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Die Hinterbliebenen zwischen Schuld und Trauer

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Nach »geglückten« Selbstmorden wird von den Hinterbliebenen häufig die Nachricht verbreitet, dass die Person einen Unfall hatte. Damit erreichen sie, dass sie weniger in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit geraten und so vielleicht dem befürchteten Tratsch entgehen können. Schließlich geht es auch darum, den Ruf als »ganz normale Familie« nicht aufs Spiel zu setzen, denn diese Gefahr ist natürlich in dem Fall größer, wenn ein Familienmitglied sich umgebracht (oder es versucht) hat, als wenn es verunglückt ist. Neben diesen Bemühungen, nach außen dem Gerede der Nachbarn und Bekannten zu entgehen, gibt es auch noch die innerseelisch ablaufenden Prozesse. Die menschliche Seele ist in der Lage, sich gegenüber aversiven, also unerwünschten oder unangenehmen Gedanken und Vorstellungen zu schützen, indem sie sie ausblendet, quasi beiseiteschiebt. Im Fachjargon spricht man auch von Verdrängung. Für Hinterbliebene eines Selbstmörders ist die Tragödie vielleicht erträglicher, wenn sie annehmen, es habe sich um einen Unfall gehandelt. Natürlich funktioniert diese Annahme nur dann, wenn es kein offensichtlicher Selbstmord war, wie z. B. beim Erhängen oder beim Sprung aus dem Hochhaus. Wenn man sich in die Lage eines Angehörigen oder eines engen Freundes hineinversetzt, kann man sich vorstellen, dass einen der Gedanke entlasten würde, der Selbstmörder hätte »nur« einen tragischen Unfall gehabt. Allerdings kann es zu einem späteren Zeitpunkt befreiend sein, die Wahrheit über den Tod anzusehen, statt psychische Energie darauf zu verwenden, die beschönigende Variante mit sich zu tragen. Kurzfristig mag die Unfall-Version dazu beitragen, dass ein Hinterbliebener das Unfassbare besser aushält, aber die menschliche Seele entwickelt mittel- und langfristig häufig Symptome, um Tabus und

Geheimnisse an die Oberfläche zu befördern. Schrittweise und behutsam lässt sich die Wahrheit verkraften und eine Vertrauensperson kann dabei wertvolle Begleitung und Schutz bieten.

Es kann also für einen Menschen zunächst hilfreich sein, einen Suizid nicht als solchen verarbeiten zu müssen – wenn es nicht ganz offensichtlich einer war! Dadurch fühlt die Seele sich möglicherweise erst einmal weniger belastet, quälende Fragen an eigene Versäumnisse gegenüber dem Verstorbenen bzw. demjenigen, der einen Selbstmordversuch überlebt hat, stellen sich dann weniger stark ein. Dennoch gehört es zu unserer Seelenhygiene, dass wir der Wahrheit eines Tages – evtl. mit fachlicher Hilfe – ins Auge sehen und anerkennen, dass Selbstmorde oder auch Selbstmordversuche grundsätzlich nicht einfach nur Unfälle oder tragische Schicksalsschläge sind, sondern vorsätzliche Handlungen in der Absicht, sich umzubringen bzw. einen massiven Hilferuf zu senden.

Selbsttötungsversuche lösen bei nahen Bezugspersonen immer Schuldgefühle aus. Sie fragen sich, was sie verkehrt gemacht haben, und schämen sich für die Tat. Dennoch sollte man zumindest im Freundeskreis ehrlich sein und den Selbstmord oder Suizidversuch trotz des weitverbreiteten Tabus beim Namen nennen. Es kann sehr entlastend sein, zu merken, dass auch andere Menschen schon in vergleichbaren Situationen waren.

Selbstmord bedeutet für die nächsten Angehörigen ein massiv einschneidendes Lebensereignis, das ihr Leben stark beeinträchtigt und meistens auch verändert. Man spricht im Zusammenhang mit der nach einem Tod folgenden Traurigkeit und Trauer sehr treffend von Trauerarbeit, die ein Mensch zu leisten hat.

