen. Für die Mitmenschen wirkt ein Mensch im Schockzustand wie unerreichbar. In ihm drin fühlt er sich wie abgestorben.

Wir sehen, dass ein Schock den ganzen Menschen in seinem Denken, Fühlen und Handeln erfasst, sein Körper, seine Seele und sein Geist sind betroffen. Für Helfer scheint es dabei manchmal schwierig zu erkennen, was der Betroffene bräuchte. Es ist tatsächlich nicht viel, was wir tun können, aber es ist auch nicht gar nichts. Je nach Ausmaß des Schocks kann ärztliche Hilfe nötig werden, möglicherweise vorübergehend auch in einer Klinik. Dort können wir die Person besuchen, wenn sie es wünscht. Es braucht in dieser Phase vonseiten der Helfer ein Gespür dafür, den verwaisten Vater oder die verwaiste Mutter nicht allein zu lassen, aber sich auch nicht aufzudrängen. Wir sollten sie fragen, wo sie Unterstützung im Alltag braucht, ohne sie aber auf der anderen Seite zu entmündigen oder im Übermaß zu unterstützen. Eltern, die ihr Kind durch Selbstmord verloren haben, brauchen Zeit zu erkennen und zu verinnerlichen, dass das Unfassbare doch wahr ist, dass es sich niemals wird rückgängig machen lassen. Sie sollten den Raum und das Vertrauen bekommen, um ihre Gefühle von Trauer, Ohnmacht und Hilflosigkeit zeigen zu können. Sie müssen sich in dieser Phase nicht beherrschen und Haltung bewahren. Es scheint in unseren mitteleuropäischen Breitengraden zum guten Ton zu gehören oder eine erstrebenswerte Tugend zu sein, die Traurigkeit und Trauer nach außen nicht zu zeigen. Nur langsam und punktuell setzt sich das Wissen durch, dass durchlebte Trauer, die nicht geschluckt wird, heilsam für die Seele ist.

Die Reaktion (2. Stufe)

Frau G.: »Ich fragte mich, warum nun ausgerechnet mir das passiert war, wozu das sein musste. Ich hatte so starke Gefühle, wie ich sie bisher nicht kannte: Angst, Schuld, Wut, Einsamkeit. Und dann waren da dieser uferlose Schmerz und die alles überschattende Traurigkeit. Ich suchte meinen Sohn überall, ich sah ihn überall, ich hörte ihn überall – und zwar in der Welt, wie sie noch bis vor Kurzem war, in der er mit mir lebte. Ich fragte mich, warum er in seinem Abschiedsbrief geschrieben hatte, dass er verbrannt werden will.«

In der Phase der Reaktion wird die Erkenntnis des erlittenen Verlustes zunehmend zur absoluten Gewissheit. Das Nicht-wahr-haben-Wollen (oder -Können) in der vorangegangenen Schockphase weicht einem schmerzhaften Wahr-haben-Müssen. Es ist typisch menschlich, dass wir verstehen wollen, was mit uns und um uns herum passiert. Verwaiste Eltern kreisen gedanklich in dieser Phase um die Fragen nach dem Warum, nach den Ursachen, nach eigenen Versäumnissen und Fehlern. Sie sprechen wahrscheinlich darüber, was sie hätten anders und besser machen sollen. Überlegungen, wie es vielleicht anders gelaufen wäre, wenn sie in der Vergangenheit in dieser oder jener Situation anders reagiert hätten, tauchen auf. Unausweichlich kommt der Tag der Beerdigung, der für viele Eltern einen zusätzlichen Schmerz bedeutet, wenn ihr Kind eine Feuerbestattung wünscht. Die Beerdigung jedweder Art konfrontiert noch einmal deutlich mit der harten Tatsache: »Du kommst nie mehr zurück.« Es heißt danach, mit dieser Erkenntnis weiterzuleben, dem eigenen Leben dennoch einen Sinn abzugewinnen.

In der Zeit vor und nach der Beerdigung brauchen verwaiste Eltern (und natürlich auch die Geschwister des toten Bruders oder der toten Schwester) Menschen, denen gegenüber sie ihre extremen Gefühle aussprechen dürfen und soweit möglich, auch ausleben. Insbesondere sollten sie klagen, weinen und ihren Schmerz zeigen dürfen, wofür sie Verständnis brauchen. Als Begleiter brauchen wir keine Patentantworten zu geben, denn damit helfen wir nicht, sondern blockieren die Brücke zum anderen, tragen zu seinem inneren Rückzug bei. Es genügt und kann sogar viel für einen Betroffenen bedeuten, wenn wir für ihn da sind, »nur« zuhören oder vielleicht selbst auch weinen müssen. Als Außenstehende wundern wir uns manchmal, was ein Trauernder tut oder sagt. Auch wenn es uns als Beobachter sinnlos vorkommt, kann es für die trauernde Person Sinn machen. Solange es nichts Selbst- oder Fremdgefährdendes ist, sollten wir dabei tolerant sein, allenfalls behutsam nachfragen, was es für den trauernden Menschen bedeutet.

