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Kapitel 7 – Wunden lecken

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Mit sanften Händen verteilte Nadine Huber eine großzügige Portion Pflegemaske für reife Haut auf das sorgfältig gereinigte Gesicht und das Dekolleté ihrer Stammkundin.

»So, Frau Schmidt, nun denken Sie an etwas Schönes und entspannen Sie sich, während die Maske einwirkt.«

Dora Schmidt seufzte und bewegte sich unruhig auf der Kosmetikliege. »Ach, Nadine, wenn ich mich doch bloß entspannen könnt, aber Sie wissen ja, mein Mann bespricht gerade nochmal seine Geschäftspläne mit dem Versicherungsagenten, den Sie mir empfohlen haben. Diesmal geht’s ums Eingemachte. Wenn das man gut kommt ...«

»Machen Sie sich deswegen keinen Kopf, Frau Schmidt! Ich bin überzeugt, dass Freiburg & Röhricht Ihren Mann ebenso sachkundig beraten werden wie mich.« Während sie leise auf ihre Kundin einsprach, strichen Nadines Finger mit leichtem Druck über deren sorgenvolle Miene und die verspannten Schultern, bis sie an den regelmäßigen Atemzügen erkannte, dass Frau Schmidt eingeschlummert war.

Nadine stellte die Lampe auf Dämmerlicht, erhob sich aus dem Drehstuhl und ging zum Spiegel an der Wand gegenüber. Sie wusste nicht, wie oft sie heute schon nach dem Handspiegel gegriffen und ihr Profil von allen möglichen Blickwinkeln aus betrachtet hatte.

»Aber deine Nase gefällt mir nicht!«, Erics kalte Stimme hallte in ihren Ohren nach und verfolgte sie selbst im Traum noch.

Nie sollte er erfahren, wie sehr diese Bemerkung sie verletzt hatte. Sie war wie in Trance nach Hause gefahren, hatte sich ausgezogen und splitternackt vor den Spiegel gestellt. So kritisch wie seit der Pubertätszeit nicht mehr prüfte sie jeden Zentimeter ihres Gesichts und ihres Bodys. Was sie sah, war eine ausgesprochen attraktive junge Frau: hochgewachsen, schlank, mit einem flachen Bauch, festen Brüsten und Rundungen an den richtigen Stellen. Sie warf ihr langes, goldblondes Haar nach hinten und trat näher an den Spiegel heran.

Ihr forschender Blick begegnete ihren hellbraunen, grün gesprenkelten Augen, deren äußere Winkel leicht schräggestellt waren, was ihr – zusammen mit etwas breiteren Wangenknochen und dem geschmeidigen Gang – eine katzenhafte Ausstrahlung verlieh. Sie hob das Kinn und verzog die vollen, sanft geschwungenen Lippen zum Kussmund.

Na also, alles okay an ihr, mit siebenundzwanzig konnte sie es mit einer Reihe prominenter Schönheiten aufnehmen, oder etwa nicht? Einzig ... einzig die doofe Nase hatte sie bisher bewusst ausgeklammert. Jetzt mutig der Wahrheit ins Gesicht sehen, Nadine, schau hin auf deinen schwachen Punkt, redete sie sich zu.

»Okay, Eric, ich stelle mich den Tatsachen!«

Nase von unten, Nase von oben, von den Seiten und von vorne ... Na ja, nicht gerade die perfekte Form, aber sooo auffällig war sie nun auch nicht.

»Ist ja gar nicht so schlimm, du Blödmann!«, rief sie in die Nacht hinaus. Wenn Eric sie bloß hören könnte. Trotzdem hatte sie seither widerstrebend, wie angezogen von einer magischen Kraft, ihr Profil betrachtet, sobald sie an einem Spiegel vorbeigekommen war.

Ein Blick auf die Uhr brachte sie ins Hier und Jetzt zurück. Sie sollte Frau Schmidt die Maske abnehmen und das Tages-Make-up auftragen. Flink legte sie frische Tücher bereit, goss heißes Wasser in ein Becken und berührte die Schulter ihrer Kundin.

»Na, Frau Schmidt, haben Sie die Maske genossen?«

Die Dame seufzte entrückt, als sei sie soeben aus zauberhaften Träumen erwacht, und sah sie glückselig an. »O ja, es war wundervoll!«, lächelte sie.

Was sie wohl geträumt haben mag?, fragte sich Nadine verwundert. Vielleicht hat sie sich an schöne Erlebnisse aus der Vergangenheit erinnert.

Eine halbe Stunde später reichte sie ihrer Kundin den Handspiegel. »Was meinen Sie, darf der Lippenstift noch etwas stärker aufgetragen werden, oder mögen Sie es heute dezent?«

»Es ist perfekt so, vielen Dank, meine Liebe!«

Nadine nahm der Dame soeben das Kosmetikband ab und lockerte ihr die zerdrückten Haare, als die Türglocke ging. Elastische Schritte näherten sich dem Behandlungszimmer.

»Hallo, ist da jemand? Ich soll Frau Dora Schmidt hier abholen!«, vernahm sie eine dunkle Männerstimme, als auch schon ein anziehendes Gesicht zwischen den Trennvorhängen hervorguckte. Der fragende Ausdruck der stahlblauen Augen wich einem schwärmerischen Funkeln, als sie Nadines erstauntem Blick begegneten.

