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1.7.1 Verdachtsberichterstattung

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Straftaten sind Bestandteil des Zeitgeschehens, dessen Vermittlung zu den Aufgaben der Medien gehört.[238] Das Informationsinteresse verdient im Rahmen der gebotenen Abwägung jedenfalls dann Vorrang, wenn die pressemäßige Sorgfaltspflicht erfüllt ist.[239] Die Presse darf deshalb auch bei Verdacht Vorgänge aufgreifen. Dabei darf die Presse auch solche Tatsachen verbreiten, deren Wahrheitsgehalt im Zeitpunkt der Veröffentlichung noch nicht mit Sicherheit feststeht.[240] Dies gilt insbesondere auch bei strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Hierzu wurden von der Rspr. die Grundsätze der sog. „Verdachtsberichterstattung“ entwickelt. Aber auch außerhalb von Straftaten können die Grundsätze zur Zuverlässigkeit der Verdachtsberichtserstattung auf die Äußerung solcher Verdächte Anwendung finden, die das Ansehen des Betroffenen herabsetzen können.[241] Dabei kann im Einzelfall sogar in einer echten Frage die Äußerung einer Verdachtes liegen.[242] Voraussetzung einer zulässigen Verdachtsberichterstattung ist zunächst die Beachtung der journalistischen Sorgfaltspflicht. Dabei sind die Anforderungen an die pressemäßige Sorgfaltspflicht um so höher anzusetzen, je schwerer und nachhaltiger das Ansehen der Betroffenen durch die Veröffentlichung beeinträchtigt wird.[243] Die Darstellung darf keine Vorverurteilung des Betroffenen enthalten, also bspw. durch präjudizierende Formulierungen den Eindruck erwecken, der Betroffene sei wegen der vorgeworfenen Handlungen bereits überführt.[244] Deshalb ist auch – sofern bekannt – über entlastende Tatsachen und Argumente zu berichten.[245] In aller Regel, jedenfalls bei schwerwiegenden Vorwürfen, ist dem Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.[246] Ausnahmen bestehen, wenn etwa der Betroffene sich bereits öffentlich dazu geäußert hat oder wenn eine Gelegenheit zur Stellungnahme sichtlich keinen Erfolg haben würde.[247]

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Ferner muss ein Mindestbestand an Beweistatsachen vorhanden sein, die für den Wahrheitsgehalt bei Informationen sprechen.[248] Eine Strafanzeige kann theoretisch jeder erstatten und sie stellt damit in aller Regel noch nicht per se ein aussagekräftiges Indiz dar. Die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens bedeutet nur, dass die Staatsanwaltschaft vom Verdacht einer strafbaren Handlung Kenntnis erlangt und aufgrund des Legalitätsprinzips nachforscht (§ 160 StPO). Wird das Ermittlungsverfahren aber durchgeführt, ist dies regelmäßig ein Indiz für einen nicht völlig grundlosen Verdacht. Liegt ein Haftbefehl vor, verstärkt sich der Verdacht, ebenso wenn der Beschuldigte ein – widerrufbares – Geständnis abgelegt hat.

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Von Belang kann auch sein, von wem die Indizien oder eine Identifikation kommen. Teilt z.B. die Polizei oder die Staatsanwaltschaft die Indizien mit, darf die Presse in aller Regel darauf vertrauen, dass sie auf hinreichend sicheren Erkenntnissen beruhen.[249] Verlautbarungen des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR darf gesteigertes Vertrauen entgegengebracht werden.[250] Auch auf Agenturmeldungen seriöser Nachrichtenagenturen darf vertraut werden, es sei denn, die Agenturmeldung beruht ersichtlich selbst auf Information nicht verlässlicher Dritter (z.B. auf anderen Zeitungsmeldungen).[251]

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Alle diese Aspekte sind in der Gesamtabwägung mit dem Interesse der Öffentlichkeit und der Schwere der in Frage kommenden Straftat abzuwägen.

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Insbesondere die Frage, ob identifizierende Fotos veröffentlicht werden können, hängt von den Umständen des Einzelfalls und ihrer Abwägung ab.[252] Eine namentliche Erwähnung des Betroffenen kommt in Betracht, wenn das Informationsinteresse der Öffentlichkeit gegenüber dem Geheimhaltungsinteresse des Betroffenen überwiegt, z.B., wenn an der Person des Betroffenen aus seiner Funktion, seiner besonderen Persönlichkeit oder seiner Position heraus ein besonderes Interesse besteht.[253] Eine Namensnennung kommt daher in der Regel nur in Fällen schwerer Kriminalität oder bei Straftaten in Betracht, die die Öffentlichkeit besonders berühren.[254] Aber auch außerhalb schwerer Straftaten kann eine Namensnennung im Rahmen einer Gesamtabwägung zulässig sein.[255] Ein identifizierender ursprünglich rechtmäßiger Artikel kann grundsätzlich auch dann noch in einem Online-Archiv zum Abruf bereitgehalten werden, wenn das Resozialisierungsinteresse des Betroffenen bei Strafverbüßung berührt wird; dabei fließt in die Abwägung ein, dass die Veröffentlichung ursprünglich zulässig war, die Meldung nur durch gezielte Suche auffindbar ist und erkennen lässt, dass es sich um eine frühere Berichterstattung handelt.[256] Ein besonderes Informationsinteresse der Öffentlichkeit besteht in aller Regel bei einem Zusammenhang von staatlichem Handeln mit strafbaren Verhalten von Amtsträgern[257] oder anderen der Öffentlichkeit zugewandten Organisationen (Kirchen, Religionsgemeinschaften, gemeinnützigen Vereinen), hierbei – je nach Umständen – auch unterhalb der Schwelle der Schwerkriminalität.

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Stellt sich später heraus, dass der Verdacht nicht gerechtfertigt bleibt, so ist die Äußerung im Äußerungszeitpunkt als rechtmäßig anzusehen, falls die pressemäßige Sorgfaltspflicht erfüllt wurde. In diesem Fall kann dem Betroffenen ein von der Rechtsprechung entwickelter „äußerungsrechtlicher Folgenbeseitigungsanspruch“ dann zustehen, wenn die Beeinträchtigung fortdauert; dieser ist auf eine nachträgliche Mitteilung gerichtet, dass nach Klärung des Sachverhaltes der berichtete Verdacht nicht mehr aufrechterhalten werde, eine Richtigstellung kann nicht verlangt werden.[258] Dabei hat der Nachtrag so zu erfolgen, dass er möglichst den gleichen Leserkreis und den gleichen Grad an Aufmerksamkeit erreicht wie die Erstmitteilung.[259]

Praxishandbuch Medien-, IT- und Urheberrecht

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