Читать книгу Ich wollte nie verlieren - ein Frauenschicksal - Anne Karin Elstad - Страница 8
ОглавлениеEine weitere Woche ist vergangen, mit viel Arbeit, aber ohne größere Zwischenfälle. Die letzte Menstruation ist vorüber und vergessen. Auch die Angst, verdrängt und vergessen, bis zum nächsten Mal, wenn es wieder soweit ist.
Samstagabend. Fredrik und Maria sind allein, sitzen bei einem Gläschen Wein und unterhalten sich. Sie nimmt ihn in Augenschein. Die Anzeichen des Älterwerdens sind unübersehbar. Die Gesichtszüge sind schärfer geworden, das dunkle Haar fast grau, über dem Scheitel dünn, oberhalb der Stirn tiefe Weisheitsecken. Aber körperlich ist er noch jung, voller Spannkraft, er tut für seinen Körper mehr als sie für ihren.
In diesem Moment durchrieselt sie ein Gefühl der Wärme für ihren Mann, und sie hat Lust auf ihn. Dasselbe ist ihm anzusehen. Er hebt das Glas, prostet ihr zu. Mit seinen warmen, braunen Augen verweilt er in ihrem Blick. Wunderbar, daß sie sich noch so gut verstehen.
Da sagt er: »Vergiß nicht, am Montag den Arzt anzurufen.«
Ihr ist die gute Stimmung verdorben.
Nur halb bei der Sache, schläft sie mit ihm. Sie schämt sich, weil sie sich dabei verstellen muß, befürchtet, daß er merken könnte, daß es für sie nicht so schön ist, wie sie es ihm vorspielt. Danach hat sie nur noch den Wunsch, sich zu verkriechen, zu heulen. Sie bleibt liegen und denkt, daß das zwischen ihnen nicht zerstört werden darf. Darin haben sie sich immer gut verstanden. Fredrik ist stets rücksichtsvoll gewesen, hat sie niemals gezwungen, wenn er merkte, daß sie nicht wollte. Dieser Bereich des Zusammenlebens hat sie über so manche Krise hinweggerettet, ist im Laufe der Jahre intimer geworden, hat ihnen größere Sicherheit gegeben. Abgesehen vom vergangenen Jahr. Erst jetzt fällt ihr auf, wie selten sie in letzter Zeit miteinander geschlafen haben. Und sie erschrickt bei der Vorstellung, daß das Schönste, was sie gemeinsam haben, zerstört werden könnte. Daß sie es zerstören könnte. Denn zweifelsohne ist es ihre Schuld, ist sie es, die erschöpft ist, die versagt.
Marias Furcht vor Ärzten ist bis in die Kindheit zurückzuverfolgen. Für ein Riesengebiet gab es nur den Bezirksarzt, und nach dem wurde bloß geschickt, wenn es ums Leben ging. Und selbst dann kam es den Leuten noch so vor, als belästigten sie ihn. Aus diesem Grunde kann Maria niemals zu einem Arzt gehen, ohne das Gefühl zu haben, ihn in unzumutbarer Weise zu stören. Stumm und ängstlich sitzt sie da und bringt es nicht fertig, über das zu sprechen oder nach dem zu fragen, was sie sich vorgenommen hatte. Wie um Entschuldigung bittend, redet sie weg, weswegen sie gekommen ist. Ob sie sich gewisse Dinge vielleicht nur einbilde? Sie nehme an, daß sie möglicherweise zu wenig rote Blutkörperchen habe. So ist sie, die sonst so starke Maria, wenn sie einem Arzt gegenübertritt. Einmal wurde sie von einem vielbeschäftigten Doktor angebelfert: »Ich verstehe nicht, warum Sie zu mir kommen, wenn Sie die Diagnose schon selber gestellt haben.«
Und ihr wurde schwarz vor Augen.
Obwohl sie weiß, daß es feige, irrational ist, gelingt es ihr nicht, diese Angst vor Ärzten zu überwinden. Und selbst, wenn sie manchmal große Lust hätte, Zweifel an dem Urteil eines Arztes anzumelden, läßt sie sich nicht dazu hinreißen. Denn für Maria ist das Wort eines Arztes Gesetz.
