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Kapitel 8 – Zarte Bande
ОглавлениеSandra saß zappelig an ihrem Schreibtisch und fixierte die Eingangstür schräg gegenüber, wo vor gut dreißig Minuten Alexander Röhricht hätte auftauchen sollen. Im Kalender hatte sie eine Erstbesprechung mit einer neuen Kundin eingetragen.
Da Herr Freiburg sich abgemeldet hatte, blieb nur der Junior übrig. Der hatte sich zwar als nahezu trinkfest erwiesen, doch solche Unmengen wie am vergangenen Abend setzten sicher auch ihm zu. Er hat viel mehr getrunken als ich, am Ende liegt der gute Mann noch im Bett und schnarcht selig vor sich hin, das wäre ein Fiasko!
Denn Frau Dr. Lotte Eberhard war pünktlich erschienen. Sie wollte demnächst eine Praxis für Kleintiere eröffnen und erwartete kompetenten Rat, welche Versicherungen sie dafür benötigte. Insbesondere läge ihr daran, sich vor allfälligen Haftpflicht- und Schadensersatzansprüchen ihrer Kunden zu schützen, falls mal einer ihrer vierbeinigen Patienten nicht so gedeihen oder genesen sollte, wie dessen Herrchen oder Frauchen es erwartete. Enttäuschte Tierhalter neigten dazu, in solchen Fällen ihren Tierarzt dafür verantwortlich zu machen, hatte die junge Frau ihr erklärt.
Nachdem Sandra ihre Stammdaten und Zusatzinfos im Rechner eingegeben hatte, bat sie Frau Dr. Eberhard, im Besprechungszimmer Platz zu nehmen und schenkte ihr Mineralwasser ein.
Das war über eine Viertelstunde her. Soeben öffnete die junge Frau die Tür und streckte ihren braunen Pagenkopf ins Empfangsbüro. »Ist Herr Röhricht noch nicht eingetroffen?«
Sandra zog die Schultern hoch und verneinte bedauernd.
Was war mit dem Junior los? Seit Wochen war es schier zum Verzweifeln mit ihm. Er schien nicht nur seinen Ehrgeiz, sondern auch jeden Halt verloren zu haben.
»Es tut mir sehr leid, Frau Dr. Eberhard. Ich hoffe, dass ihm nichts passiert ist. Darf ich Ihnen einen neuen Termin vorschlagen?« Sie öffnete den Kalender im Computer und scrollte drei Tage weiter nach rechts. »Wie wäre es mit Montagvormittag? Falls Herr Röhricht bis dahin nicht genesen ist, könnte Eric Freiburg, unser erfahrener Seniorchef, Sie fachkundig beraten.«
Die Miene der neuen Kundin drückte lebhaften Zweifel aus. »Ich frage mich, ob ich hier überhaupt gut beraten bin. Vielleicht sollte ich gleich einen anderen Versicherungsmakler wählen.«
»Geben Sie uns noch eine Chance«, bat Sandra eindringlich, »Kommen Sie Montag um neun, Sie werden er nicht bereuen!«
»Na gut, aber ich warne Sie, wenn es dann nicht hundertprozentig klappt, ist Freiburg & Röhricht bei mir untendurch.«
Wenn der Junior uns noch öfter versetzt, kann ich mir demnächst sowieso einen neuen Job suchen. Tapfer hielt Sandra dem Blick der Dame stand, als sie im bestimmten Ton sagte: »Sie werden uns aus Überzeugung weiterempfehlen, so wie viele Kunden vor Ihnen!«
»Vorsicht, ich nehme Sie beim Wort!« Die Tierärztin hob den Zeigefinger, schlüpfte in ihre Jeansjacke und verabschiedete sich.
Sandra seufzte laut auf und schrieb eine Gesprächsnotiz in die Akte der versetzten Kundin, bevor sie die Datei schloss und die Handynummer vom Juniorchef anwählte.
Tuut, tuut, tuut ...
Auch Herr Freiburg war nicht erreichbar, deshalb sprach Sandra auf seinen Beantworter, er möge sich möglichst bald bei ihr melden, da sein Partner weder im Büro erschienen sei noch sich abgemeldet habe. Schwankend zwischen Ärger und Sorge widmete sie sich ihren übrigen Aufgaben. Es blieb alles an ihr hängen. Bald würde die nächste Kundin auftauchen und ihr die Hölle heiß machen, weil keiner der Chefs anwesend war.
Auf einmal lärmte und polterte es im Treppenhaus, gleich darauf krachte die Tür des altersschwachen Aufzugs gegen die Wand, dass es durchs ganze Haus hallte.
