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5. Kapitel

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Jochen Hollerbeck fuhr einen großen weißen Mercedes. Ein etwas betagtes, aber gepflegtes Auto. Mit roten Ledersitzen. Es zeugte von deutlich mehr Klasse als Pedros weißer Subaru. Aber was hatten die Leute hier mit Weiß? Das schien die neue Modefarbe zu sein, jedenfalls in den Augen von Männern reiferen Alters. Was glaubten sie, damit zu demonstrieren? Reinheit und Unschuld konnte es ja kaum mehr sein, nicht bei Kerlen Ende 50, Anfang 60, wenn sie halbwegs was erlebt hatten bis jetzt. Und Jochen Hollerbeck sah eindeutig so aus, als habe er schon einiges erlebt. Als ließe er nichts aus, fand Emma. Irgendetwas verlockte sie, ihn zu reizen. Wie ein Torero den Stier.

»Warum fahren Sie eigentlich ein weißes Auto?« Die Frage platzte aus ihr förmlich heraus, als sie bei La Laguna auf die Südautobahn einbogen. Emma konnte nichts dafür. Manchmal, so kam es ihr vor, ballten sich in ihrem Kopf kreisende Gedanken zu einer Frage zusammen, die einfach ausgesprochen werden musste, ganz egal, ob die Situation dafür passend war oder ob es sich schickte. Was heißt das eigentlich: »sich schickte«, dachte Emma? Wohin schickt sich das, was sich schickt? Und wer wäscht hier seine Hände in Unschuld, schiebt die Schuld auf das Geschobene – wo sich doch kein Paket, kein Brief, keine Beleidigung von selbst irgendwo hinschickt.

Was war los mit ihr? Hatte sie gestern zu lange in der Sonne gelegen? Hatte sie vielleicht einen Sonnenstich? Was für wirre Gedanken! Schon in der Nacht hatte sie wild geträumt. Gegen fünf in der Frühe war sie schweißgebadet aufgewacht. Sie hatte mit Albert gerungen, im Meer, Albert hatte sie unter die Wasseroberfläche gezogen – das war das letzte, woran sie sich erinnerte. Auch ihre Oma hatte eine Rolle gespielt in dem Traum und eine Flasche 103. Als sie aufwachte, schnappte sie nach Luft wie jemand, der zu lange getaucht hat und endlich wieder an die Oberfläche kommt.

Dabei war der vorige Tag, ihr zweiter auf der Insel, wunderschön gewesen. Nach ihrem späten Frühstück mit diesem komischen Jo war sie beschwingt und bester Stimmung durch Puerto spaziert. Vor einem liebevoll restaurierten Jugendstilhaus gleich hinter einer großen grauen Kirche hatte sie, in einem bequemen Korbstuhl lagernd, noch einen Kaffee getrunken – anders als im Océano allein und diesmal umgeben von Menschen, die sie nicht zu beachten schienen und die Englisch, Spanisch, auch Italienisch mit der Kellnerin parlierten, statt jede Bestellung auf Deutsch aufzugeben. Sie hatte dann, in einem Anfall von Leichtlebigkeit, noch einen Campari bestellt, mit frisch gepresstem Orangensaft. Durch die Wedel der Palmen lächelte die Sonne auf sie herab, die Luft kam ihr vor wie Champagner, jedenfalls nach dem Campari. In einem Brunnen hockte ein steinerner Schwan, dessen Hals bis auf den Rücken hinuntergebogen war, als müsse er gurgeln. Aus seinem Schnabel lief Wasser. Die Beete drumherum leuchteten knallrot; sie waren dicht bepflanzt mit Weihnachtssternen.

Oma Ilse hatte diese nikolausroten Pflanzen geliebt. Auch wenn Emma Weihnachtssterne eher nicht mochte: das ganze Ensemble kam ihr schön vor, zu ihrer Überraschung. Sie hatte, musste sie sich eingestehen, auf Teneriffa eigentlich nichts Schönes erwartet. Was hatte sie überhaupt erwartet? Jedenfalls nicht dieses Gefühl von Leichtigkeit, das sie jetzt überkam und das sie mit Italien verband oder Südfrankreich, aber keinesfalls mit Teneriffa. Teneriffa, das wurde ihr klar, hatte sie leichtfertig für eine Art Altenheim mit Meerblick gehalten. So hatte sie die Insel mit 15 erlebt.

