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4. Kapitel

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Da klingelte was! Emma hob den Kopf, rieb sich die Augen. Fast stockfinster war es im Zimmer. Die dunkelroten Vorhänge ließen praktisch kein Licht durch. Wie spät war es wohl? Es klingelte erneut. Das Telefon! Emma sprang von der Schlafcouch hoch, riss den Vorhang auf – draußen war es gleißend hell; der Gebirgskamm, der das Orotavatal nach Westen abschloss, strahlte sie, von der Morgensonne geflutet, an. Ein Blick auf die Armbanduhr verriet: es war nach neun. Sie hatte fast zehn Stunden geschlafen!

Das Telefon klingelte ausdauernd. Es stand in der Diele, auf einer kleinen Kommode aus kanarischer Kiefer, im gleichen Stil beschnitzt wie die Kassette mit den Karten und Briefen, die Emma wieder in den Sinn kamen.

»Si!«

»Fräulein Schneider? Hier spricht Jochen Hollerbeck. Sie haben gestern mit meiner Frau gesprochen. Wegen des Apartments ihrer Großmutter, wenn meine Frau Sie richtig verstanden hat.«

»Ja, das hat sie.« Der Makler, natürlich! »Das ist aber toll, dass Sie so schnell zurückrufen. Entschuldigen Sie, aber ich bin gestern erst auf der Insel angekommen, und da habe ich Ihr Schreiben gefunden. Ich bin noch ein bisschen durcheinander. Ich bin gerade erst aufgestanden.«

»Ouh! Habe ich Sie geweckt? Das tut mir Leid. Aber meine Frau sagte, Sie hätten geklungen, als sei es Ihnen sehr wichtig, dass ich schnell zurückrufe.«

»Ja. Nein. Also: doch, ich bin froh, dass Sie sich melden, das sagte ich ja. Ich muss nur erst noch zu mir kommen.«

»Sie haben ja sicher noch nicht gefrühstückt. Und wenn Sie gestern erst angekommen sind, konnten Sie vermutlich auch noch nicht einkaufen gehen. Wie wäre es, wenn ich Sie zu einem Frühstück einlade, in einer Stunde – oder anderthalb – an der Plaza del Charco?«

»Das ist der Platz am Hafen in Puerto, nicht wahr?«

»Genau. Dort gibt es das Café Océano. Ist nicht zu übersehen, und es kennt jeder. Was halten Sie davon?«

»Was sollte ich wohl davon halten? Sie haben natürlich Recht: ich habe noch nicht gefrühstückt, und ich habe nichts im Haus. Und ich würde gern mit Ihnen über Ihr Kaufangebot sprechen. Ganz unverbindlich«, fügte Emma rasch hinzu.

»Jo Hollerbeck weiß, was Frauen wünschen. Dann also, sagen wir: um elf im Café Océano?«

Uff, dachte Emma: was ist das denn für einer: ›Jo Hollerbeck weiß, was Frauen wünschen…‹ War das noch plumpes Verkäufergewäsch oder schon plumpe Anmache? Egal, sie wollte etwas von ihm, und ein Treffen im Café ließ ihr die Möglichkeit, jederzeit auf Abstand zu gehen. Außerdem hatte sie Hunger.

»Also um elf im Café Océano. Und wie erkenne ich Sie?«

»Keine Sorge: ich erkenne Sie.«

Emma meinte, diesen Satz schon mal gehört zu haben. Von Pedro? Teneriffa schien voller älterer Männer zu sein, die nur auf sie gewartet hatten.

Um elf. Da blieb ihr noch Zeit genug, gründlich zu duschen – oder vielleicht schnell in den Pool zu springen? – und zu Fuß in den Ort zu gehen. Eine halbe Stunde und fast immer am Wasser lang, nach ihrer Erinnerung.

Den halben Weg war sie gestern Abend schon gegangen. Mit den Poloniaks und Frau Hülsenbusch zu »Carmen«. Carmen entpuppte sich als ein kleines, schlichtes, dichtbestuhltes und von deutschen Frührentnern prall gefülltes Restaurant in Punta Brava. Punta Brava, das glich einem Nest voller aneinandergelehnter, unscheinbarer Häuser, die auf einer schmalen Halbinsel standen, um sich gemeinsam, wie untergehakt, der Atlantikgischt entgegenzustemmen. Brava halt: tapfer. An vielen blätterte die Farbe ab, andere waren frisch bemalt. Als lieferten sich Anstreicher und ätzende Brandung einen Dauerwettlauf. In dem das Meer immer vorne lag – und immer vorne liegen würde.

