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Kapitel 4 - Ein faszinierender Mann
ОглавлениеDamit es in Bern keine Geschäftsausfälle gab, setzten Sandras Chefs die Öffnungszeiten der Luzerner Filiale auf die Donnerstage und Samstagvormittage fest, wenn die Stammkanzlei geschlossen war.
In der Regel fuhren die Herren ohne Sandra Becker in die Innerschweiz, da sie, nunmehr seit knapp zehn Monaten Assistentin bei Freiburg & Röhricht, an diesen Tagen frei hatte. Nur wenn der Senior verhindert war oder auswärtige Termine wahrnahm, bot er ihr jeweils an, seinen Juniorpartner nach Luzern zu begleiten.
Für Sandra, die erst kürzlich ihre Ausbildung zur Versicherungsfachfrau abgeschlossen hatte, waren dies willkommene Gelegenheiten, ihr Gehalt aufzubessern. Zusätzlich hatte sie Anspruch auf eine freie Mahlzeit und Getränke in einem der exklusiven Speiselokale, in die Herr Röhricht sie an solchen Tagen führte, bevor er sie heimfuhr und vor ihrer Haustür absetzte. Da sie eine Feinschmeckerin war, nutzte sie diese seltenen Gelegenheiten, in Köstlichkeiten zu schwelgen.
An diesem Donnerstag hatte sie Alexander wieder einmal nach Luzern begleitet und tatkräftig unterstützt. Soeben führte er seine letzte Kundin des Tages, die Visagistin Laura Massa, zur Garderobe und half ihr in die schicke Designerjacke.
»Frau Becker, wenn Sie so weit sind, dann können wir gehen. Sicher haben Sie nichts dagegen, dass ich Frau Massa mit eingeladen habe!« Das war keine Frage, sondern eine Anordnung, geäußert mit einem Zwinkern aus seinen tiefblauen Augen und einem arglos sonnigen Lächeln, als er sich ihr zuwandte.
»Nein, natürlich nicht«, murmelte Sandra. Sie fuhr den Rechner herunter, verstaute ihre Dokumente in den Aktenkoffer und schloss den Schreibtisch ab. Seltsamerweise doch, gestand sie sich ein. Sie hatte sich auf die Fortsetzung des kumpelhaften Geplänkels mit ihrem Chef gefreut, und wenn eine fremde Dame dabei war ... Überhaupt, wie kam der verheiratete Mann dazu, eine solche einzuladen? Sandra seufzte innerlich.
Der Junior war ein Charmeur erster Güte, wenn er es darauf anlegte, konnte er wohl jede Frau herumkriegen.
Sie selbst gehörte selbstverständlich nicht dazu, denn sie wusste genau, was sie wollte. Ein frisch verheirateter, chronisch alkoholisierter Mann, der außerdem noch ihr Vorgesetzter war, hatte in ihren Zukunftsplänen nichts verloren. Sie wollte in diesem Jahr Versicherungspraxis sammeln und dabei eisern sparen, danach an der höheren Fachschule Versicherung den Studiengang Diplomierte Versicherungswirtschafterin HF belegen. Aber die drei Semester kosteten ein kleines Vermögen, weshalb sie hoffte, ihre jetzigen oder zukünftigen Vorgesetzten würden sich beteiligen, wenn sie sich tüchtig einsetzte. Schließlich kam die Weiterbildung dem Unternehmen zugute.
Als Einzelkind hatte Sandra sich stets einen älteren Bruder gewünscht, einen starken Kameraden, der ihr auch in brenzligen Situationen beigestanden hätte. In den zehn Monaten Zusammenarbeit wurde der drei Jahre ältere Juniorchef für sie fast zum großen Bruder, wenn auch einem eher leichtsinnigen.
Er verwöhnte sie ab und zu mit Aufmerksamkeiten: hier ein paar Pralinen, dort ein süßes Plüschtier oder einen hübschen Stein mit einem sinnigen Spruch darauf. Das war seine Art, ihr zu zeigen, wie zufrieden er mit ihrer Arbeit war. Herr Röhricht machte offensichtlich gern Geschenke. Seit er herausgefunden hatte, welche Speisen sie am liebsten aß, schob er sogar die eine oder andere Delikatesse von seinem auf ihren Teller rüber: ein Charakterzug, den sie ihm nicht zugetraut hätte.
Dieser Donnerstagabend Ende August sollte jedoch einen unerwarteten Verlauf nehmen.
Alexander Röhricht führte seine beiden Begleiterinnen in ein bekanntes argentinisches Steakhaus, das zu dieser frühen Stunde fast menschenleer war. Er wies ihnen einen der besten und größten Tische zu.
