Читать книгу Wie aus einer Radtour eine Weltreise wurde. Vom Improvisieren und kleinen & großen Abenteuern. - Annika Wachter Roberto Gallegos Ricci - Страница 16
Der Präsident im Baumwollfeld Tag 362, Kilometer 6690, Turkmenistan
ОглавлениеPOSITIV Sehr komfortable Schlafwaggons im Zug NEGATIV Das Gefühl, verfolgt zu werden GELERNT Goldener Prunk und bunter Alltag liegen dicht beieinander
Turkmenistan ist das Nadelöhr der Reiseradler. Ein Großteil der Radler, der zwischen Asien und Europa unterwegs ist, radelt entweder über Kasachstan und Russland oder über Turkmenistan und Usbekistan. Das Transitvisum für Turkmenistan kostet für fünf Tage stolze 55 Dollar, und die kürzeste Strecke durchs Land beträgt knapp 500 Kilometer. Das ist ein sehr eng gesteckter Zeitrahmen, zumal die Straßen voller Schlaglöcher sind und der Wind von Osten kommt, aber es ist machbar. Sofern man nicht seinen ersten Visumstag mit Magenkrämpfen und Tropf auf der Arztliege im iranischen Grenzdorf verbringt, so wie Roberto.
Zwei Tage später geht es Roberto zum Glück gut genug, um aufrecht zu stehen und zu gehen, doch unser »Radelfenster« ist passé. Wir beschließen, das Land nun möglichst schnell mit öffentlichen Transportmitteln zu durchqueren. Da der Zug nach Mary erst in zwei Tagen wieder fährt und es keine Busse gibt, verladen wir die Räder in ein Taxi und werden gründlich durchgeschüttelt. Manche Schlaglöcher sind länger als unsere Räder. Ich sehe aus dem Fenster. Dort sind Büsche, Militärposten, lachende Menschen in enger bunter Kleidung mit passenden Schuhen und Haarbändern oder Kopftüchern. Dabei höre ich dem Paar auf den Vordersitzen zu. Die beiden reden und lachen laut. Ich verstehe einzelne Wortfetzen, da Turkmenisch und Türkisch einander ähneln. Auch die Beifahrerin ist kunterbunt gekleidet, in ihrem Mund glitzern mehrere Goldzähne, und sie wirft jedes Mal den Kopf in den Nacken und haut sich auf die Oberschenkel, wenn sie lacht. Erst jetzt wird mir klar, wie sehr ich diese offene Freude, die Unbeschwertheit und die vielen Farben im Iran vermisst habe. Ich selbst trage wieder ein kurzärmliges Shirt, aber habe mich über anderthalb Monate an das Kopftuch so gewöhnt, dass ich ein paar Tage brauche, bis ich mich auch ohne wieder wohlfühle.
Da Roberto sich etwas besser fühlt, beschließen wir, das Beste aus unserer Lage zu machen und uns umzusehen. Das Zentrum der Stadt besteht aus Dutzenden von überdimensionierten Gebäuden. An vielen prangt ein Bild des Präsidenten. Überall glänzen bunte Kuppeln, weiße Wände reflektieren die Mittagssonne, und ich kann die Augen kaum offen halten, so sehr blendet mich das Licht. Kein Körnchen Staub ist in Sicht, alles ist so neu, so exakt, so irreal, fast wie eine prunkvolle Filmkulisse. Es dauert eine Weile, bis mir klar wird, was das Ganze so künstlich wirken lässt. Es ist die Abwesenheit von Menschen. Man sieht sie weder in der nagelneuen Moschee noch auf der Straße oder in der Bibliothek. Ein Geisterviertel mitten in der Stadt?
Im Mary Museum schließen wir uns einer geführten Tour an. Doch bevor wir den Teil erreichen, in dem wir von Land und Leuten, Geschichte und Kultur, aber auch von Seide erfahren, werden wir in die sogenannte Halle der Renaissance geführt. Diesen Raum dominieren Bilder des Präsidenten Turkmenistans. Unser Museumsführer Yakub deutet auf eines: »Schauen Sie, hier steht unser Präsident gemeinsam mit den Erntehelfern in einem Baumwollfeld.« Während er die Bedeutung von Baumwolle für die Kultur Turkmenistans erläutert, schaue ich mir das Bild genau an. Mein Blick wandert durch den Raum. Der Präsident bei einem traditionellen Tanz. Der Präsident lenkt eine Jacht. Steht vor einer typischen Jurte. Sitzt in einem Rennwagen. Steht in einer Gruppe strahlender Kinder. Spielt Golf. »Ist unser Präsident nicht außerordentlich sportlich? Hier sehen Sie ihn beim Polospielen«, Yakub zeigt auf ein weiteres Bild, diesmal trägt der Präsident traditionelle Polokleidung und sitzt auf einem Pferd, während er in die Kamera lacht. Wir lächeln Yakub höflich an, schauen uns interessiert weiter um und tauschen dann für einen Bruchteil einer Sekunde Blicke aus. Das reicht. Mir fällt der Begriff »Nordkorea Zentralasiens« ein, der in einem Artikel über Turkmenistans Menschenrechte und Pressefreiheit zu lesen war.
Während der folgenden zwei Stunden der Tour bietet Yakub auch seinen Service als Fahrer und Touristenführer zu den Ruinen von Merw an und bewirbt das Hotel seines Cousins, das »sehr charmant« und »gar nicht teuer« sei.
Mit den Köpfen voller neuer Eindrücke verlassen wir schweigend das Museum und schlendern ziellos durch die Stadt, weg von den großen Chausseen. Und endlich treffen wir auf andere Menschen. Wir entdecken einen Basar, Fahrräder, Karren, Müll, machen unsere ersten Begegnungen, kaufen Obst und Seife, trinken in einer Bar unser erstes Bier seit Armenien, essen Schaschlikspieße und saugen die Farben und das Gewusel in uns auf. Das tut gut. Welch ein Kontrast zur Filmkulissenwelt nur wenige 100 Meter weiter!
Obst- und Gemüseverkäuferinnen auf dem Markt.
Verrauchte Schaschlikgrillküche.
Besitzer des Seifen- und Parfümstands.
Die Gurbanguly Hajji Moschee wurde erst 2009 fertiggestellt und mutet unter dem strahlend blauen Himmel ein bisschen unwirklich an.