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Kapitel 5 – Irrfahrt ins Ungewisse

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Ramón Luis saß auf dem Rücksitz eines Cabrios der Luxusklasse, eine junge, honigblonde Frau im Arm, die seine Küsse hingebungsvoll erwiderte. Obwohl die Zuwendung seiner Begleiterin sein Blut in Wallung brachte, war seine Körperhaltung unnatürlich angespannt und seine dunklen Augen starrten auf die nächtliche Szenerie vor sich.

Das Wetter hatte umgeschlagen. Das Licht der Nebellampen der wenigen Fahrzeuge, die zu dieser späten Stunde noch unterwegs waren, spiegelte sich im nassen Asphalt. Heftiger Regen trommelte an die Fenster und auf das Wagendach. Die Scheibenwischer schoben die Wasserflut unermüdlich hin und her, bevor sie sich über das Fahrgestell auf die Straße ergoss. Die viel zu schnell rotierenden Räder des Cabriolets sprengten das Wasser wie Gischt an den tiefen Wagenseiten hoch. Links und rechts rasten Häuser, Bäume und Leitplanken an Ramón vorbei, dessen Gedanken sich im Kreis drehten:

Madre de Dios, bitte lass uns möglichst schnell und heil dort ankommen, wo wir ankommen sollten, wo immer das sein mag. Und lass diesen betrunkenen Irren am Steuer zumindest ansatzweise wissen, was er tut, betete er so eindringlich wie seit Jahren nicht mehr. Während zärtliche Finger durch sein welliges, langes Haar glitten, wurden die an ihm vorbeirasenden Schatten verdrängt von seinen düsteren Zukunftsvisionen:

Carmencita, seine schnell aufbrausende, wunderbare Ehekameradin, jammerte laut an seinem offenen Grab; ihre beiden Söhne klammerten sich mit verstörten Gesichtern an ihren Rockzipfel. Die Kleinste, Ramona, fast ein Baby noch, drückte das Köpfchen an die Schulter ihrer Mutter, um dem trostlosen Anblick um sie herum zu entgehen.

Analena, seine alte, gramgebeugte Mutter, betete mit gebrochener Stimme das Ave Maria, im Chor mit den übrigen Verwandten und den Dorfbewohnern, die an seinem Begräbnis teilnahmen. Bei dieser Vorstellung fuhr ein messerscharfer Stich durch Ramóns Brust. Nie zuvor war ihm so klar geworden, wie viel seine Familie ihm bedeutete. Wenn er sie nun verlieren würde? Aus Leichtsinn, weil er dem unerwartet heftig entflammtem Verlangen nach der entzückenden Frau in seinen Armen nachgegeben hatte?

Wie hieß sie noch? Elsa? Petra? Ach ja, Sandra!

Mit ihren voll erblühten Rundungen war sie mehr als eine Sünde wert. Beim Tanzen hatte sie ihn beinahe um den Verstand gebracht. Die träumerischen Blicke aus ihren großen, graublauen Augen hatten Erinnerungen an seine Jugendzeit in ihm geweckt. Etwas an Sandra erinnerte ihn an seine erste Liebe mit vierzehn, also vor rund zwanzig Jahren, die er nie ausleben durfte. Doch eines wurde ihm hier und jetzt schmerzhaft klar: Keine Frau der Welt, und sei sie noch so bezaubernd jung und voller erotischer Ausstrahlung, war es wert, dass er für sie sein Leben und das Glück seiner Familie aufs Spiel setzte! Hoffentlich kam seine Einsicht nicht zu spät.

Er stöhnte auf, es klang wie das Ächzen eines verwundeten Tieres. Wie war er bloß in diese ausweglose Situation hineingeschlittert?

Berauscht von seiner vermeintlichen Leidenschaft, schmiegte Sandra sich enger an Ramóns Brust. Ihre Zunge umschmeichelte seine Lippen, erforschte seine warme Mundhöhle, spielte lustvoll mit ihm. Zärtlich streichelten ihre Fingerspitzen über die stoppeligen Wangen, glitten an den Schläfen entlang, fuhren sacht über seine weit geöffneten Augen.

Langsam entzog der Mann sich ihr und richtete sich auf.

Es dauerte, bis Sandra erfasste, dass Ramón nicht sie sondern die nächtliche Autobahn vor ihnen fixierte. Wie durch einen Nebelschleier vernahm sie seine beklommene Stimme. Ramóns Frage in holprigem Deutsch kämpfte sich durch den ungewohnt hohen Alkoholpegel in Sandras Blut, bevor sie in ihr Bewusstsein drang:

»Sag mal, ist er wirklich dein Chef?« Ramón nickte in Richtung des stattlichen, dunkelblonden Mannes am Steuer, der weinselig und mit kräftiger Stimme die alten Schlager mitsang, die aus allen Richtungen von den Lautsprechern hallten.