Dem Kellner, der ihnen wild gestikulierend folgte, steckte er einen gefalteten Geldschein in die Brusttasche. Was bewirkte, dass die Redeflut, zu der der Mann angesetzt hatte, diesem im Hals steckenblieb und seine abwehrend erhobenen Hände sich zu einer herzlichen Willkommensgeste ausbreiteten.
»Selbstverständlich ist dieser Tisch noch frei, meine Herrschaften!«, verkündete er stattdessen, deutete eine Verbeugung an und wischte eifrig mit seiner weißen Stoffserviette über das rotweiß karierte Tischtuch.
Herr Röhricht half Laura Massa aus der Jacke, wobei seine Finger ungebührlich lange auf ihrem gebräuntem Nacken ruhten. Sandra traute ihren Augen kaum, als sein Daumen sinnlich über die bloße Haut seiner schwarzhaarigen Kundin strich.
Lauras giftgrüne Augen tauchten vielversprechend in seine strahlend blauen, die einen eindeutig hungrigen Ausdruck annahmen.
Na Emma! Dein Mann hat wohl nicht nur Appetit auf Nahrung ... Na warte, Chef, dich nehme ich heute aus wie eine Weihnachtsgans, ich bestelle das teuerste Gericht auf der Karte.
Und Sandra orderte ein gegrilltes Rinderlendensteak Größe XXL, medium gebraten, und aß es auf, obwohl sie vom Kauen beinah einen Kieferkrampf bekam. Dazu kombinierte sie Maiskolben und Folienkartoffeln mit Kräuterfrischkäse. Zuvor knabberte sie einen knackigen Salat an einer pikanten Soße. Während das Lokal sich füllte, nippte sie brav an ihrem Mineralwasser. Zeitgleich becherte ihr Chef zwei Flaschen Wein mit Frau Massa, unter schmachtenden Blicken, zweideutigen Bemerkungen und mehr oder minder verstohlenen Gesten.
Sandra wusste kaum noch, wo sie hingucken sollte, offensichtlich wären die beiden lieber mit sich alleine. Wie das sprichwörtliche fünfte Rad am Wagen kam sie sich vor. Verlegen wandte sie den Blick ab und sah sich im rustikal eingerichteten Raum um, tapfer gegen ihre widersprüchlichen Gefühle ankämpfend.
Okay, ihr Chef war ein Frauenheld, das wusste sie, seit sie ihm zum ersten Mal begegnet war (damals hatte er sofort mit ihr geflirtet!).
Okay, gegen weibliche Reize war er nicht immun.
Okay, Treue schien nicht seine Stärke zu sein ...
Aber – sie richtete sich kämpferisch im Stuhl auf – aber musste er deswegen ausgerechnet vor seiner (fast) unschuldigen, (ziemlich) unerfahrenen Assistentin diese schamlose Laura mit seinen Blicken vernaschen und dazu sexistische Anspielungen machen? Was von seiner Kundin mit gurrendem Lachen und einem filmreifen Klimpern ihrer falschen Wimpern quittiert wurde.
Nein, das ging zu weit, fand sie, und schüttelte sich den Frust von der frierenden Seele.
»Ober, einen Liter Sangria mit drei Gläsern!«, rief Herr Röhricht auf einmal lautstark über die inzwischen voll besetzten Tische hinweg.
Reflexartig wandte sie verneinend den honigblonden Schopf zu ihm. Bevor sie Pieps sagen konnte, brüllte er:
»Keine Widerrede, Frau Becker, wenn der Chef was befiehlt, hat die Sekretärin zu gehorchen!«
Sie zuckte zusammen und bedachte ihn mit einem finsteren Blick, was dem lüsternen Kerl nicht mal auffiel. Vorsicht, ich bin heute schon besser ausgebildet – und werde in spätestens drei Jahren das höhere Gehalt haben als du, schwor sie sich aufgebracht. Von wegen Sekretärin. Nur weil sie ein Praktikumsjahr zwischengeschaltet hatte? Ein Allrounder-Talent in der Versicherungsbranche sei sie, schier unentbehrlich für ihre Vorgesetzten, wurde Eric Freiburg nicht müde zu betonen. Der Senior hatte ihr ja bereits einen rentableren Posten in Aussicht gestellt.
Um weiteres Aufsehen zu vermeiden, kostete sie von der Sangria und fuhr sich genießerisch mit der Zungenspitze über die Lippen. Mhm, schmeckte lecker! Sie mochte zwar keine alkoholhaltigen Getränke, aber diese eine, fruchtig-süße Variante schon. Bald ließ sie sich ein zweites und drittes Glas einschenken, was bewirkte, dass die Situation mit ihrem Chef und dieser Schlange Massa erträglicher wurde, und sie sich zu entspannen begann.