Frau Hülsenbusch hatte einen Tisch reserviert. Wie sich zeigte: den besten Tisch des kleinen Lokals, das vermutlich früher mal eine Wohnung gewesen war. Den einzigen Tisch zwischen Theke und Straße, halb im Freien, aber mit Blick in die Küche gleich hinter dem Tresen. Wo Carmen höchstselbst, eine rührige, wohlbeleibte Mama, alles unter Kontrolle hatte. Und von wo aus sie Frau Hülsenbusch herzlich und lautstark mit Griff über den Tresen begrüßte und einem jungen Mann – ihrem Sohn, ihrem Enkel? – das Kommando gab, ihrer ›guten Freundin‹ und deren Freunden Rotwein, Wasser, Brot und Aioli zu bringen, »en seguida!«, aber hurtig. Der junge Kellner, Frau Hülsenbusch begrüßte ihn als Pablo, rollte stumm eine Papiertischdecke vor ihnen aus, klemmte sie an den Rändern mit Plastiksteckern fest und stellte eine Menagère mit Salz und Pfeffer, Öl und Essig auf den Tisch. Sekunden später standen Wasser und Weingläser daneben, eine Eineinhalbliter-Plastikflasche mit Wasser und eine Glaskaraffe mit hagebuttenrotem Wein. Brot und Knoblauchmajonnaise folgten. »Können wir auch Oliven bekommen?« fragte Emma.

»Una ración de aceitunas. Sofort!« Pablo stellte geschwind eine braune Tonschale voller grünglänzender Oliven auf den Tisch.

Auch alle anderen Tische waren belegt. Man betrachtete einander ungeniert von Tisch zu Tisch. Das machen nur Deutsche, dachte Emma: den Platz im Restaurant als Aussichtsposten auf andere Tische, Teller und Menschen zu begreifen – und das auch offen zu zeigen. Jedenfalls im Ausland. Vielleicht weil sie selbst hier keiner kennt. Glauben sie. Da gibt es keine Peinlichkeit. Aber im übrigen tat sie es ja genauso: alles beobachten, was um sie herum vorging – und sich zu allem eine schnelle Meinung bilden. Aber, rechtfertigte sie sich: sie war schließlich Journalistin! Sie war darauf getrimmt, überall Geschichten zu suchen.

»Carmen macht weit und breit die besten Gambas. Gegrillt oder in Olivenöl mit Knoblauch«, versicherte Frau Hülsenbusch zum dritten oder vierten Mal und fügte diesmal, leiser, sich leicht vorbeugend, hinzu: »Und die Portionen sind groß, die Preise niedrig. Von so einem Preisleistungsverhältnis, wie mein seliger Ulrich zu sagen pflegte, kann man in Deutschland nur träumen. Obwohl die Preise in den letzten Jahren kräftig gestiegen sind. Vor zehn Jahren hätten Sie hier sein sollen! Damals ist das hier unser Stammlokal geworden. Ihre Oma, unsere Doña Ilse, hat es geliebt! Obwohl sie zuletzt gesagt hat, wenn Carmen noch mal die Preise erhöht, müssen wir der Marktwirtschaft zu ihrem Recht verhelfen!« Dabei sah sie Emma geradewegs in die Augen.

Frau Hülsenbusch, Hannelore, man duzte sich seit der Begegnung unterm Gummibaum, war eine rundum rundliche Person. Ein Mensch ohne Ecken und Kanten. Sie strahlte schiere Gemütlichkeit aus und schien immer zu lächeln. Emma war sie gleich bekannt vorgekommen. Aber woher?

Jetzt, am Tisch bei Carmen, nach dem ersten kräftigen Schluck von dem leichten, sehr süffigen roten Wein, fiel es ihr ein: Sie hatte Hannelore Hülsenbusch auf dem Foto gesehen. Dem Gruppenbild im Wald in Oma Ilses Schlafzimmer.