In einem der vielen Restaurants in den Gassen rund um die Plaza del Charco hatte sie dann gegrillte Chocos gegessen, mit den offenbar unvermeidlichen kleinen Pellkartoffeln nebst zwei Soßen. Und dazu kühlen, frischen Weißwein getrunken. Wie Wasser. Nach dem nächsten Cortado hatte sie einen Schwips. An der Playa Jardín lieh sie sich eine Liege und streckte sich im Schatten einer Palme aus, angezogen wie sie war.

Sie bedauerte, nicht in die Wellen springen zu können. FKK war offenkundig unüblich hier – obwohl sie am Strand mehrere ältere Frauen sah, die der gaffenden Welt ihre stattlichen, hängenden, angedörrten Brüste entgegenstreckten, als wäre das für irgendwen ein Genuss. Emmas Badeanzug trocknete derweil auf dem Balkon des La Palma. Sie hätte sich in Puerto einen Bikini kaufen sollen, dachte sie. Einen ganz knappen vielleicht, so wie ihn die jungen Spanierinnen trugen, mit String zwischen den Pobacken. Damit hätte sie den Mittelschwimmern am Pool sicher eine Freude bereitet. Den Mittelfingerschwimmern. Besser nicht.

Stattdessen war sie nach ihrer Strandsiesta kreuz und quer durch Puerto flaniert, schließlich hoch zu einem ehemaligen Hotel, das unübersehbar auf einer Bergkuppe lag. Der Weg dorthin führte durch Gärten, an Brunnen und künstlichen Bächen vorbei und entlang. Von einer Terrasse aus bot sich ihr ein weiter Blick über den Häusersalat der Altstadt. Ein bunter, scheinbar planlos entstandener Mischmasch aus architektonischen Lieblosigkeiten, hier und dort mit Palmen, einem wuchtigen Kirchturm und begrünten Dachterrassen dekoriert. Ein paar Meter von der Brüstung der Terrasse entfernt fand Emma, auf einem brusthohen Sockel, die Kupferbüste einer mild lächelnden älteren Frau. Ein Schild unter der Büste wies sie als »Dulce Maria Loynaz« aus und als eine »kubanische Poetin«. Emma hatte nie von ihr gehört, beschloss aber, den Namen bei nächster Gelegenheit zu googeln. Dulce, das ahnte sie, hieß ›süß‹. Schließlich hießen Dolci Süßgebäck in Italien, wo sie zwei Mal mit Jörg in Urlaub war. Das sanfte, wissende Lächeln der Poetin ließ sie nicht los. Emma hatte das Gefühl, Señora Loynaz zwinkere ihr zu. Das musste die Wirkung des Campari sein, oder der Sonne am Strand!

Hinter dem offenbar leerstehenden Hotel liefen ihr plötzlich ganz andere Menschen über den Weg als unten am Hafen. Jüngere Menschen, jede Menge Jogger, zumeist Spanier offenbar. Young Urban Professionals, so sahen sie aus. Die Stadt schien, so klein sie eigentlich war, Sektoren zu haben, von unsichtbaren Grenzlinien durchwebt zu sein; mit Sektoren für Einheimische, für Festlandspanier, für deutsche Touristen, für andere Ausländer, für Residenten. So nennen, das wusste sie aus dem Reiseführer, die Tinerfeños Leute, die in Florida ›snowbirds‹ hießen – Zugvögel; Menschen aus dem Norden, die hier ihre Rente oder was auch immer verbraten, halb- oder ganzjährig. Menschen wie ihre Großeltern eben.