Leicht beschwipst wie sie war, glaubte Sandra zu träumen, als sie auf einmal Gitarrenklänge hörte und gleich darauf warme, einschmeichelnde Männerstimmen einsetzten. Spanische und mexikanische Liebeslieder erfüllten den Raum:
»La Paloma; Cielito Lindo ...«
Wie durch einen Schleier sah sie eine Musikergruppe durch das Lokal schlendern: die Hüte in den Nacken geschoben, bekleidet mit exotisch anmutenden, silbern bestickten, schwarzen Hosen und kurzen Bolero Jacken.
Die Männer kamen näher heran und umstanden nun ihren Tisch, die Gitarre lässig über die Schulter gehängt; es schien fast, als spielten und sängen sie nur für sie, die kleine achtbare Assistentin ihres jungen, weniger achtbaren Chefs, der möglicherweise ein ziemlich ausschweifendes Leben führte.
Bewundernde Blicke verweilten auf ihr.
Auf ihr? Unmöglich! Sandra sah sich verstohlen um, doch hinter ihr war nur die mit Korken und leeren Weinflaschen dekorierte Wand. Sie duckte sich in ihren Stuhl und trank einen kräftigen Schluck Sangria. Dann schloss sie die Augen und öffnete sie blinzelnd wieder, doch das schillernde Bild blieb. Ihr Herz klopfte auf einmal stürmisch in der Brust. Sie achtete nicht mehr auf die beiden Turteltauben ihr gegenüber, die nun ihrerseits interessiert das Geschehen verfolgten.
Ein verträumter Ausdruck trat in Sandras Miene, als ihr Blick in einem der feurigen, dunklen Augenpaare vor ihr versank. Ihre Lippen öffneten sich sehnsüchtig, sie merkte nicht mal, dass sie seit Sekunden den Atem anhielt. Wie gebannt hingen ihre graublauen Augen an dem attraktiven Mann, der allein für sie zu singen schien, und nun lebhaft vor ihr mit den Füßen zu trippeln und stampfen begann.
Die anfeuernden Rufe der Gäste und rhythmisches Händeklatschen begleiteten den stolzen Flamencotänzer, der sich noch immer ganz auf Sandra konzentrierte. Sein schwarzes Hemd mit der bis zur Brust offenen, rüschenbesetzten Knopfleiste glänzte mit seinen stufig geschnittenen, langen Haaren um die Wette.
Etwas in Sandra brach sich Bahn, während sie sich diesem berauschenden Moment hemmungslos hingab. Sie lehnte sich leicht nach vorne, um der faszinierenden Darbietung besser folgen zu können. Bis ihr bewusst wurde, dass sämtliche Besucher des gut besuchten Lokals in ihre Richtung spähten. Sie stieß einen erschrockenen Laut aus und legte schützend die Hände an ihre heißen Wangen.
Kaum war die Musik verhallt, verneigte der fesche Tänzer, den sie auf Mitte dreißig schätzte, sich vor ihr, was ihr einen Lavastrom durch die Adern jagte. Wie durch einen Dunstschleier vernahm sie die amüsierte Stimme Herrn Röhrichts.
»Ober, einen Liter Sangria und fünf Gläser für diese Herren!« Er wandte sich an die Musiker und sagte im gebieterischen Ton: »Ihr trinkt doch ein Glas mit, oder?«
Der ältere der Gruppe, ein stämmiger Mann mit grauschwarzem Haar und einem silbernen Backenbart, wischte sich über die feuchte Stirn, schüttelte bedauernd den Kopf und ergriff den Arm des Flamencotänzers.
»Lo siento, señor, aber wir müssen weiter, nicht wahr, Ramón!«, drängte er.
Herr Röhricht stand auf, die kleiner gewachsenen Männer mühelos überragend. »Keine Widerrede, ein paar Minuten habt ihr bestimmt übrig!« Er nötigte sie beinahe, sich zu ihnen zu setzen und wollte unbedingt mit ihnen anstoßen.
Man könnte glauben, der Chef habe geahnt, dass die Spanier herkommen, dachte Sandra, oder warum sonst hat er ausgerechnet diesen Tisch gewählt?
Diego, Javier, Pedro, José stellten die Männer sich Sandra vor und prosteten ihr zu: » Salud! Gesundheit!«
Sie konnte sich ihre Namen nicht merken; nur den des leidenschaftlichen Tänzers Ramón, der eine Fieberwelle nach der anderen in ihr auslöste.