Zu Tod und Sterben gehört Trauerarbeit, die jedoch unterschiedlich verläuft, je nachdem, ob jemand z. B. nach einer längeren qualvollen Krankheit, nach einem Unfall oder aber durch eigenes geplantes Dazutun stirbt. Im letzteren Fall fragen Angehörige und Freunde, nicht selten auch Arbeitskollegen oder Nachbarn, wie weit sie mit am Geschehen schuldig sind. Diese Gewissensbisse sind umso stärker, je konflikthafter die Beziehung zur suizidierten Person war. Auch wenn beispielsweise eine Scheidung oder Trennung, die dem Suizid vorausgegangen ist, mit zum Entschluss, dem eigenen Leben ein Ende zu bereiten, beigetragen haben, ist dies zwar eine mit auslösende Bedingung, aber keine hinreichende. Es gehört stets der Entschluss des Menschen dazu, einen Schlussstrich zu ziehen. Damit räumt er der derzeitigen Krise keine Entwicklungschance mehr ein.

Es gibt selbstverständlich real begangene Schuld und Schuldigwerden am anderen. Menschen haben unterschiedliche Strategien, mit dieser Schuld umzugehen. Jedoch ist und bleibt es jeweils die Aufgabe des »Opfers«, sich dafür oder dagegen zu entscheiden, diese Schuld immer wieder hervorzuholen, sie dem anderen anzukreiden und nachzutragen. Derjenige, der nachträgt, erschwert sich das Gehen selbst. Wenn ein Hinterbliebener durch eigene Erkenntnis oder einen Abschiedsbrief auf begangene Schuld stößt, muss er entscheiden, wie weit die Vorwürfe gerechtfertigt sind und er sich mit ihnen identifizieren möchte. Manchmal entlastet es Hinterbliebene, wenn sie die Frage nach der Schuld umformulieren in Überlegungen zu eigenen Anteilen.


Ein unabgeschickter Brief an …

Die folgenden Impulse sind als Anregungen gedacht, … einen Brief zu schreiben, der das ausdrückt, was … nicht mehr gesagt werden kann. Die Bausteine können einzeln oder komplett verwendet und auch erweitert werden. Der Brief kann z. B. bei der Beerdigung mit in den Sarg gegeben oder zum Jahrestag aufs Grab gestellt oder auch verbrannt werden usw.

Liebe, lieber …

(oder welche Anrede wäre für meinen Adressaten passend?)

Wer war … für mich?

Woher kannten wir uns?

Welche Rollen hat … gespielt (Vater, Mutter, Geschäftsmann, Mannschaftsmitglied)?

Welche meiner Gedanken und Gefühle zu seinem Tod möchte

ich ihm in dem Brief mitteilen (Entsetzen, Traurigkeit, Schuldgefühle, Wut, Warum-Fragen usw.)?

Was wünsche ich …?

(Sie finden dieses Arbeitsblatt Nr. 1 auch im Internet unter www.acmess.de.)

Die Frage nach der tatsächlichen Mitschuld und den Anteilen am Suizid (z. B. Übersehen von Vorboten) ist nicht einmalig zu beantworten, sondern kann beispielsweise am Geburtstag des Selbstmörders oder an seinem Todestag wieder auftauchen.

Üblicherweise stellt sich die Schuld- oder Mitschuldfrage zu keiner Zeit in Reinform, sondern bildet zusammen mit Gefühlen von Traurigkeit, Wut, Selbstzweifeln sowie anderen Gefühlen und Gedanken ein Konglomerat.

Trauerarbeit braucht Zeit und Kraft, es handelt sich dabei tatsächlich um seelische Schwerarbeit. Ursprünglich wurde dieser Begriff 1915 von Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, eingeführt. Interessanterweise ist Trauern bis heute mit einem gewissen Tabu behaftet, und doch ist es etwas, das zum Menschsein genauso gehört wie das Eingehen von Beziehungen. Unterschiedliche Disziplinen und Fakultäten haben sich unter verschiedenen Fragestellungen damit befasst, wie Menschen trauern und welche Rituale sie haben (z. B. das Tragen von schwarzer Kleidung als äußeres Zeichen der Trauer). Es gibt in den verschiedenen Kulturen sehr unterschiedliche Formen des Trauerns, die hier nicht ausführlich dargestellt werden können. Jeder Mensch entwickelt aufgrund seiner Lebenserfahrungen, seiner Vorbilder im Bereich des Trauerns und seiner Persönlichkeit einen individuellen Umgang mit der Trauerarbeit.1

Wenn ich das geahnt hätte

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