Am besten gefiel ihr an Teneriffa, das wurde Emma jetzt klar, während sie neben Jochen Hollerbeck auf einem roten, von hellen Altersadern durchzogenen Sitz im weißen Mercedes saß und die Insellandschaft in umgekehrter Fahrtrichtung wie vorgestern auf sich wirken ließ, am besten gefiel ihr dieses unkomplizierte Mit- und Nebeneinander von Einheimischen und Anderen. Sie hatte mal Urlaub auf Jamaica gemacht, mit Jörg, in einem Resort-Hotel, und die Warnung missachtet, nie allein die Hotelanlage zu verlassen. Sie hatte sich wie in Feindesland gefühlt, ständig beäugt und aggressiv bedrängt: »Wanna buy, wanna buy?« Nie wieder, hatte sie Jörg später, zurück in Herne, erklärt – damals hatte sie die Bochumer Wohnung noch nicht – werde sie in einem Land Urlaub machen, wo es Gettos gibt. Sie fühle sich nicht wohl, wo Touristen wirken, als kämen sie von einem anderen Stern, und wo Einheimische nicht in dieselben Hotels, Geschäfte und Restaurants gehen können wie ihre Besucher. Jörg hatte dazu nur den Kopf geschüttelt; ihm hatte Jamaica extrem gut gefallen, vor allem die Steel-Drum-Band, die am Pool jeden Abend ›No Woman No Cry‹ intonierte. Emma war auch dieses Gedudel ab dem dritten Tag mächtig auf den Senkel gegangen.

»Wieso wollen Sie das wissen? Mögen Sie keine weißen Autos?«

»Keine Ahnung. Ich würde mir jedenfalls nie ein weißes Auto kaufen.«

»Und warum nicht?«

»Keine Ahnung. Weiß ist keine Farbe.« Wie konnte es kommen, dass dieser Jo jetzt die Fragen stellte und sie antworten musste? Hey, Emma, geh wieder in die Offensive! »Haben Sie den Wagen schon lange oder haben Sie ihn gebraucht gekauft?«

»Ich habe ihn schon lange und ich habe ihn gebraucht gekauft. Was für ein Auto fahren Sie denn?«

»Gar keins. Ich finde, Ihre Generation macht ein viel zu großes Bohei um Autos. Das sind Fortbewegungsmittel, und meistens stehen sie dumm rum. Jedenfalls in großen Städten. Und versperren Radfahrern den Weg und Touristen den Blick.«

»Aber es ist schon ok, dass wir unsere Inseltour – das war übrigens Ihre Idee! – per Auto machen und nicht mit dem Fahrrad?«

Konnte der Kerl keine Frage beantworten, ohne eine Gegenfrage zu stellen? Ist das vielleicht ein Maklertrick? Eine Masche, um Interesse am potentiellen Kunden zu heucheln und eine »Beziehung« herzustellen?

»Seit wann machen Sie denn schon in Immobilien?« versuchte Emma das Thema zu wechseln.

»Im Grunde immer schon. Eigentlich bin ich ja Architekt. Ich liebe Häuser. Aber hier auf der Insel baue ich nichts. Es steht ja schon genug herum. Und Sie: warum sind Sie Journalistin geworden?«

Ja, warum?

»Weil ich gerne Fragen stelle. Insofern hätten Sie auch ein Motiv gehabt.«

»Ein Motiv? Wozu? Haben Sie mich in Verdacht, ein Verbrecher zu sein?«

»Sollte ich? Nein, aber Sie beantworten jede Frage mit einer Gegenfrage.«

»Tue ich das? Ist mir noch gar nicht aufgefallen. Aber wenn es Sie stört, benutze ich ab sofort nur noch Ausrufezeichen. Zum Journalismus fehlt mir jedenfalls die Begabung. Ich tue mich schon schwer damit, für Immobilienanzeigen die richtigen Worte zu finden. In der Regel kupfere ich bei Kollegen ab. So, das hätte ich zugegeben. Nehmen Sie mich jetzt fest, Frau Kommissarin?«

So unsympathisch, wie er ihr im Océano vorgekommen war, schien dieser Hollerbeck ja doch nicht zu sein. Er zieht halt seine Show ab, dachte Emma. Sie war grundsätzlich bereit, jeden Menschen sympathisch zu finden, der Humor bewies. Eine Schwäche von ihr, hatte Paul ihr oft erklärt, aber, fand sie, eine lässliche.