»Salud, mi guapa!«
Unter seinen streichelnden Blicken und süßen Schmeicheleien blühte Sandra auf wie eine Rose. Sie prostete Ramón zu, prostete seinen Landsleuten zu, ihrem Chef und sogar der leichtfertigen, viel zu stark geschminkten Laura Massa, deren Augenfarbe ein noch giftigeres Grün angenommen hatte.
Mit trotzig gerecktem Kinn hielt Sandra ihrem Blick stand. Wusste diese Frau nicht, dass ihr Chef verheiratet war, oder war es ihr egal?
Nachdem sie weitere Lieder und Tänze für die Gäste aufgeführt hatten, lud Alexander die Musiker ein, sie ins Casino zu begleiten.
»Aber ...«, fuhr Sandra auf, doch ein Blick von ihm genügte, um sie kraftlos zurücksinken zu lassen. Sie hatte sowieso keine Wahl, denn ohne Herrn Röhricht kam sie nicht nach Bern zurück. Wann das sein würde, wagte sie sich nicht auszurechnen. Sie wusste nur, dass sie beide in wenigen Stunden in der Berner Kanzlei erscheinen sollten – und zwar diensttauglich.
Also hieß es: mitgehangen, mitgefangen.
Alexander spendierte seinen Begleiterinnen einige Jetons, die sie binnen Kurzem verspielt hatten. Dazu ließ er den Champagner sprudeln wie ein russischer Großfürst.
Entgegen ihrer vorsichtigen Art trank Sandra Glas um Glas leer, bis sie Sterne vor ihren Augen flimmern sah. Sie ließ sich von diesen warmen Männerstimmen und den südländischen Klängen der Band einlullen, die hier weiterspielte.
Da er natürlich bemerkt hatte, wie hingerissen Ramón und Sandra voneinander waren, lud Alexander sie alle anschließend in ein Tanzlokal ein. Während er selbst sich mit Laura Massa vergnügte, wiegte seine Assistentin sich so eng umschlungen mit diesem Ramón, als seien sie ein Liebespaar.
Sieh an, meine kleine, kühle Sekretärin kann auch anders, dachte er beinahe liebevoll und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie sie mit zarten Fingern die vollen dunklen Haare ihres Tanzpartners kraulte. Dabei blickte sie so schwärmerisch unschuldig zu diesem Ramón auf, dass Alexander Mühe hatte, sich auf Laura zu konzentrieren, deren geübte Zunge seine Lippen umspielte.
»Du bist einfach unwiderstehlich süß, mi guapa!«, raunte Ramón Sandra zu. Er zog sie etwas näher an sich und musste sich beherrschen, um nicht auf der Stelle ihre vollen Lippen zu kosten. Sandras verführerische Rundungen, ihre Mischung aus hingebungsvollem Eifer und keuscher Unschuld raubten ihm beinah den Verstand.
Madre de Dios, reiß dich zusammen, Ramón!, ermahnte er sich, wohin soll das führen? Sie ist noch so jung!
Er war fast erleichtert, als die Hand seines Schwagers und besten Freundes sich auf seine Schulter legte.
»Wir sollten wirklich aufbrechen, Ramón!«, erinnerte Diego ihn mit besorgter Miene.
Das brachte ihn auf den Boden der Tatsachen zurück. Ein pikantes Abenteuer in Diegos Gegenwart kam nicht infrage. Sowas machte man ganz diskret, ohne dass die Familie es mitkriegte.
»In Ordnung, geht schon mal vor zum Wagen, ich komme gleich nach!«, versprach er heiser. Bedauernd löste er sich von der jungen Frau in seinem Arm und führte sie aus dem Raum, hinter einen blühenden Pflanzenkübel, um sich von ihr zu verabschieden.
Endlich standen sie sich unbeobachtet gegenüber.
Sandra überhörte die leise warnende innere Stimme, als sie sich plötzlich in einer innigen Umarmung mit Ramón wiederfand. Sie war überzeugt, den Mann fürs Leben gefunden zu haben, und erwiderte seine Küsse voller Leidenschaft.
Er hatte ihr erklärt, dass er und seine Freunde im Norden der Costa Blanca lebten. Jedes Jahr in den Sommermonaten reisten sie zusammen durch die Schweiz und angrenzende Länder, die restliche Jahreszeit verbrachten sie in ihrem Heimatland Spanien.
»Wie lange bist du denn noch hier?«, fragte sie ihn atemlos, als sie sich voneinander lösten.
»Wir treten morgen nochmal auf, danach fahren wir weiter. Die Saison ist schon bald zu Ende!«
Sandra erschrak. Dann würde sie ihn womöglich nie mehr wiedersehen? Das konnte sie nicht zulassen. Sie versuchte ihn zu überzeugen, dass sie, dass er ...