Als Emma das Foto erwähnte, entwich für einen kurzen Moment das Lächeln aus Hannelore Hülsenbuschs weichem Gesicht. »Ach«, seufzte sie: »Wir waren eine tolle Truppe! Wir haben fast alles zusammen gemacht. Und so viel Spaß gehabt! Da im Wald haben wir sogar getanzt! Getanzt! Mitten im Wald! Für mich jedenfalls war es die beste Zeit meines Lebens.«

»War? Wieso war?«

»Nun ja, das Foto muss jetzt vier oder fünf Jahre alt sein. Wir sind zusammen wandern gewesen, haben gepicknickt und ohne Ende gelacht. Und gesungen. Und getanzt. Es war das letzte Mal. In dieser Runde. Inzwischen ist ja nicht nur deine Großmutter gestorben. Von denen, die auf dem Foto zu sehen sind, leben nur noch Herr Seidenschuh, also Pedro, der dich vom Flughafen abgeholt hat, und ich. Alle anderen sind tot, und damals sind wir noch so lebensfroh gewesen! Wir kamen uns so jung vor. Dass wir sterben könnten, das wär uns nicht in den Sinn gekommen. Ich glaube sogar, wenn uns jemand gefragt hätte damals: wir hätten gesagt, dass wir uns unsterblich vorkommen. Jedenfalls kein bisschen krank oder alt. Obwohl das natürlich Unsinn war, damals schon. Je älter man wird, umso schneller altert man, wenn Ihr wisst, was ich meine.«

Johanna Poloniak nickte verlegen. Ihr Mann studierte das nicht vorhandene Muster der Papiertischdecke. Emma starrte Hannelore Hülsenbusch an. Die hatte bei den letzten Worten alle rundum angeblickt. Jetzt schloss sie die Augen – und sah plötzlich sehr, sehr müde aus. Bis sie abrupt das Kinn hob, ihre Augen aufschlug und ihr Lächeln wieder einschaltete. »Aber wir wollen heute doch nicht über Tod und Alter sprechen! Wozu sind wir auf Insel der ewigen Jugend. Vergänglich sei hier nur der Wein! Lasst uns anstoßen! Auf die Jugend. Auf uns!«

Sie haben noch mehrfach angestoßen an diesem Abend. Auf die Jugend, auf die Insel, auf das Wetter, auf den Teide, auf Carmen… Emma hatte sich brav für die gegrillten Gambas entschieden und viel zu pulen gehabt. Dazu gab es kleine Kartoffeln – papas – und ölreiche Soßen, eine grüne, eine rote: Mojos. Und es war nicht bei einem Liter Wein geblieben. Zum Schluss, zum Cortado, hatte Carmen ihnen allen noch einen klebrigen Anislikör aufgedrängt und großzügig eingeschenkt. Emma hatte auch den noch getrunken. Mindestens das war ein Fehler gewesen. Sie spürte ein leichtes, aber mahnendes Pochen hinter den Schläfen. Dabei war sie ganz und gar nicht der Kopfschmerztyp.

Ein Sprung in den Pool würde helfen. Sie schlüpfte in ihren Badeanzug und fand in Oma Ilses Schlafzimmerschrank einen flauschigen weißen Bademantel. Den warf sie sich über, stieg in ihre Flip-Flops und griff sich ein Badehandtuch. Der Schrank lag voller frisch gewaschener Laken, Bettbezüge, Tischdecken, Handtücher, alle akkurat gefaltet; genug Stoff, um fünf Ferienwohnungen auszustatten, dachte Emma.

Der Aufzug transportierte sie im Nu ins Erdgeschoss, ohne dass ihr jemand begegnet wäre, wofür Emma in diesem Moment sehr dankbar war. Im dunkel verspiegelten Aufzug sah sie sich von mehreren Seiten zugleich; der Aufzug der ewigen Jugend, dachte Emma – und der Kopfschmerz nahm zu. Dabei stieg ihr ein seltsamer, irgendwie vertrauter Geruch in die Nase. Rouladen! Es roch nach Rouladen! Mit einem Hauch von Kohl unterlegt. Irgendjemand im Haus musste Rouladen mit Rotkohl kochen, morgens um zehn. Und wie kam die Küchenabluft in den Aufzugschacht, bitte schön? Bevor Emma dieser Frage weiter nachgehen konnte, war der Aufzug schon unten angelangt.