Sie waren vom La Palma zunächst nach La Paz gefahren. Das ist ein Ortsteil von Puerto, der oberhalb des Hotelviertels liegt und, laut Hollerbeck, das Hauptquartier der deutschen Residenten ist, der etwas wohlhabenderen jedenfalls. Hollerbeck hatte ihr eine Apartmentanlage nahe dem Botanischen Garten gezeigt. Von der Straße aus war der Komplex aus sechs oder acht verwinkelten, strahlend weißen Häusern, die sich um einen großen, geschwungenen Pool gruppierten, gar nicht zu erkennen gewesen, so viele Palmen und Oleanderbüsche und Bougainvillea-Hecken wuchsen um die Bauten herum. Kein Haus war höher als drei Geschosse. Die Erdgeschoss-Apartments hatten Terrassen, die in Parkanlagen übergingen, die mittleren Wohnungen große Balkone, die oberen Dachterrassen. Das alles erläuterte ihr Hollerbeck. Und erwähnte Wellnesszonen, Klimaanlagen, Einbauküchen.

»Warum zeigen Sie mir das? Ich glaube nicht, dass ich mir solche Wohnungen leisten könnte.«

»Och, das können viele auch nicht, die hier wohnen. Darlehen sind derzeit günstig zu haben. Und die Preise steigen. Wenn Sie es richtig anstellen, finanziert sich so ein Apartment von selbst.«

»Erinnern Sie sich: Ich will ein Apartment ver-kaufen, nicht kaufen.«

»Ach ja. Nein, im Ernst: Ich zeige Ihnen diese Anlage erstens, damit Sie eine Ahnung davon bekommen, welche Standards heute erwartet werden, jedenfalls von Käufern mit Geld und gewissen Ansprüchen…«

»Ach so: damit meine Ansprüche an den zu erzielenden Verkaufspreis für das Apartment meiner Großmutter nicht in den Himmel wachsen… und zweitens?«

»Zweitens? Weil ich selber hier wohne. Da hinten, in Haus Drei. Eine Maisonnette-Wohnung mit Blick auf Puerto. Falls Sie mich mal besuchen wollen.«

»Danke. Das wäre nicht nötig gewesen.«

»Och, meine Frau hätte Sie sicher gern kennengelernt. Ich glaube, Sie würden sich gut verstehen.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Na, jedenfalls musste ich ihr sehr genau erklären, mit wem und warum ich heute unterwegs bin. Meine Frau stellt genauso gerne Fragen wie Sie.«

»Ist sie Journalistin oder Maklerin – oder hat sie Grund zur Eifersucht?«

»Noch nicht.« ›Jo‹ zwinkerte ihr zu.

Oh Gott. Wo war sie gelandet? Auf der Insel der Anbaggerer? Tat sie irgend etwas, um solche Männer zu ermutigen, sie anzusabbern? Oder ging von ihr ein Beutegeruch aus? Irgendein Duftstoff, der signalisierte: Halloo, ich bin Single und verzweifelt, brauche dringend Trost und Sex?

Emma beschloss, inzwischen waren sie hinter Santa Cruz, die Dinge geradezuziehen:

»Übrigens, Herr Hollerbeck: falls Sie testen wollen, ob was geht: Lassen Sie das! Ich stehe nicht auf ältere Herren.«

Auwei, das war jetzt vielleicht doch etwas schroff ausgefallen. Aber Jo Hollerbeck schien unerschrocken. Er lächelte sie sonnig von der Seite an:

»Schade. Sind Sie sicher, nichts zu verpassen?«

Wie dreist war das denn?

»Aber keine Sorge. Ich versuche nur charmant zu sein. Ihre Gegenwart hat schon etwas, muss ich gestehen, Animierendes. Und ich darf Sie daran erinnern: es war Ihre Idee, mit mir eine Art Inselrundfahrt zu machen. Und jetzt nehmen Sie es einem alten Mann übel, dass er sich geschmeichelt fühlt! Finden Sie das fair? Aber wir können unser Gespräch auch ganz sachlich auf Summen und Quadratmeterzahlen beschränken.«

»Ich bitte darum.« Verdammt, warum musste sie lächeln, während sie diesen eiskalten Satz aussprach?

