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Kapitel 6 – Böses Erwachen
ОглавлениеHuch, das war knapp, gestand Sandra sich ein, als sie am Freitagmorgen ihren Bus gerade noch erwischte. Sie massierte ihre schmerzenden Schläfen. Hoffentlich hatte sie heute keine komplexen Aufgaben zu erledigen. Ansonsten würde sie ihre Chefs fragen, ob sie diese auf Montag verschieben durfte.
Es kam ihr ganz gelegen, dass nur der Junior da sein würde, weil Herr Freiburg sich wegen auswärtigen Besprechungen abgemeldet hatte.
Natürlich war es nicht ihre erste durchtanzte Nacht, auch nicht ihre erste Liebesnacht – aber es war das erste Mal, dass sie Alkohol konsumierte, bis ihr ausgeprägtes Gefühl für Anstand und Schicklichkeit sich in Sangria und Champagner auflöste.
Denn heute früh im Bett, als sie mit einem hämmernden Kopf und dem Gefühl der unerträglichen Enge aufgewacht war – und Ramóns dunkel behaarten Arm sowie sein muskulöses Bein über sich sah – wäre sie vor Schreck beinah in Ohnmacht gefallen. Vorsichtig drehte sie sich unter dem Gewicht seines Körpers weg und wankte ins Bad. Vor ihren Augen hüpften wilde, kleine Kobolde auf und ab. Sie musste sich auf den Badewannenrand setzen, weil die Erinnerungsfetzen an die vergangene Nacht sie wie eine Bestie ansprangen.
»Reiß dich zusammen, Sandra! Was hast du getan?«, stöhnte sie halblaut. Doch noch viel entscheidender war, was sie nicht getan hatte:
Sie hatte nicht verhütet!
Ramón hatte vermutlich angenommen, sie schlucke die Pille, wie es die meisten jungen Frauen taten. Nur vertrug Sandra die gängigen Antibabypillen schlecht, und seit sie die Beziehung mit ihrem Jugendfreund Charlie beendet hatte, war Verhütung kein Thema in ihrem Leben. Als Herr Röhricht sie beide unverschämt grinsend vor dem Haus absetzte, war sie viel zu müde und berauscht gewesen, um einen klaren Gedanken zu fassen.
Diese kamen erst nach und nach, und mit ihnen eine Furcht, die ihr die Luft abschnüren wollte. Mit zitternden Händen drehte sie den Wasserhahn auf und duschte ausgiebig, erst warm, dann heiß, danach eiskalt von den Füßen aufwärts, was sie ein wenig belebte. Im Spiegel entdeckte sie mehrere Knutschflecken. Ramón und sie mussten sich ziemlich stürmisch geliebt haben, doch sie erinnerte sich an keine Einzelheiten mehr, schade eigentlich.
Sie stylte ihre asymmetrisch geschnittenen Haare zu einem schicken Longpony, zog sich etwas an, das ihre Liebesspuren verbarg und legte ein deckendes Make-up auf. Zum Schluss schlang sie ein buntes Seidentuch um den Hals, um auch da die verräterischen Flecke zu verbergen. Das fiel nicht auf, da sie öfter Tücher trug.
Bevor sie das Frühstück bereitete, legte sie noch eine frische Zahnbürste auf den Waschbeckenrand, dann weckte sie Ramón, der sich in die Decken gekuschelt hatte und wie ein Toter schlief.
»Hallo, Ramón! Ramóoooon«, rief sie ihn mehrmals leise, doch er rührte sich nicht. Sie strich ihm über die wirre schwarze Mähne und rüttelte ihn sanft an der Schulter, bis er sich stöhnend zu ihr umdrehte.
»Guten Morgen, es ist Zeit zum Aufstehen, möchtest du duschen?«, murmelte Sandra und sah ihn mitfühlend an. Der arme Kerl sah mitgenommen aus.
»Hola guapa, kann ich nicht noch ein paar Stunden schlafen? Ich werfe den Schlüssel dann in deinen Briefkasten«, grunzte es in gebrochenem Deutsch aus den Kissen.
Wider Willen musste sie lächeln. So gut kannte sie ihren Lover auch nicht, dass sie ihm die Wohnung mitsamt den Schlüsseln überlassen hätte. Sie kannte ihn überhaupt nicht, wie sie sich beschämt eingestand.