Sandra verzog das Gesicht, als sie ein paar wüste Verwünschungen vernahm. Das klang verdächtig nach Alexander, aber was war mit dem Mann los?
Die schleifenden Schritte kamen näher, die Bürotür wurde aufgerissen und der Junior wankte auf sie zu. Seine geröteten Augen waren eingefallen, aus der Nase floss Blut; sein ursprünglich weißes Hemd und die zu Fäusten geballten Hände waren ebenfalls blutverschmiert.
Entsetzt sprang Sandra auf. »O nein, wer hat Sie denn so übel zugerichtet?«, schrie sie und starrte ihn an.
»Dem hab ich's aber gegeben! Dieser Lars hat eine Lektion gekriegt, die er nicht so schnell vergessen wird«, ächzte Alexander, bevor er wie ein gefällter Baum umfiel.
Einen schrecklichen Moment lang glaubte Sandra, der ungewohnt stille Mann zu ihren Füßen sei tot. Ihre Knie gaben nach, sie begann zu hyperventilieren, schlug die Hand vor den Mund und zwang sich, tief ein- und auszuatmen, um nicht wie eine Besessene loszuschreien. Ihr Puls galoppierte, während sie aufschluchzend vor Herrn Röhricht zu Boden sank.
Was war als erstes zu tun? Wie war das gewesen mit den Fragen bei verletzten Personen?
Atmet er? Sie legte ein Ohr auf seine blutverkrustete Hemdbrust, die sich kraftlos hob und senkte. Ja, also tot kann er noch nicht sein, dachte sie erleichtert.
Blutet er? Na, das konnte sie nur bestätigen. Sie sollte irgendwie sein Nasenbluten stillen. Ob er noch weitere Verletzungen hatte?
Antwortet er? Äh, mal sehen:
»Herr Röhricht, hören Sie mich?«, fragte sie leise, aber eindringlich.
Ein leichtes Zittern seiner geschlossenen Lider antwortete ihr.
»Hallo, Chef, so sagen Sie doch was!«, bat sie, einer Panikattacke gefährlich nahe. Sie tätschelte seine Wangen.
Da ertönte die Türglocke.
Ihre Blicke huschten hilfesuchend hin und her. »Himmel, wenn die nächste Kundin den Junior so sieht, dann kommt Freiburg & Röhricht womöglich in die Klatschspalte der Zeitungen!«
Sie rannte zum Türsprecher: »Sandra Becker.«
»Gesine Lieblich, ich habe einen Termin bei Herrn Röhricht!«
Sandra rang die Hände. Sie musste sich was einfallen lassen, damit Frau Lieblich nicht heraufkam. »Guten Tag, Frau Lieblich, leider musste Herr Röhricht vorhin notfallmäßig zum Zahnarzt.«
Der Verletzte am Boden stöhnte auf.
Rasch legte Sandra die Hand über den Lautsprecher, bevor sie fortfuhr: »Er lässt sich entschuldigen und ruft Sie später an für einen neuen Termin«, fuhr sie laut fort.
»Aber ...«, sagte die Stimme an der Haustür.
»Es tut mir sehr leid, Frau Lieblich, einen schönen Tag noch!«, sagte Sandra fest und hängte den Hörer auf die Wandhalterung zurück. Nach einem kurzen Blick auf den Junior, der immer noch bewegungslos dalag, hastete sie in die Küche, goss Wasser in ein Becken und schnappte sich einige saubere Tücher. Mit fahrigen Händen wühlte sie in der Schublade, wo sie allerhand Kram aufbewahrten.
Herr Röhricht stöhnte und begann zu wimmern.
»Mist, hier muss doch irgendwo dieser blöde Verbandkasten sein. Na endlich!« Sie riss die Sachen an sich und hetzte zurück zu ihm, der bereits in einer kleinen Blutlache lag. Vorsichtig wusch sie sein Gesicht und öffnete den Verbandkasten.
»Wo ist denn diese blutstillende Watte?«, rief sie entnervt, während ihr die Tränen über die Wangen strömten. Mit dem Handrücken wischte sie diese weg, damit sie das Etikett auf den Fläschchen lesen konnte. »Das ist sie!« Sie rupfte von der Watte heraus und schob sacht etwas davon in Herrn Röhrichts Nasenlöcher.
Danach knöpfte sie sein Hemd auf und suchte nach weiteren Wunden. Außer einem faustgroßen blauroten Fleck in der linken Rippengegend fiel ihr nichts auf.
Das Telefon klingelte. Wer ist das nun wieder? Sandra wischte sich die Finger an seinem Hemdzipfel ab und hastete hinüber.
»Hier bei Freiburg & töricht«, verhaspelte sie sich.