Daher hatte sie auch nie das Bedürfnis, diese Berufsgruppe besonders in Anspruch zu nehmen. Eine Krampfadernoperation am Bein nach Anders’ Geburt, eine Blinddarmoperation, ein paar Ausschabungen in den letzten Jahren. Ansonsten war sie gesund und munter.
Sie sitzt vor dem Telefon und starrt es an. Ihr ist klar, daß sie nicht kneifen kann. Wieder meldet sich die Zentrale des Krankenhauses. Dieselbe geschäftige Stimme wie neulich.
»Geht es um einen Termin?«
Maria schluckt.
»Nein, ich habe eine Verabredung, privat.«
Sie wird mit dem Vorzimmer des Arztes verbunden. Wieder eine bekannte Stimme. Auch diese Dame fragt, ob es um einen Termin gehe.
»Nein«, sagt Maria tapfer. »Es ist privat.«
»Privat?« fragt die Sekretärin mißtrauisch. »Haben sie eine Verabredung?«
»Ja«, lügt Maria.
Während sie am Telefon wartet, denkt sie wütend, daß diese Ärzte ein Heer von menschenfeindlichen Frauenspersonen als Leibwächter für sich arbeiten lassen. Zu ihnen vorzudringen ist schwieriger, als eine Audienz beim Papst zu bekommen.
Dann hat sie ihn an der Leitung, und wie so oft zuvor schwindet Maria der Mut. Der Puls hämmert in ihren Ohren. Sie hört die unpersönliche Stimme, freundlich, geschäftsmäßig.
Zaghaft, stammelnd berichtet sie von ihren Beschwerden. Über ihre Menstruation, die wieder sehr unregelmäßig geworden sei. Ob sie vielleicht einen Termin bekommen könne, bald.
»Völlig ausgeschlossen!« sagt er. »Frühestens in drei Monaten, vorher ist kein Termin frei. Falls es nicht um etwas Schlimmeres geht.«
»Nein... «
Sie fühlt sich von dem geschäftsmäßigen Ton überfahren. Er werde ihr ein Rezept ausstellen, sagt er. Sie könne es sich heute später im Vorzimmer abholen.
Stumm und schweißgebadet sitzt Maria da und sieht auf das Telefon. Schüttelt den Mißmut ab. Ein Rezept. Na, das ist immerhin etwas. Ein Rezept bedeutet Medizin, bedeutet Hilfe, denkt sie. Andererseits Medizin, wofür?
Sie wird versuchen, an ihn heranzukommen, wenn sie das Rezept abholt, um wenigstens ein paar Worte mit ihm zu wechseln.
In der Mittagspause fährt sie ins Krankenhaus. Als sie vor der unfreundlichen Sekretärin steht, schlägt ihr das Herz bis zum Hals, sie nimmt das Rezept entgegen, bleibt jedoch stehen. Die Sekretärin sieht sie fragend an.
»Haben Sie noch einen Wunsch?«
»Ja, ich hätte gern ein paar Worte mit dem Arzt gewechselt, darüber«, sagt Maria und streckt die Hand mit dem Rezept vor.
»Nein, das ist absolut unmöglich. Eine Gebrauchsanweisung gibt es mit den Tabletten von der Apotheke.«
In diesem Moment kommt der Arzt im Eilschritt aus seinem Büro. Sicher hat auch er Mittagspause. Er nickt Maria kurz zu, mit einem Blick, der durch sie hindurchsieht, als ob sie Luft wäre. Sie nimmt ihren ganzen Mut zusammen.
»Dr. Moe? Haben Sie einen Augenblick Zeit?«
»Eigentlich nicht«, er sieht auf die Uhr. »Worum gehts, was haben Sie auf dem Herzen?«
Eine peinliche Situation, so vor den Augen seiner Wachhündin. Der Abstand zwischen dem Arzt und ihr ist unendlich wie die Ewigkeit. Er, die Hand auf der Türklinke, steht auf dem Sprung. Sie, konsterniert, wie gelähmt, mitten im Raum.