»Wohin fahren wir jetzt eigentlich?«

»An die Costa del Silencio. Sie wollten ja den Süden sehen. Spielen Sie Golf?«

Natürlich spielte sie nicht Golf. Allenfalls Minigolf. Aber auch das hatte sie zuletzt vor mindestens fünfzehn Jahren getan. Gerade wollte sie erklären, sie komme aus dem Ruhrgebiet und da finde man Golf dekadent, als ihr einfiel, dass es, ausgerechnet, in Castrop-Rauxel einen großen Golfplatz gab – und außerdem hatte sie neulich noch irgendwo gelesen, nirgendwo in Deutschland gebe es mehr Golfplätze als um das Ruhrgebiet herum. Sie beschloss, das Thema nicht zu vertiefen.

Die Costa del Silencio erwies sich, anders als der Name suggerierte, als höchst lebendige Landschaft aus älteren Hotelkomplexen, Golfclubs und Baustellen. Der Süden, erklärte ihr Hollerbeck, sei längst dabei, das Ballermann-Image abzuschütteln – obwohl es die Billighotels für Pauschalzecher natürlich immer noch gebe, aber die ballten sich in Los Cristianos und an der Playa de las Américas.

Sie hielten an einer fast fertiggestellten Golf-Stadt aus schmucken Apartmenthäusern und Villen an, und Hollerbeck zeigte ihr Häuser, für die mehr als eine halbe Million Euro verlangt würden. Zum Teil weit mehr. Im Vergleich dazu sei der Norden noch immobilenmarktmäßig unerschlossen. Uninteressant sei der Norden, sagten die Einen, die nur den Süden für vermarktbar hielten, mit seinem ewigen Sonnenschein und seinen Kunstlandschaften jenseits von Gottes Mülldeponien, die ihr auf der Fahrt vom Südflughafen nach Puerto aufgefallen waren. Voller Potential, sagten Andere. Dazu zähle er, Jochen Hollerbeck: zu den Anderen. Der Norden sei wieder im Kommen, da sei er sich sicher. Menschen mit Geschmack langweilten sich, wenn sie unter sich immer nur Greens und über sich immer nur blauen Himmel sähen: »Wie ist das mit Ihnen? Mögen Sie Wolken?«

Mochte sie Wolken? Interessante Frage, fand Emma.

»Ja«, wurde ihr klar, »ich mag Wolken. Als Kind habe ich darin oft seltsame Tiere entdeckt. Und heute früh, vom Balkon aus, fand ich es faszinierend zu beobachten, wie der Himmel erst ganz blau war, sich dann zuzog, bis die Wolkendecke schließlich wieder aufriss. Auch das Meer hat dabei ständig seine Farbe verändert, von Hellgrau über Dunkelgrau zu Blau, Grün und Türkis. Toll!«

»Vielleicht sollten Sie das Apartment Ihrer Großmutter doch behalten. Ich glaube, Sie sind dabei, sich in die Insel zu verlieben.«

War sie das?

Vielleicht, dachte Emma, erwiderte aber: »Keine Sorge! Dann hätten Sie ja Benzin und Zeit zum Fenster rausgeworfen.«

»Das glaube ich nicht. Außerdem: Vielleicht verkaufen Sie ja die Wohnung Ihrer Oma und kaufen sich was anderes. Dann hätte ich gleich ein doppeltes Geschäft gemacht. Außerdem bereitet es mir – trotz allem – Freude, mit Ihnen durch die Gegend zu fahren. Darf ich sagen oder finden Sie das auch anzüglich: ich finde Ihre Gesellschaft erfrischend?«