»Da haben Sie vermutlich nicht ganz unrecht!« Die tiefe, ruhige Stimme des Seniors drang an ihr Ohr. Sie stieß einen erleichterten Seufzer aus, als Eric Freiburg fortfuhr: »Ist Herr Röhricht noch nicht eingetroffen?«
Plötzlich löste sich Sandras Anspannung in einem Weinkrampf. »Er ... er ist da!«, schniefte sie. »Aber er blutet und ist bewusstlos! Ich glaube, er hat sich mit jemandem geschlagen! Nun ...« Sie schluchzte noch heftiger in den Hörer. »Nun weiß ich nicht, ob ich die Ambulanz rufen soll.«
»Immer mit der Ruhe, Frau Becker, erst wollen wir sehen, ob wir ihn gemeinsam wieder auf die Beine kriegen. Sie wissen doch: Unkraut vergeht nicht!« Herr Freiburg gab ihr in bemerkenswert gelassenem Ton Anweisungen, die sie wie eine Marionette befolgte. Endlich war sie nicht mehr alleine verantwortlich.
»Ich habe vorhin Frau Lieblich gesagt, der Junior habe dringend zum Zahnarzt müssen«, schniefte sie zwischendurch.
»Das haben Sie sehr gut gemacht. Und nun halten Sie mal den Hörer an Herrn Röhrichts Ohr, ich möchte mit ihm sprechen.«
Sie runzelte die Stirn. Wozu sollte das gut sein? Wenn der Junior auf ihre Bitten nicht reagierte, würde er es wohl kaum bei seinem Geschäftspartner tun, oder? Trotzdem tat sie, was er verlangte.
»Hör mir gut zu, Alexander!«, dröhnte Eric Freiburgs eisige Stimme aus der Leitung.
Eine Gänsehaut kroch über Sandras Arme.
»... Wenn du nicht sofort aufwachst, du Idiot, dann schalte ich die Polizei ein. Das wird dich teuer zu stehen kommen, dann bist du nicht nur deinen Führerschein los«, fuhr er beißend fort.
Der Verletzte bewegte sich unruhig, seine bleichen Lider flatterten wie die Flügel eines verängstigten Vogels, als er stöhnend den Kopf abwandte.
»Gut so! Nun öffne die Augen und setze dich auf!«, befahl die gefühllose Stimme.
Sandras Nackenhärchen richteten sich auf, als der Junior wie in Trance die blauen Augen öffnete und sichtlich verstört um sich sah. Er versuchte vergebens, sich aufzurichten, fasste sich an die verletzte Seite und sank ächzend zurück.
»Jetzt sag mir, was du angestellt hast«, herrschte die Stimme des Seniors ihn an, dass er zusammenzuckte
Sandra konnte nicht mehr mit ansehen, wie der arme Mann sich quälte. »Chef, Herr Röhricht kommt langsam zu sich«, murmelte sie in den Hörer, während sie die Hand auf Alexanders Schulter legte. »Aber er ist sehr schwach und hat zu viel Blut verloren, um schon aufzustehen. Ist es Ihnen Recht, wenn ich für heute das Büro schließe, den Junior mit dem Taxi nach Hause begleite und seiner Frau übergebe? Morgen ist hier ja geschlossen, vielleicht übernehmen Sie Luzern alleine, damit er sich bis nächsten Montag erholen kann?«, schlug sie vor.
»Dieser verdammte Hurenbock!« zischte es da aus der Leitung
Entsetzt riss sie die Augen auf. Das musste sie falsch verstanden haben! »Äh, was haben Sie gesagt?«, stammelte sie.
»Ich sagte: Da hat der Mann uns was eingebrockt.« Seine Stimme klang so gefasst, dass sie überzeugt war, sich vorhin verhört zu haben. »Also gut, Frau Becker, sagen Sie die restlichen Termine ab und sehen Sie zu, dass unser Sorgenkind nach Hause kommt. Falls sich sein Zustand verschlechtern sollte, rufen Sie mich sofort an, damit wir das weitere Vorgehen besprechen können. Aber unternehmen Sie absolut nichts, bevor Sie mich darüber informiert haben, geht das klar?«
»Ich ... denke schon ...« bestätigte sie zögernd.
Falls sich Alexanders Zustand rapide verschlechtern sollte, würde sie sicher zuerst die Ambulanz rufen und nicht den Seniorchef – Geschäftsinteressen hin oder her! Am Ende würde man sie sonst wegen unterlassener Hilfeleistung belangen.
Sie war froh, als Herr Freiburg endlich auflegte und sie sich wieder um ihren Patienten kümmern konnte, der seit dem Anruf deutlich angespannter wirkte.