»Ja, es geht darum, daß... Ich hab ein bißchen Angst«, versucht Maria zu erklären.
»Angst? Als Sie anriefen, habe ich mir Ihre Akte angesehen. Im Februar hatten Sie eine Ausschabung, nicht wahr?«
»Ja...«
»Die Krebsprobe hat gezeigt, daß alles normal war.«
»Ja, das schon, aber...«
»Die Tabletten, die ich Ihnen verschrieben habe, werden Ihnen helfen.«
»Was sind das für Tabletten?«
»Ein Hormonpräparat. Die Gebrauchsanweisung finden Sie in der Packung. Ungefähr vier Tage nach der nächsten Menstruation können Sie mit der Behandlung beginnen.«
Da fällt Maria plötzlich ein, was ihr alter Gynäkologe vor langer, langer Zeit zu ihr gesagt hat. Seine freundliche Stimme klingt ihr noch im Ohr: »Vergessen Sie nicht, meine Liebe, Sie in Ihren Jahren und mit Ihrer Migräne, Sie dürfen auf keinen Fall die Antibabypille nehmen.«
Daran muß sie denken, und sie fragt den jungen Arzt, ob es im Zusammenhang mit diesen Tabletten zu irgendwelchen Nebenwirkungen kommen könne.
»Nein. Als einziges kann es sein, daß Sie etwas zunehmen. Aber auch das bleibt den meisten Frauen erspart. Viel Glück!«
Dumm, dumm wie vorher, dümmer als je zuvor, bleibt Maria zurück, nachdem er hinter der Tür verschwunden ist.
Sie holt die Tabletten ab. Als sie nach Hause fährt, hat sie Östrogen in der Tasche, das für ein halbes Jahr reicht, während ihr die Worte des alten Arztes noch immer in den Ohren klingen. ›Nehmen Sie nicht die Pille, nicht die Pille...‹
»Törichtes Weib«, sagt Maria zu sich selber. Von der Antibabypille kann keine Rede sein. Das ist etwas ganz anderes, etwas Ungefährliches. Ein tüchtiger Arzt stellt ihr hier Hilfe in Aussicht, Tabletten, die all ihre Leiden kurieren sollen, und sie kann sich nicht von ihren dummen Gedanken lösen.
»Törichtes Weib«, wiederholt sie. »Reiß dich jetzt zusammen, Maria!«
Beim Abendbrot fragt Fredrik, was der Arzt gesagt hat.
»Ich habe Östrogentabletten erhalten«, sagt Maria munter.
Er runzelt die Stirn, sieht sie an.
»Östrogen?«
»Ah, Östrogen, das gibt ewige Jugend, Mutter«, sagt Anders. »Ich habe auch davon gelesen. Die Falten verschwinden, und du fühlst dich total wie neugeboren.«
»Kannst du mal für einen kleinen Moment ruhig sein?« schimpft Fredrik. »Bist du sicher, das du die haben willst? Hast du dich nach den Nebenwirkungen erkundigt? Ich weiß einfach nicht, was ich davon halten soll.«
»Fredrik«, sagt Maria und blickt entmutigt in sein bekümmertes Gesicht, »das ist ein Arzt mit einem sehr, sehr guten Ruf. Er ist der Fachmann – oder nicht? Denkst du, er verordnet mir ein Präparat, das gefährlich ist? Allein schon die Tatsache, daß er nicht erst noch eine Untersuchung für nötig hielt, unterstreicht doch, daß diese Pillen ungefährlich und harmlos sind. Stimmt’s?«
»Doch, du hast wohl recht damit«, sagt er, weiterhin skeptisch. «Ich würde so etwas jedenfalls nicht einnehmen.«
»Aber das mußt du ja auch nicht. Du bist doch ein Mann!«
Nach dem Essen verstaut sie die Tablettenschachtel tief in einem Schrank – immer noch zweifelnd. Sie kann sie vorläufig ja einfach vergessen.