»Das geht leider nicht, bitte steh auf, ich mache dir einen starken Kaffee, während du unter der Dusche bist, okay?«
»Entendido! Verstanden!« Mit geschlossenen Lidern und zusammengepressten Lippen atmete Ramón einige Male ein und aus, als wollte er sein Kräfte sammeln, dann hievte er sich aus dem Bett.
Sandra sah seinen gebräunten, muskulösen Körper Richtung Bad verschwinden, doch sie war selbst zu wund und erschöpft, um noch Begehren zu empfinden. Sie belegte ein paar Brote für Ramón, zwischendurch löffelte sie etwas Müsli und hoffte, ihr übersäuerter Magen werde sich bald beruhigen.
Ramón kam rein, drückte ihr einen flüchtigen Kuss mit Pfefferminzgeschmack auf den Mund und rieb sich die Arme. »Hola guapa, mir ist etwas kalt. Wie komme ich nach Luzern?« Er setzte sich an den Küchentisch.
Sandra trat hinter ihn, legte ihm ihre Kuschel-Strickjacke um die Schultern und konnte es sich nicht verkneifen, seine feuchten Haare im Nacken zu kraulen. Sie konnte sich ausmalen, dass die Rückreise für Ramón eine ziemliche Herausforderung bedeutete.
»Du fährst zuerst mit der Straßenbahn zum Bahnhof Bern, danach mit dem Zug weiter nach Luzern. Ich kann dich leider nicht zum Bahnhof begleiten, weil gleich mein Bus fährt«, gestand sie kleinlaut.
Er begutachtete den Inhalt seiner Geldbörse, legte die Stirn in Kummerfalten und schüttelte den Kopf. »Was kostet diese Fahrt?«, fragte er mit belegter Stimme. »Wir nehmen nur ein paar Euro mit zur Arbeit, weißt du? Die Einnahmen verwaltet Diego, mein Schwager.«
Sandras verträumtes Lächeln erstarb bei seinen Worten. Na toll, jetzt darf ich auch noch bezahlen für die vergangene Nacht, das hat mir gerade noch gefehlt! Missmutig griff sie nach der Handtasche und entnahm ihrer Börse einen größeren Geldschein.
»Dann hast du also eine verheiratete Schwester ... wo in Spanien lebt denn deine Familie?«
Sie sah nicht, dass Ramón zusammenzuckte. Beinah hätte er sich am Kaffee verschluckt, weil er sich verraten hatte. Zum Glück waren die meisten Frauen gutgläubig und rückten sich die Tatsachen nach ihren Wünschen zurecht, so wie Sandra eben.
»Äh, wir leben im Norden der Costa Blanca, in der Provinz Castellón am Mittelmeer. Man nennt die Region Costa del Azahar, die Orangenblütenküste.«
»Oh, das klingt hübsch, werde ich mal im Internet recherchieren. Hier für dich!« Sie drückte Ramón den Geldschein in die Hand, dazu einen Beutel mit Sandwiches und einen Zettel.
»Das hier ist meine Handynummer. Sorry, aber ich muss dringend zur Arbeit, sonst kriege ich Schwierigkeiten, das möchtest du doch nicht, oder?« Sie setzte ihrem verblüfften Lover den Hut auf die noch feuchte Mähne, reichte ihm seine bestickte Bolero Jacke, hängte ihm die Gitarre über und zog ihn mit sich aus der Wohnung.
»Deine Straßenbahn fährt dort vorne, rufst du mich gegen Abend an?«, bat sie, während sie eilig abschloss. Ihr abbittender Blick begegnete seinen vorwurfsvollen, schwarzen Augen. »Alles Gute für dich!« Ein letzter Kuss auf seine geschürzten Lippen, und sie hetzte in die andere Richtung davon, wo ihr Bus bereits wartete. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem traurigen Lächeln. Welche unerfreuliche Wendung die zauberhaft begonnene Beziehung zu Ramón genommen hatte. Ob sie sich wiedersehen würden?
Die Quittung für deinen nächtlichen Leichtsinn hast du postwendend erhalten, höhnte eine innere Stimme ihr zu. Nun pass auf, dass es dabei bleibt!