Emmas Erscheinen am Pool fand Beachtung. Zwei ältere Herren zogen ihre Bahnen, in gleichmäßig langsamem Tempo, hin und her. Brustschwimmend, was ihnen die Gelegenheit ließ, genau zu beobachten, wie Emma den Bademantel ihrer Großmutter auf einer grünbespannten Kunststoffliege ablegte, kurz in einer der beiden, nur mit halbhohen Klapptüren vom Poolgelände abgetrennten Duschkabinen verschwand und dann per Kopfsprung in das Becken tauchte. Eine ältere Dame, die bildzeitunglesend am Beckenrand saß, rief ihr zu, kaum dass Emma wieder Atem geholt hatte und zu kraulen beginnen wollte:

»Hallo, Sie da, junge Frau! Springen ist verboten!«

Emma nickte, machte ein Gesicht, als täte ihr der offenkundige Fauxpas tatsächlich Leid, und begann zu kraulen. Als sie dabei einem der beiden Dauerschwimmer in die Quere kam, blieb der stehen – sehr tief war das Becken an dieser Stelle offenkundig nicht – und sprach Sie an:

»Guten Morgen, junge Frau! Sind Sie neu hier? Herzlich willkommen im Club der Mittelschwimmer!«

Eigentlich wollte sie den Alten ignorieren, aber ihre Neugier siegte, wie immer. Emma stoppte, sah den Mann, der seine Schwimmbrille auf die kahle, mit Altersflecken besprenkelte Stirn geschoben hatte, an und fragte, offenkundig wunschgemäß:

»Wieso Mittelschwimmer?«

»Weil es hier Frühschwimmer gibt, junge Frau, die immer gleich im Morgengrauen eisern ihre Bahnen ziehen, bei jedem Wetter, und die Plantscher. Das sind die, die am Nachmittag hier sonnenbaden und sich gelegentlich abkühlen. Und dann gibt es noch uns, meinen Freund Fred und mich.« Er deutete mit dem Kinn zu dem anderen Alten hinüber, der weiter ruhig vor sich hinschwamm, Emma jetzt aber immerhin zublinzelte. »Wir sind die Mittelschwimmer und um diese Zeit hier eigentlich immer allein. Wenn Frau Lensing sich nicht entschließt, uns Gesellschaft zu leisten.« Er nickte zu der Bildzeitungsleserin hinüber.

»Ich heiße Karl. Freunde nennen mich Carlos. Für Sie also: Carlos.«

Carlos streckte ihr seine nasse Pranke entgegen. Emma sah keine Möglichkeit, ihm den Händedruck zu verweigern. Ganz falsch! Carlos hielt ihre Hand ein paar Sekunden fest – ziehen half nicht – und bemerkte:

»Sehr schöne Hände haben Sie! Die Hände einer Pianistin. Enttäuschen Sie mich nicht: Sie spielen doch Klavier?«

»Nein, ich benutze meine Finger nur zum Schreiben und um in der Nase zu pulen.«

Bevor Carlos den nächsten Schleim absondern konnte, entzog Emma ihm mit einem heftigen Ruck ihre Hand und tauchte unter.

Als sie zehn Minuten später das Becken verließ, duschte, sich abtrocknete und dabei den Blick hob, fiel ihr auf, dass von mehreren Balkonen Menschen zu ihr herunterstarrten. Einige Köpfe wurden sofort zurückgezogen, als die Gefahr des Blickkontakts bestand. Emma verschwand so schnell wie möglich im Gebäude, Richtung Aufzug, und beschloss, wenn überhaupt, nur noch am frühen Abend schwimmen zu gehen. Wenn die Glotzer vermutlich alle bei Carmen saßen oder Rotkohl mit Rouladen aßen.

Auf dem Weg zur Plaza del Charco – die früher, das hatte sie im Know-how-Reiseführer gelesen, den Namen des Diktators Franco getragen hatte, wie jeder bessere deutsche Platz bis 1945 den des »Führers« Adolf Hitler – war ihr aufgefallen, dass die Stadt sich sehr verändert hatte seit ihrem letzten Besuch. Das fing mit der Straße an, die vom La Palma zur Innenstadt führte. Die hatte sie als enge Holperstrecke ohne Bürgersteig in Erinnerung, gesäumt von wilden Mülldeponien. Vor allem hatte sie eine Baracke direkt am Steilufer vor Augen, von der ein bestialischer Gestank ausgegangen war und wo hinter wackligen Bretterzäunen abgemagerte Hunde kläfften, als würden sie um Hilfe rufen. Ein Hundeasyl. Der Anblick und das Geheul hatten sie tief beeindruckt. Jetzt war davon nichts zu sehen. Auch kein Müll am Straßenrand. Offenbar erst jüngst gepflanzte Palmen steckten den Weg zur Stadt ab. Dort waren die meisten Häuser frisch renoviert, die Bürgersteige neu und geschmackvoll gepflastert. So entsprach Puerto ganz und gar nicht ihrer Erinnerung.