Von der Costa del Silencio fuhren sie nach Los Cristianos weiter, um, wie Hollerbeck sagte, »die Schrecknis zu sehen«. Statt dort eines der überall angepriesenen Full English Breakfasts zu genießen, aßen sie später in einem Restaurant an einer kleinen Bucht der Costa Adeje zu Mittag. Emma bestand darauf, »meinen Fahrer« einzuladen. Auf dem Weg nach Los Gigantes erschien ihnen dann wie eine Fata Morgana ein erdroter Hotelkomplex, der Emma an die Adobe-Bauten prähistorischer Indianer im Südwesten der USA erinnerte. Nur, dass die Indianer wohl keine Teiche mit Koi-Karpfen an Michelin-besternten Restaurants angelegt hatten. Und Golf spielten die Hopis auch nicht. »Siebenundzwanzig Loch«, erklärte ihr Hollerbeck: »Das Nonplusultra zur Zeit. Und falls Golf Sie langweilt, weil Sie ja noch jung genug sind, um Sex zu haben, bleibt Ihnen, neben dem Sex, allezeit eine schöne Aussicht auf die Berge und auf La Gomera und die Auswahl zwischen sieben Restaurants.«

Emma musste lächeln. La Gomera. Sie erinnerte sich an eine Wanderung, die sie mit ihren Großeltern gemacht hatte, damals, in ihrem persönlichen annus horribilis 15. Die einzige Wanderung, zu der sie sich damals hatte überreden lassen. Erstaunlicherweise hatte sie Gefallen daran gefunden. Sie erinnerte sich an eine menschenleere, total rentnerfreie Landschaft und, mittendrin, an einen gemauerten Dreschpatz. Da hatten sie gepicknickt, Opa Heinrich, Oma Ilse und sie, ganz allein, unter ihnen der Ozean. Und am Horizont war Gomera zu sehen gewesen, die Nachbarinsel, verschleiert. Märchenhaft, total märchenhaft war ihr das vorgekommen, damals. Sie erzählte Hollerbeck davon.

»Ich glaube, ich weiß, wo das gewesen sein könnte. Im Teno-Gebirge. Da kommen wir durch, wenn wir nicht über die Autobahn wieder zurückfahren, sondern über Santiago de Teide. Dann hätten wir wirklich eine Inselrundfahrt gemacht.«

»Wäre das ein großer Umweg?«

»Für Sie ist mir kein Weg zu weit, das sollten Sie inzwischen wissen.«

Emma verdrehte die Augen. Aber so wie Hollerbeck grinste, als er das sagte, so Walter-Matthau-mäßig, konnte sie ihm auch diesen Baggerspruch nicht wirklich übel nehmen. Mal schauen, dachte sie sich, wie weit Hollerbecks Geduld auszureizen sein würde:

»Auch kein Wanderweg? Wir sind damals vielleicht eine Stunde oder so gelaufen. Würde Sie das überfordern?«

Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, blieb Jochen Hollerbeck ihr eine sofortige Antwort schuldig.

»Heißt das, Sie wollen wandern gehen? Heute? Jetzt? Mit mir?« fragte er, alarmiert klingend – nachdem er zuvor gefühlte drei Minuten schweigend den Verkehr vor ihnen fixiert hatte: »Ich fürchte, dafür sind wir nicht ausgerüstet.«

»Ausgerüstet? Ich kann mich nicht erinnern, damals mit 15 ›ausgerüstet‹ gewesen zu sein. Jedenfalls hatten wir keine Pickel und Seile dabei.«

»Na, die brauchen wir hier auch nicht. Aber vernünftiges Schuhwerk schon und Jacken. Im Teno-Gebirge kann sich das Wetter rasch ändern und plötzlich sind wir von Wolken umgeben.«

»Wirklich? Das wäre doch ein tolles Abenteuer. Bitte!« Emma zog ein Kleinmädchengesicht samt Schmollmund und schmachtete Hollerbeck an: »Jooo!«

Wie sich herausstellte, hatte »Jooo« einen Rucksack und Wasserflaschen und einen Anorak und feste Schuhe im Kofferraum. Er parkte den Mercedes an einer Abbiegung im Nirgendwo, neben einem leerstehenden Haus. Von dort aus liefen sie auf alten Ziegenpfaden los. Palmen wuchsen hier nicht, dafür Kaktusfeigen. Jo hielt sie davon ab, eine zu pflücken: »Vorsicht, die sind voller kleiner fieser Stacheln.«

Ja, genau, Emma wusste es wieder. Mit 15 hatte sie genau die gleiche Warnung gehört, von Opa Heinrich, und sie ignoriert. An den Schmerz an Fingern und Zunge konnte sie sich mit einem Mal wieder höchst lebendig erinnern. Diesmal verhielt sie sich klüger.