Bearbeitung (3. Stufe)

Frau G. erinnert sich: »Ich grübelte sehr viel und zog mich von der Außenwelt zurück. Mir erschien alles sinnlos. Es war mir unbegreiflich, wieso das Leben neben mir einfach so weiterging, als wäre nichts passiert. So langsam ahnte ich, dass mein Kampf gegen die grausame Realität am Ende ein Kampf gegen mich selbst wurde. Ich wusste, was ich gegen meinen Willen und unwiederbringlich verloren hatte. Nur ich allein musste entscheiden, wie ich künftig weiterleben wollte.«

Wir erkennen bei Frau G. etwas für die Phase der Bearbeitung des Verlustes Typisches: Die Gedanken und Gefühle spalten sich und können sich innerhalb kürzester Zeit abwechseln. Nicht selten kommt der Wunsch auf, dem Verlorenen hinterherzugehen, und es gibt tatsächlich Selbstmord als Folge auf einen Verlust durch natürlichen Tod oder Selbstmord. Verwaiste Eltern versuchen in dieser Phase, sich dem Kampf zu stellen, den die Verarbeitung des Selbstmords ihres Kindes ihnen bereitet. Dies fällt ihnen leichter, wenn sie weitere Kinder haben, die ihre Versorgung brauchen. Im ungünstigen Fall werden Trauernde in dieser Zeit krank, entwickeln eine reaktive Depression oder geraten in Suchtverhalten. Die seelische Verarbeitung des Verlusts geht einher mit einer inneren Loslösung vom Verstorbenen und dem täglich neuen Entschluss, ohne ihn weiterzuleben.

Als Begleiter sollten wir dem verwaisten Menschen Raum geben, sich fallen zu lassen und seine Gedanken ohne Kommentare unsererseits auszusprechen. In der Zerrissenheit zwischen dem Wunsch, dem Verlorenen nachzufolgen, und wieder am Leben teilzuhaben, können wir einen Trauernden manchmal nur schwer verstehen. Er braucht in dieser Zeit viel Geduld, auch wenn er manchmal etwas seltsam oder unentschieden wirkt. Wir sollten versuchen, Verständnis für diese Ambivalenz und die noch immer bestehende Einsamkeit aufzubringen.

Neuorientierung (4. Stufe)

Frau G. lässt uns teilhaben: »Was ich verloren zu haben glaubte, lebte in meinem Herzen weiter, und zwar für immer. Alles fing an, sich zu verändern: meine Sicht über das Geschehene, über das Leben, über meine Freunde, über meine Interessen und darüber, was im Leben wirklich wichtig ist. Ich bekam neue Energie und konnte Gefühle neu investieren … Ich spürte wieder Leben.«

Wenn ein verwaister Vater oder eine verwaiste Mutter es geschafft hat, sich durch die Trauerarbeit, die seelische Schwerstarbeit bedeuten kann, bis hierher durchzuarbeiten, wird die Chance für einen Neuanfang sichtbar. Das Verhältnis zum verstorbenen Kind sowie das eigene Leben verändern sich. Trotz manchmal harten Ringens in Bezug auf den Wunsch, dem toten Kind zu folgen, hat der Entschluss gesiegt, mit dem Verlust weiterzuleben. Welche neuen Wege jemand nun beschreitet, wie sehr er in die Familie und andere Beziehungen investiert, ist von Fall zu Fall unterschiedlich und kann sich im Laufe des weiteren Lebens auch verändern.

Für Begleiter ist es zumeist sehr entlastend, wenn sie merken, dass die trauernde Person sich und die Welt nun mit anderen Augen sieht und sich trotz allem für ihr Leben entschieden hat. Der Weg dorthin hat Veränderungen mit sich gebracht. Am Ende des Trauertals ist der Wanderer nicht mehr derselbe Mensch, der er zu Beginn war. Wir sollten diese Veränderungen als Außenstehende akzeptieren und müssen uns zunächst daran gewöhnen. Der vom Selbstmord seines Kindes betroffene Mensch wird diesen Verlust und die Zeit des Leidens nie vergessen können. Bestimmte Ereignisse wie Geburtstag oder Todestag werden alte Erinnerungen zunächst wieder wachrufen. Das innere Abgestorbensein der Schockphase sowie die schmerzhafte Sinnlosigkeit des eigenen Lebens sind zu diesem Zeitpunkt zu größten Teilen dem Willen und der Fähigkeit, das eigene Leben wieder in der Hand zu haben, gewichen.

Wenn ich das geahnt hätte

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