Fast empfand sie es als beruhigend, dass die Plaza del Charco sich offenbar nicht verändert hatte. Jedenfalls sah sie auch in Emmas allmählich wieder aufkeimender Erinnerung – interessant, dachte sie, was sich im Gedächtnis absetzt, gut verborgen, und plötzlich wieder auftauchen kann! – genauso aus wie heute: Ein rechteckiger Platz, umrahmt von belanglosen Gebäuden, dem riesige alte Lorbeerbäume Schatten und Schönheit spendeten. In der Mitte ein Brunnen und ein Spielplatz, am Rand eine Bühne. Da hatte vor zwanzig Jahren, in ihrer Wahrnehmung ununterbrochen, eine chilenische oder sich chilenisch-indianisch gebende Combo El Condor Pasa gespielt, oder ähnliches. Den Panflötenklang hatte sie jedenfalls jahrelang nicht loswerden können. Seither, das wurde ihr schlagartig bewusst, plagte sie eine Aversion gegenüber lateinamerikanischer Folklore. Eigentlich ungerecht.

Beim Anblick des Platzes hatte sie den Klang sofort wieder im Ohr – obwohl von chilenischen Indios weit und breit nichts zu sehen und zu hören war. Zwischen den Bäumen und Laternen flatterten bunte Wimpel in der sachten Brise, die vom Hafen herüberwehte, alle Bänke waren belegt, die zahlreichen Cafés rund um den Platz herum hatten trotz der relativ frühen Uhrzeit gut zu tun, auf vielen Tischen standen schon jetzt Krüge und Gläser mit Dorada gefüllt, dem inselüblichen Bier.

Das Café Océano war genau dort, wo die Hauptflaniergasse Puertos, vom Hotelviertel am anderen Ende der Stadt kommend, auf den Platz stieß. Es war in einem der schöneren, älteren Gebäude untergebracht. Die meisten Gäste saßen draußen, am Rand der Plaza del Charco.

Während Emma ihren Blick noch suchend schweifen ließ, eilte ein Mann im hellen Leinenanzug lächelnd auf sie zu. Er mochte um die 60 sein, hatte ein faltenreiches, satt gebräuntes Gesicht unter vollem, rotblondem, wellig nach hinten gelegtem Haar. Gel war sicher auch im Spiel, oder ein kraftvolles Spray. Emma fragte sich sofort, ob das Haar wohl gefärbt war. Bestimmt!

»Sie müssen Fräulein Schneider sein! Habe ich Recht? Hollerbeck, Jochen Hollerbeck, Geschäftsführer der Stella Real Estate. Für meine Freunde: Jo. Darf ich Emma zu Ihnen sagen?«

»Solange Sie mich nie wieder als Fräulein anreden: bitte! Das mit den Vornamen scheint ja hier so üblich zu sein. Hanseatisch wohl.«

Emma rang sich ein Lächeln ab. Sie mochte diesen Menschen nicht. Sie hatte das Gefühl, sich dazu zwingen zu müssen, sich nicht zu schütteln. Sofort überkam sie ein schlechtes Gewissen: Sie war ungerecht. War sie es nicht, die Paul Bärkamp, der es mit dem Gegenteil hielt, hundert Mal erklärt hatte, man dürfe Menschen nicht nach ihrem Äußeren beurteilen? Paul pflegte dazu trocken zu bemerken: »Das Äußere ist nur das, was vom Inneren nach außen dringt.«

Herr Hollerbeck führte Emma galant – in leicht gebeugter Haltung und mit angewinkeltem Arm voranrudernd, als müsse er sich und seiner Begleiterin den Weg durch einen Haufen Styroporkugeln bahnen – zu einem Tisch am Rande der bedienten Zone. »Wie wäre es mit diesem Tisch? Hier hört niemand mit. Sie glauben ja gar nicht, wie neugierig deutsche Frührentner sind!«

»Doch, das glaube ich. Wer sonst nichts mehr erlebt, lebt eben gern das Leben der Anderen mit.«

»Sie sind ja eine Philosophin! Haben Sie Philosophie oder so was studiert?«

»Eher so was. Ich habe Journalismus studiert. Ich bin Journalistin. Da trifft man zwar selten Philosophen, hört aber viel über Philosophie.«

Ihr Gegenüber zog die struppigen Augenbrauen hoch und signalisierte mit weit aufgerissenen Augen Unverständnis, aber großes Interesse.