Als ihre Haltestelle ausgerufen wurde, schreckte Sandra aus ihren sorgenvollen Gedanken auf. Sie sprang aus dem Bus und lief zum Eingang des Wohnblocks, wo Freiburg & Röhricht sich eingemietet hatte. Wenn nur ihr Schädel nicht so brummen würde. Erleichtert registrierte sie, dass der Junior noch nicht da war, das gab ihr etwas Zeit, sich zu sammeln.
Ramón Luis hastete missmutig durch die Unterführung des Bahnhofs Bern, fragte nach dem richtigen Bahnsteig und landete mit einem Satz auf dem obersten Tritt des abfahrbereiten Waggons Richtung Luzern, bevor die Türen sich schlossen. Im überfüllten Zugabteil suchte er sich einen freien Sitzplatz. Er war es gewohnt, mit seinem exotischen Outfit und der Flamencogitarre die Blicke auf sich zu ziehen, doch es war eine nervige Sache gewesen, sich bis hierher durchzufragen. Seine Kenntnisse der deutschen Sprache beschränkten sich auf das Vokabular, das er für seine Verhandlungen mit den Lokalbesitzern und für das Getändel mit den weiblichen Gästen benötigte.
Ich muss von allen guten Geistern verlassen gewesen sein, stöhnte er innerlich, als er sich in die Sitzpolster sinken ließ und die Augen schloss. Diego wird mich köpfen, und wenn er es Carmencita verrät, bin ich verloren. Er fuhr sich über die müden Augen, die höllisch brannten von zu viel Sangria, Champagner und der durchwachten Nacht.
Bei diesem letzten Gedanken angekommen, huschte ein zufriedenes Lächeln über sein Gesicht. Immerhin, er hatte mit Sandra einige denkwürdige Stunden verbracht. Die junge Frau war anschmiegsam wie ein Kätzchen gewesen. Dreimal hatten sie es in der kurzen Nacht getrieben, das war selbst für ihn eine Leistung. Die endlosen Monate ohne seine Carmencita hatten ihn so ausgehungert, dass er mit allen Fasern seines Körpers und seiner Seele nach der Nähe, dem verführerischen Duft und dem warmen Leib einer Frau verlangte.
Nicht böse sein, Carmencita! Ab sofort werde ich wieder dein braver, treuer Ehemann sein, ich schwöre es: ein ganzes Jahr lang! Bei dieser Vorstellung wurde ihm doch etwas mulmig zumute, doch er nahm sich tapfer vor, das sich selbst, dem Himmel und seiner Frau gegebene Versprechen einzuhalten. Ein wenig sühnen konnte nicht schaden, er wollte das Schicksal nicht zu sehr herausfordern, das es bisher gut mit ihm gemeint hatte.
Ramón genoss die Auslandaufenthalte mit seiner Flamencogruppe, die ihnen oft unvorhergesehene Abenteuer bescherten. Mal waren sie unerwünscht, mal wurden sie gefeiert wie die Superstars. Mal hatten sie eine Reifenpanne oder landeten in der falschen Stadt mit ähnlichem Namen; mal hinderte sie ein Unwetter daran, rechtzeitig am vereinbarten Ort aufzutreten – oder der Lokalbesitzer wollte nichts mehr wissen von ihrem geplanten Auftritt.
Das Winterhalbjahr verbrachten sie in Spanien. Ramón kehrte stets im Laufe des Septembers auf den Familienbesitz mit den angrenzenden Gemüse- und Obstplantagen zurück. Es gab immer viel zu tun, nach seiner langen Abwesenheit wollten seine Mutter ihren Sohn, seine Frau ihren Gatten und seine drei Kinder ihren Papa wieder für sich haben. Seine Sehnsucht nach ihnen wurde so heftig, dass es ihn schmerzte. Er legte die Rechte an sein Herz und gelobte seiner Carmencita:
Bald bin ich bei dir und den niños, mi amor!
Frierend zog er die graue Strickjacke über der Brust zusammen, die Sandra ihm geliehen hatte, weil er nur sein Hemd und die leichte Bolero Jacke trug. Natürlich hatte sie angenommen, er würde sie ihr zurückgeben, wenn sie sich wiedersahen. Mit leichtem Bedauern schüttelte er den Kopf.
Lo siento, querida Sandra, aber du und ich, wir werden uns nicht widersehen, waren seine letzten Gedanken, bevor er einnickte.