Sandra blinzelte verwirrt. »Wer, Herr Röhricht? Ja klar, warum?«

Ramón zuckte mit den Schultern. Er hatte eher den Eindruck, die beiden seien ein Liebespaar, das zwischendurch süße Früchte aus fremden Gärten naschte. Doch das behielt er besser für sich.

»Rast er immer so? Kannst du ihm mal sagen, er soll langsamer fahren? Am Ende landen wir alle drei in einer Klinik statt in Bern.« Oder sonst wo, ergänzte er für sich, wenn der Typ auch noch ständig zu uns nach hinten peilt.

Erst jetzt bemerkte Sandra die angespannte Körperhaltung ihres Begleiters. Der arme Mann war einer Panikattacke nahe. Eigentlich verständlich, wenn man ihren Chef nicht kannte.

»Herr Röhricht«, rief sie durch das Musikgetöse nach vorne. »Schalten Sie bitte mal einen Gang runter, Ramón hier fühlt sich nicht wohl!« In beruhigendem Ton murmelte sie ihm ins Ohr:

»Keine Sorge, mein Chef ist vermutlich auf der Autobahn zur Welt gekommen, denn er könnte sogar im Schlaf noch sicher lenken. Ich bin ein vorsichtiger Typ, aber seinen Fahrkünsten vertraue ich blind.« Lustvoll knabberte sie an Ramóns Ohrläppchen, das ihr gerade unbeschreiblich sexy vorkam.

Ihr Begleiter atmete schneller, runzelte jedoch die Stirn. Wie würde er Sandras Zärtlichkeiten genießen, wenn sie beide allein und an einem sicheren Ort wären! Doch so? Er verfluchte seine Leidenschaft, die ihn in diese Situation geführt hatte. Ramóns Blut raste so schnell durch seine Adern wie das Fahrzeug, in dem er saß – und dessen verrücktem Lenker er sich ausgeliefert hatte – über die Autobahn flitzte. Idiot, der er war!

Er stupste die vor sich hin trällernde Frau an. »Wie lange dauert es noch bis wir bei dir sind?«

»Hm?« Sandra schreckte aus ihrem wohligen Dämmerzustand auf und sann über Ramóns Frage nach. »Eine halbe Stunde?«

Gepeinigt schloss Ramón die Lider. Er konnte dem drohenden Unheil nicht länger ins Auge sehen und griff nach dem Instrument, das er zuvor mühsam verstaut hatte.

Herr im Himmel, wenn ich dieses Abenteuer heil überstehe, dann verspreche ich dir, dass ich meiner Carmencita ein ganzes Jahr lang treu sein werde. Wenn's sein muss, sogar zwei. Und dass ich mich nie, nie wieder auf eine solche Irrfahrt einlasse! Seine Fingerspitzen glitten über das glatte Holz der Flamencogitarre, zupften an den Saiten, entlockten ihnen Klänge der Sehnsucht.

»Cucurucucu paloma...«, setzte seine warme Stimme ein.

Alexander Röhricht, der trotz Sandras Bitten weder die Geschwindigkeit noch die Lautstärke gedrosselt hatte, stimmte erstaunlich harmonisch in Ramóns Gesang ein. Für die Ängste seines gepeinigten Mitfahrers hatte er keinerlei Gespür. Er hatte schon mehr intus gehabt als ein paar Flaschen Wein oder eine Reihe von Cocktails. Das war ein vertrauter Bewusstseinszustand für ihn und viel leichter zu ertragen, als die Erinnerungen und die Gedanken, die ihn überfielen, wenn er nüchtern war.

Exzessiven Alkoholgenuss war er, der sich früh von seinen Eltern abgenabelt hatte, seit seinem zwölften Lebensjahr gewöhnt. Danach hatte er mehrere Drogenarten ausprobiert, doch diese waren ihm schlecht bekommen. Seit er Eric Freiburg versprochen hatte, kein Rauschgift mehr anzurühren, hatte er sich daran gehalten. Alkoholkonsum hingegen schien für Eric einen ganz anderen Stellenwert zu haben, denn er animierte ihn eher dazu, als ihn davon abzuhalten.

Der Sportwagen schlingerte auf der nassen Fahrbahn, als Alexander einen Kleinbus überholte, der seit mindestens einer halben Minute gemächlich vor ihnen dahin ruckelte. Er hasste es, wenn die Autobahn verstopft war. Die Leute sollten vorwärts machen oder besser gleich auf der Landstraße bummeln, wenn sie nicht fähig waren, mit seinem Tempo mitzuhalten!

Schließlich drehte er die Musikanlage ab, um Ramóns melancholischen Balladen zu lauschen.

Auch Sandra ließ sich davon einlullen. Sie legte den Kopf an die Schulter des Mannes, der ihr Herz im Sturm erobert und dessen Flamenco-Auftritt sie restlos verzaubert hatte.

Wie berauschend seine Darbietung gewesen war!

Irrfahrt bis Liebe

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