»Das kennen Sie doch sicher von Fußballübertragungen. Da hat jeder Trainer eine Spiel-Philosophie. Obwohl er eigentlich nur gewinnen will.«

Hollerbeck lachte laut und herzhaft, als hätte sie einen Witz erzählt. Aufgesetzt, wie Emma fand. Sympathischer wurde er ihr dadurch nicht.

Der Kellner, eine rührend-würdevolle Erscheinung, die sie an uralte Hans-Moser-Filme erinnerte, die sie mal in einem Seminar über Tontechnik in der Filmproduktion hatte analysieren müssen, nahm die Bestellung auf. Emma orderte Café con leche und ein Croissant. Der Kellner deutete einen leichten Diener an und verschwand.

»Sie sind erst gestern angekommen? Aber Sie kennen die Insel?« bemühte sich Hollerbeck um einen Neustart der Konversation.

»Ja. Und ja. Ich bin gestern mit einem Billigflieger aus Weeze gekommen – bei Düsseldorf –, und ich war als Kind schon ein paar Mal hier, zuletzt allerdings vor zwanzig Jahren.«

»Seither hat sich die Insel gewaltig verändert. Seit dem Immobilienboom auf der Halbinsel, wie die Tinerfeños zu Spanien sagen, ist sie von Festlandspaniern als Anlageobjekt entdeckt worden. Im Vergleich zur Costa del Sol oder Mallorca sind die Preise hier aber immer noch sensationell niedrig.«

»Da haben Sie sicher gute Geschäfte gemacht.«

»Durchaus. Obwohl meine Kunden überwiegend Deutsche sind. Und die haben sich an die niedrigen Preise hier auf der Insel gewöhnt. Die Älteren schwärmen heute noch davon, wie wenig früher hier der Cognac gekostet hat. Die leben noch im 20. Jahrhundert und nehmen nicht wahr, dass sich die Welt um sie herum geändert hat. Die Globalisierung!«

Hollerbeck breitete beide Arme aus, als wolle er den Globus umarmen und schnitt dazu ein Gesicht, als habe er eine Erscheinung.

»Dann sind es deutsche Interessenten, die mein Apartment kaufen wollen?« Emma hatte vom Smalltalk genug.

»Nicht direkt.«

Hollerbecks kryptische Antwort wurde von Hans Moser unterbrochen, der ihnen Café und Croissant servierte und für Hollerbeck einen Cortado leche y leche.

»Was ist das: leche y leche?« fragte Emma mit Blick auf das kleine, bis zum Rand gefüllte Glas, das vor Hollerbeck zum Stehen kam.

»So trinken die meisten Tinerfeños ihren Espresso: mit zweierlei Milch. Ganz normalem Milchschaum, wie beim Cortado – in Deutschland sagt man Espresso macchiato – und zusätzlich einer süßen Kondensmilch. Man braucht dann keinen Zucker mehr. Das sollten Sie mal probieren! Lecker!« Er nippte am Kaffee und erinnerte Emma dabei an den kleinen knubbeligen Mann aus einer alten Tschibowerbung.

»Werde ich tun. Aber jetzt erklären Sie mir doch bitte, was das heißt: nicht direkt?«

Hollerbeck lehnte sich in seinem Stuhl zurück, zögerte einen Moment, theatralisch, wie Emma fand, und schien sich dann einen Ruck zu geben:

»Ich darf Ihnen das leider nicht sagen. Noch nicht. Wenn Sie unser Angebot annehmen, werden Sie die Herrschaften natürlich kennenlernen. Wenn Sie das Angebot, was ich nicht hoffe, aber ablehnen sollten, würden die Interessenten gern anonym bleiben. Es wird so viel geschwätzt auf der Insel – und gerade im La Palma, wenn Sie verstehen.«

»Das verstehe ich, durchaus. Trotzdem hätte ich gerne zumindest eine Ahnung davon, wer sich für das Apartment meiner Großmutter interessiert. Es ist übrigens immer noch das Apartment meiner Großmutter. Ich bin zwar die Erbin, aber um die Formalitäten hier in Spanien habe ich mich noch nicht kümmern können.«