»Ach, mein Sohn kommt mich ja heute abholen, wir wollen in der Stadt Mittagessen.« Mit jugendlichem Elan schwang sich Dora Schmidt von der Kosmetikliege und übernahm die Vorstellung. »Mein Sohn Bernhard – Nadine Huber, meine liebe, langjährige Kosmetikerin!«

Der junge Mann ergriff Nadines Rechte, schüttelte sie kurz und behielt sie mit sanftem Druck in seiner, während er sprach:

»Bernie für Sie, ich freue mich, Frau Huber! Oder darf ich Sie Nadine nennen? Meine Mutter hat sie öfter lobend erwähnt, Sie sind mir also nicht unbekannt!« Wenn er lachte, bildete sich ein charmantes Grübchen in seinem kantigen Kinn.

Dora lächelte entzückt. Sie hatte sich bereits ausgemalt, dass Bernie Nadines Liebreiz und Schönheit gegenüber nicht gleichgültig bleiben würde. Offenbar war er hin und weg und, wie ein kurzer Seitenblick ihr bestätigte: Auch die junge Frau schien beeindruckt von ihrem Sohn, denn sie dachte gar nicht daran, ihre Finger aus seiner zupackenden Hand zurückzuziehen.

»Bestimmt darfst du sie beim Vornamen nennen, mein Lieber«, mischte Dora sich nun ein. »Wie steht's, kriege ich heute keinen Kuss von dir?« Sie mimte die Gekränkte.

Bernies jungenhaftes Gesicht rötete sich verlegen, was er mit einem fröhlichen Lachen überspielte. Er beugte sich über die Wangen seiner Mutter. »Och Muttchen, beinah wärst du zu kurz gekommen, so ein schlechter Junge bin ich. Hm, du duftest gut!«

»He, nenn mich nicht immer Muttchen, so alt bin ich nun auch nicht«, wehrte Frau Schmidt sich in gespielter Entrüstung.

Amüsiert registrierte Nadine, die bereits das Zimmer aufräumte und für die nächste Kundschaft vorbereitete, den plänkelnden Ton zwischen Mutter und Sohn. Die beiden schienen sich bestens zu verstehen.

»Ich bin gleich soweit, mein Sohn, entschwinde nur noch schnell ins Bad, um meine Frisur zu richten.«

Bernie nutzte die Gelegenheit, Nadines routinierte Handgriffe zu beobachten. Wie anmutig und ohne jede Effekthascherei sie sich bewegte, einfach bezaubernd! Mit wenigen Schritten war er bei ihr, verschwörerisch raunte er ihr zu:

»Sagen Sie, Nadine, kennen Sie vielleicht den Lieblingsduft meiner Mutter? Sie hat bald Geburtstag, und ich möchte ihr gerne einen Flakon davon schenken.«

»Doch ja, Moment, ich zeige Ihnen gleich, welche Produkte Frau Schmidt ...«

»Da bin ich wieder«, erklang deren Stimme vom Gästebad her.

Bernie legte zwei Finger auf Nadines weiche Lippen.

»Pst, wir sprechen später darüber«, konnte er noch flüstern, bevor seine Mutter zu ihnen trat und einen Blick auf ihre Armbanduhr warf. »Halb zwölf. Erwarten Sie heute Vormittag noch Kunden, Nadine?«

»Nein, die nächste Kundin kommt um halb zwei.« Verwundert sah Nadine zu ihr auf. »Weshalb ...«

»Nun, ich dachte, Bernie und ich könnten Sie zum Mittagessen einladen. Natürlich nur, wenn es euch auch recht ist«, fügte sie hinzu. Sie wandte sich an ihren Sohn: »Vielleicht möchtest du deine Mutter lieber für dich allein haben?« Und zu Nadine: »Oder Sie haben schon etwas vor?«

»Nein, überhaupt nicht!«, riefen die beiden wie aus einem Mund, sahen sich verdutzt an und lächelten sich zu.

»Dann ist ja alles klar!« Bernie atmete auf. »Wie lange brauchen Sie denn, Nadine?«

»Wenn ich auch noch kurz ins Bad entschwinden dürfte?«, fragte sie schelmisch, hängte ihren fliederfarbenen Arbeitskittel an einen Bügel und eilte davon.

»Aber sicher!«, kam es nun von Mutter und Sohn, was erneut vergnügtes Gelächter auslöste.

Bernie sah sich in dem kleinen, feinen Kosmetiksalon um, der in dezenten Mauve- und Silbertönen eingerichtet war. »Sehr geschmackvolles Ambiente, passt zu Nadine.«

»Das hast du schon herausgefunden?«, neckte ihn seine Mutter.

»Klar doch, starke Farben sind nichts für ihren zarten Typ! Warum hast du mir nicht früher verraten, welch köstliche Blume hier im Verborgenen blüht, ich hätte dich öfter abgeholt«, frotzelte er.

Dora gab ihm einen zärtlichen Nasenstüber. »Hab ich doch, aber du hast nur mit einem Ohr zugehört; selber schuld, mein Lieber!«

Nadine kam aus dem Bad und schlüpfte in ihre Pumps. »Wenn Sie mögen, können wir gehen.«

»Bitte sehr, meine Damen!« Bernie hielt den Damen dienstbeflissen die Tür auf.

»Danke sehr, mein Herr!« Nadine machte eine betont gnädige Kopfbewegung in seine Richtung. Im Stillen verglich sie Bernies und Erics Verhalten miteinander: Eric behandelte sie wie ein Sexhäschen, nannte sie auch ständig Häschen – oder sogar Luder – fiel ihr soeben ein. Wie sexistisch von ihm!

Bernie hingegen war aufmerksam und so ritterlich zu ihr, als wäre sie eine Kronprinzessin. Seine Bewunderung legte sich wie Balsam um ihre geschundene Seele. Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und schritt beschwingt neben ihm zum Auto.

Irrfahrt bis Liebe

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