»Bleib doch diese Nacht hier, bei mir!«, schlug Ramón plötzlich mit aufleuchtendem Blick vor. »Wir bummeln zusammen durch die Stadt und am Seeufer entlang.« Er zog sie ganz fest in seine Arme und hauchte kleine Küsse auf ihren zarten Hals. »Wir haben erst am Nachmittag wieder Auftritte.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das geht leider nicht. Ich muss mit Herrn Röhricht zurück, weil ich morgen früh arbeite«, seufzte sie. Sie hatte das schreckliche Gefühl, in ein endloses Loch zu fallen, wenn sie sich jetzt von Ramón trennen müsste.
Plötzlich hatte sie die rettende Idee. Ein Einfall, der ihr im Normalzustand nie in den Sinn gekommen wäre, wie sie sich später kleinlaut eingestand. Zumindest hätte sie diese Ungeheuerlichkeit nicht noch ausgesprochen, doch im Moment gab es nichts Wichtigeres für sie:
»Fahr du doch mit uns, dann können wir die ganze Nacht beisammen sein!«
Ungläubig schüttelte Ramón den Kopf.
»Wie stellst du dir das vor, wir treten doch morgen wieder auf, ich kann meine Gruppe nicht verlassen.«
»Ach komm, für einmal«, schmeichelte sie mit Augen und Lippen. »Deine Freunde haben doch Verständnis für zwei frisch Verliebte, wie wir es sind.« Zart strich sie über seine Wangen und küsste ihn erneut so unschuldig und aufreizend zugleich, was seine Sinne aufwühlte.
Verzehrende Glut stieg in Ramón auf, er wünschte sich nichts sehnlicher, als sich mit der anschmiegsamen jungen Frau zu vereinen. Die Aussichten standen gut. »Und wie komme ich morgen wieder zurück?« Seine Stimme klang rau vor Leidenschaft.
Das freudige Aufblitzen ihrer Augen beseitigte die letzten Zweifel in ihm. »Kein Problem, die Busstation ist ganz in der Nähe meiner Wohnung, in wenigen Minuten erreichst du den Berner Bahnhof. Innerhalb einer knappen Stunde bist du hier.« Sie senkte die Lider vor seinem forschenden Blick. Das war etwas vereinfacht dargestellt, doch er musste ja erst am Nachmittag wieder auftreten, oder?
»Dein Chef wird mich kaum mitnehmen wollen«, warf Ramón zweifelnd ein.
»Wetten, dass?« Sie fasste nach seinem Handgelenk und zog ihn mit sich. Spähte nach Alexander aus, der in einer Ecke des Lokals ungeniert heftig mit Frau Massa rummachte. Sie schob den fiesen, kleinen Stich in ihrer Herzgegend bei diesem Anblick auf den übermäßigen Alkoholgenuss. Bestimmt hatte sie deswegen Magenschmerzen, weshalb sonst?
»Herr Röhricht, Sie haben doch nichts dagegen, wenn Ramón nachher auch mit uns fährt, nicht wahr?«, fragte sie ihn honigsüß.
Ihr Chef guckte nun doch ein wenig überrascht aus dem bügelfreien, halb aufgeknöpften Hemd, in dem Frau Massas unersättliche Finger steckten. Er löste sich aus der Umklammerung der Dame und fuhr sich durch das zerwühlte Haar. Seine geröteten Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.
»Mitfahren ... bis wohin denn?«, fragte er gedehnt.
Sandra lachte hell auf. »Na wohin wohl, zu mir nach Hause natürlich«, gluckste sie.
Alexander warf ihr einen abschätzenden Blick zu. Seine Assistentin glühte ja vor Erwartung! Sie wirkte viel gelöster und strahlte etwas leicht Verruchtes aus. Ein anerkennendes Lächeln glitt über sein Gesicht. Die Kleine hatte was ... aber das hatte er schon beim ersten Sehen erkannt.
Sie sollte sich öfter ein, zwei Gläser gönnen, dachte er im Stillen. Aber was sollte der Unsinn mit Ramón, den sie seit gerade mal fünf Stunden kannte? Wollte sie den etwa abschleppen?
»Arbeitet er denn heute nicht?«
»Doch schon, aber das haben wir alles geklärt«, verkündete Sandra strahlend. »Also, darf er nun mit oder nicht?«
»Meinetwegen!«, brummte Alexander, unangenehm berührt von der überraschenden Anwandlung seiner Angestellten. »Dann wollen wir mal. Ober zahlen!«, rief er durch den Raum.