»Darum machen Sie sich bitte überhaupt keine Sorgen! Darum kümmert sich die Stella Real Estate. Auf Eigentumsübertragungen und Erbschaftsregelungen sind wir spezialisiert. Und darauf«, Hollerbeck senkte die Stimme und blinzelte Emma listig lächelnd zu, »den steuerlichen Rahmen zu optimieren. Sie verstehen, was ich meine?«

»Ich glaube: eher nicht. Muss ich hier Erbschaftssteuer zahlen?«

»Oh ja. Und nicht zu knapp. Aber es gibt Wege… Dazu muss man sich natürlich auskennen im komplizierten spanischen Erbrecht. Es kommt immer auf die individuelle Situation an.«

»Und da kennen Sie sich aus?«

»Das darf ich wohl behaupten, ja. Und für alles richtig Komplizierte haben wir natürlich unsere Experten.«

»Das klingt gut. Hilfe werde ich sicher brauchen, so oder so. Vermutlich eher »so«. Ich habe nicht die Absicht, auf der Insel zu leben. Und als Ferienwohnung vermieten darf man das Apartment laut Haussatzung nicht.«

»Sagen wir besser: im Prinzip nicht. Aber auch im Vermietungsgeschäft muss man sich auskennen – oder Hilfe auf der Insel haben. Das ist übrigens das zweite Standbein der Stella Real Estate.«

Das zweite Standbein? konnte Emma nicht verhindern zu denken. Und womit wurde gespielt: mit dem dritten? Sie schüttelte ihren Wuschelkopf und so den Gedanken schnell wieder ab.

»Also was wollen Ihre geheimnisvollen Interessenten – sind es übrigens Männer oder Frauen – denn nun zahlen?«

Jochen Hollerbeck schaltete auf hyper-ernst und ließ bedeutungsschwer einige stille Sekunden vergehen.

»Haben Sie sich mal nach dem Marktwert der Apartments im La Palma erkundigt?«

»Nein, aber wenn es hier so einen tollen nachgeholten Immobilienboom gegeben hat, werden die wohl sehr erfreulich sein, aus Verkäufersicht.«

»Erfreulich sind sie, ja, aber keineswegs sensationell. Der Boom hat trotz allem die Kanaren nur in sehr abgeschwächter Form erreicht, und jetzt ist überall die große Krise zu spüren. Hinzu kommt: das La Palma stammt aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. So einen Hochhauskasten würde heute niemand mehr bauen. Und er würde auch nicht genehmigt werden.«

»Das muss ihn doch besonders wertvoll machen. Der Blick aufs Meer ist einzigartig. Das ist doch sonst nirgends mehr zu bekommen.« Emma fühlte sich wie eine clevere Verkäuferin.

Hollerbeck ging auf ihr Argument tatsächlich ein: »In der Tat, der Blick und die Lage des Hauses, das sind die beiden größten Pluspunkte dieser Immobilie. Auch, dass es gut gepflegt ist, für ein Haus dieses Alters; dank der Eigentümergemeinschaft, die sehr rege ist. Auf der anderen Seite: das Haus ist fast vollständig in deutscher Hand. Das engt den Interessentenkreis ein.«

»Sie meinen: weil dort so viele Deutsche wohnen, wollen Spanier oder Engländer nicht einziehen?«

»So generell würde ich das nicht sagen. Aber die meisten Engländer ziehen doch eine britisch geprägte Umgebung vor. Spanier sind offener, aber auch gern unter sich. Zum Glück kommen jetzt zunehmend auch Kaufinteressenten aus anderen Regionen Europas. Und nicht nur Europas.«

»Ach! Woher denn? Aus Russland?«

»Zum Beispiel. Aber auch aus Polen oder dem Baltikum, und inzwischen erreichen uns auch gelegentlich schon Anfragen aus China.«

»China, ja, davon habe ich gehört. Aber warum? Teneriffa ist doch endlos weit weg, von China oder Russland aus?«

»Das stimmt natürlich. Aber die Kanaren sind nun einmal der südlichste Teil der Europäischen Union, des Gelobten Landes. Und obendrein mit dem besten Klima Europas gesegnet. Teneriffa hat zwei Flughäfen, eine 1a-Infrastruktur – und ist sicher. Rechtssicherheit: Das ist in China oder Russland seltener als die berühmten Seltenen Erden. Glauben Sie mir: Es gibt keinen angenehmeren Weg aus der Wildnis des globalen Finanzkapitalismus hinein in die sichere Höhle Europa als den über die Kanaren. Das spricht sich herum.«

