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Ich drehte meinen Kopf zum Nachttisch und sah, dass Mama vor einigen Tagen Mageriten auf unseren Nachttisch gestellt hatte und musterte die eingegangenen Blütenblätter. Das Innere der Blüten war gräulich geworden und hart, die Blumen standen reglos da.

Überhaupt war es sehr still. Ich hörte nicht Mamas Schritte im Flur, ich hörte keine Stimmen von oben oder quietschende Fahrräder, die die Rue de la Valotte herunter rollten, und ich hörte keine Atemzüge neben mir. Meine Augen schweiften zu Chloes Bett. Sie war fort. Das Bettlaken war straff gezogen und die gestreifte Wolldecke sorgfältig darüber gelegt. Das Kissen gerade gerückt und der Bezug ohne Falten darüber gestülpt. Ich konnte noch ihre Hand sehen, wie sie über die Bettdecke fuhr, ich konnte noch ihre leeren Augen sehen, wie sie aus dem Fenster blickten. Ich konnte sie noch riechen und ihre warme Hand in meiner spüren. Ich konnte noch hören, wie sie sprach und wie sie lachte.

Ich sprang aus dem Bett und lief in den Flur. Ich konnte meinen eigenen Herzschlag in meinen Ohren pochen hören. Ich schaute in die Küche und suchte im Wohnzimmer.

Ich guckte vor der Haustür und im Garten, den wir uns mit den anderen Familien teilten. Es war der 24. Oktober und auf der Straße tanzten lauter Blätter im Wind. Es war noch nicht einmal sechs Uhr. Dann lief ich in Mamas Schlafzimmer, um sie zu wecken. Ich rief und rüttelte an ihrer Schulter. Sie drehte sich langsam um und öffnete die Augen. Sie strich mir über den Kopf und fragte mich, was los war. „Sie ist weg“, flüsterte ich. „Chloe!“ Mama stand auf und lief in unser Zimmer, ich tapste ihr hinterher und blieb im Türrahmen stehen. Ihre Augen zuckten über das gemachte Bett, die fehlenden Schuhe im Flur und ihre Hände schnellten zum Schrank. Alle Kleider von Chloe waren weg. Nichts mehr von dem, was ihr gehört hatte, war noch da. Mama hatte immer großen Wert auf Bildung gelegt, deswegen gab es keinen Grund, dass ich die Schule heute nicht besuchen sollte.

Ich griff nach den Schulbüchern auf dem tintenverfleckten Schreibtisch, zog eine Jacke über und lief den Flur entlang. Nachdem ich meine Schuhe angezogen hatte, huschte ich aus der Haustür und lief die Straße herunter.

Ich tat alles, um Chloe wieder zu finden. Ich hatte meinen Kindern immer alles ermöglichen wollen. Ich wusste, dass ich zu viel arbeitete, doch mir war auch jeden Tag bewusst gewesen, dass wenn ich es nicht tat, wir womöglich nicht durchkommen würden.

Seit Madame Renoir gestorben war, hatte ich es gewusst. Ich hatte mit angesehen, wie sie nur noch alleine zu Hause waren. Meistens schliefen sie schon, wenn ich nach Hause kam. Chloe war ein schlaues Mädchen, das hatte ich immer gewusst. Ich zog mein Nachthemd aus und streifte mir ein dunkelblaues Kleid mit runden Knöpfen über. Es hatte einen schönen Rock, der mir bis über die Knie reichte. Der weiße Unterrock guckte mit einer feinen Spitze darunter raus. Ich setzte mich vor meinen Spiegel, kämmte mir die Haare und knotete sie mir am Hinterkopf zusammen. Ich rannte beinahe ins Bad, um mir das Gesicht zu waschen und mir eine Halskette anzulegen. Ich setzte einen Hut auf, zog mir schnell meine abgetretenen Schuhe an, verschwand aus der Wohnung und die Türe fiel hinter mir ins Schloss. Es war windig draußen. Ich strich mir über den Haaransatz und zupfte an dem Kleid herum.

Dann rückte ich meine Kette zurecht und musste grinsen. Ich war stolz auf meinen wenigen, wertlosen und verdreckten Schmuck und zog immer etwas von meiner kleinen Sammlung an.

Ich kam mir so unbedeutend vor und so klein. Ich wusste, es war nicht der richtige Zeitpunkt, um zu lachen. Ich liebte meine Kinder über alles und eines davon war mir verloren gegangen. Ich sollte jetzt wirklich nicht lachen. Dann machte ich einen Schritt auf die Straße und lief zum ersten Nachbarhaus. Ich schritt leise die Treppe hoch und klopfte an die hölzerne Tür. Die Tür wurde geöffnet und eine grauhaarige Frau sah mir ins Gesicht. Ich kannte sie gut und erzählte ihr von meiner Situation. Sie verkündete mir ihr Beileid, doch sagte sie, sie hätte meine Tochter vorgestern das letzte Mal gesehen. So lief es fast bei jedem meiner Nachbarn.

So rannte ich nach beinahe einer Stunde zur Polizei. Der Beamte war ein netter junger Mann mit blonden kurzen Locken und einer Brille. Er war sehr verständnisvoll und versprach mir, dass er und einer seiner Kollegen sich noch heute auf den Weg machen würden, meine Tochter zu suchen. Ich hatte ihm alle Informationen und ein Foto von Chloe gegeben.

Ich nickte und verließ den Raum. So schnell ich konnte, rannte ich nach Hause. Mein Kleid wehte im Wind und Haarsträhnen waren aus meiner Frisur gerutscht.

Ich stolperte in die Wohnung und knallte die Türe hinter mir zu. Ich streifte meine Schuhe ab und warf sie in eine Ecke des Flurs.

Ich senkte meinen Kopf und Tränen stiegen mir in die Augen. Sie rollten meine Wangen herunter und tropften auf den Boden. Ich setzte mich auf die Couch und stützte den Kopf in die Hände. Ich sog Luft ein, legte den Kopf in den Nacken und biss mir auf die Unterlippe. Ich atmete wieder aus und richtete meinen Kopf zum Fenster. Es windete. Immer noch. Und weitere Tränen flossen. Wie ungläubig es auch scheint, doch ich hatte keine Hoffnung, dass ich meine Chloe wieder finde würde. Hat man etwas verloren, etwas Wertvolles, Schönes, so findet man es nicht mehr. Warum sollte man denn auch. Jeder Mensch möchte es und sobald man es aus den Augen verliert, ist es fort. Und Chloe verliert niemand aus den Augen. Ich wünschte, Noel wäre bei mir gewesen. Warum war ich alleine, und ich krallte meine Finger in die Sofalehne, während ich meine Lippen aufeinander presste. Wo war er? Ich blinzelte auf die Uhr, in einer knappen Stunde würde er hier sein. Ich legte mich auf die Seite, meine Haare fielen auf die Sofalehne und ich schluchzte in mich hinein. Der 24. Oktober, der schlimmste Tag meines Lebens, dachte ich.

Auf Wiedersehen, Noel

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