»Hmm. Das klingt einleuchtend. Aber kommen Ihre ominösen Interessenten für meine Wohnung nun aus China oder aus Russland? Und Sie haben mir immer noch nicht gesagt, ob es Männer oder Frauen sind.«

»Es könnte ja auch eine Familie sein oder eine Firma. Aber nein, so viel kann ich Ihnen wohl verraten: es ist eine Frau, und sie ist keine Chinesin. Obwohl: was hätten Sie gegen Chinesinnen einzuwenden?«

»Nichts. Eine Russin also?«

»Pardon, aber ich habe womöglich schon viel zuviel gesagt. Sie wollen mich in die Enge treiben! Sie sind raffiniert!« Hollerbeck winkte Emma mit dem erhobenen Zeigefinger schalkhaft zu.

»Ich denke nicht, dass mir das gelingen könnte. Übrigens haben Sie immer noch keinen Preis genannt.«

»Was wird Ihnen der Preis sagen, wenn Sie den Markt nicht kennen? Ich schlage vor, Sie informieren sich, zu welchem Preis Apartments im La Palma und in ähnlichen Edificios derzeit gehandelt werden. Ich versichere Ihnen: Das Angebot, das ich Ihnen vorlegen darf, wird deutlich darüber liegen.«

»Wie deutlich?«

»Man könnte meinen, Sie seien aus der Branche! Aber richtig, Sie sind ja Journalistin! Offensichtlich eine sehr gute – so hartnäckig, wie Sie nachhaken. Sie lassen niemals locker, was?«

Emma strengte sich an, nicht geschmeichelt zu wirken.

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag.« Hollerbeck beugte sich zu Emma hinüber: »Ich lade Sie zu einer kleinen Rundfahrt ein. Haben Sie ein Auto? Nein? Dann nehmen wir meinen Wagen. Und ich verschaffe Ihnen einen schnellen Marktüberblick. Gleich morgen, wenn Sie mögen. Was halten Sie davon?«

Das klang fair. Und interessant. Emma hatte bisher nicht daran gedacht, sich ein Auto zu mieten. Und sich ein paar Baustellen und andere Apartmenthäuser anzusehen, das konnte doch kaum schaden, wenn sie jetzt im Begriff sein sollte, ins Immobiliengeschäft einzusteigen. Und dieser Jo war zwar ein schmieriger Ranschmeißer, wirkte aber eher lächerlich als gefährlich. Mal sehen, dachte sie, was er noch alles anstellen würde, um mit ihr ins Geschäft zu kommen:

»Klingt gut. Und vernünftig. Würden wir uns auch Objekte im Süden der Insel ansehen?«

Hollerbeck zögerte. »Das ist nicht unbedingt zwingend. Der Markt dort ist ganz anders als hier im Norden.« Emma legte einen sehr enttäuschten Gesichtsausdruck hin. Hollerbeck schaltete schlagartig um:

»Aber wenn Sie mögen: Machen wir eine Inselrundfahrt! Ich verdinge mich für einen Tag als Ihr persönlicher Reiseführer. Wenn Sie unterwegs noch irgendwo anhalten wollen: gern!«

Klar, dachte Emma; weil du glaubst, mich dann am Haken zu haben!

»Außerdem«, Hollerbeck strahlte sie an: »was kann mir besseres widerfahren, als einen ganzen Tag mit einer schönen jungen Frau zu verbringen? Vielleicht werden wir gesehen. Das täte meinem Image gut.«

»Und was sagt Ihre Frau dazu?«

»Wozu? Dass ich mit einer Kundin unterwegs bin? Oder woran dachten Sie?«

Oh Gott, jetzt zwinkerte er ihr zu, als seien sie Komplizen und zog dabei einen Mundwinkel hoch – wie dieser Schauspieler in Grumpy Old Men! Walter Matthau. Mehrere Stunden mit diesem Kerl im Auto? Was hatte sie sich dabei gedacht? Ob sie das aushalten würde? Ach was, hätte Paul ihr zugeraunt: du bist Journalistin. Sieh das professionell! Geh auf Recherchetour und nutze die Quellen, die sich bieten!

»Ok«, sagte Emma: »Wann geht es los?«

Emma erbt

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