Kein Mensch kam ihnen entgegen, während sie immer höher anstiegen. Emma voran, Hollerbeck, gelegentlich keuchend, hinterdrein. Unten im Tal und an den Hängen gegenüber, in weiter Ferne, konnten sie einsam gelegene Bauernhöfe, ach was, Steinhütten erkennen. Aber wer auch immer dort lebte, so scheinbar entrückt von der Welt der Supermärkte und 27-Loch-Golfplätze, und die terrassenförmig angelegten steinigen Äcker bestellte, hielt sich versteckt. Mehrfach bot Hollerbeck ihr an, in einem zunehmend flehentlichen Ton, wieder umzukehren. Jetzt habe sie doch wohl einen guten Eindruck von der Landschaft bekommen! Da ändere sich nichts mehr, und sie hätten ja noch eine lange Fahrt vor sich… Doch Emma kam sich vor, als hätte sie eine Witterung aufgenommen:

»Ach Jo, es kann nicht mehr weit sein. Da war eine alte Steinhütte und ein gemauerter Platz, ich seh‘s wieder vor mir, mit einem großartigen Blick auf das Meer und auf Gomera. Vielleicht ist das Gelände ja zu kaufen, und Sie bauen ein Resort hierhin, für Aussteiger, die bereit sind, viel Geld dafür zu bezahlen, von allem ganz weit weg zu sein. Mit Golfplatzanbindung natürlich und mit Sterne-Restaurant. Und Hubschrauberlandeplatz.«

Hollerbeck war nicht mehr nach Humor zumute. »Solche ehemaligen Dreschplätze gibt‘s hier mehrere. Es kann sein«, japste er, »dass Sie mit Ihren Großeltern ganz woanders rumgelaufen sind.«

»Kann sein. Glaub ich aber nicht. Das kommt mir alles sehr bekannt vor hier«, schwindelte sie. Emma hatte, gestand sie sich ein, einfach Spaß daran gefunden, Hollerbecks Geduld und Kondition auszureizen. Hatte sie eine bislang verborgene sadistische Ader? Außerdem war die Landschaft wirklich großartig, die Luft sowieso. Und das Laufen tat ihr gut. Der Kopfschmerz war verflogen.

Da war es! Sie hatten einen letzten, steilen Anstieg hinter sich gebracht, waren um eine abstrus gen Himmel zeigende Felsnase gebogen, da tat sich plötzlich ein weiter Blick auf, über das tief unter ihnen schimmernde und von hier aus unhörbare Meer auf das unten herum leicht verschleierte La Gomera. Eine Fähre zog eine Schaumspur hinter sich her. Ein paar Segel blähten sich im Wind, klein wie Konfetti, von ihrem Logenplatz hier oben aus gesehen. Emma blieb stehen und atmete ein paar Mal tief ein und wieder aus.

»War es hier? Ist das der Platz, an den Sie sich erinnern?« In Hollerbeck, der zuletzt sehr still geworden war, schien Leben zurückzukehren. Und Hoffnung: »Dann kehren wir jetzt um, ja? Bitte!«

»Gleich. Auf ein paar Minuten kommt es jetzt ja wohl auch nicht mehr an. Oder können Sie nicht mehr?« Emma setzte ein Krankenschwestergesicht auf und musterte Hollerbeck besorgt. Als hätte er soeben offenbart, inkontinent zu sein.

»Keine Sorge, ich bin fit. Ich dachte eher an Sie. Es könnte kalt werden auf dem Rückweg, und wir sind doch am Ziel.«

»Nicht ganz. Aber fast. Sehen Sie die Hütte da unten? Den Steinhaufen? Ich glaube, da haben wir damals gepicknickt. Da müssen wir noch hin, dann ist es gut – aber Sie können gern auch hier warten und ich gehe die paar Meter allein.«

»Kommt überhaupt nicht in Frage. Aber was glauben Sie, da unten zu finden, was Sie hier nicht haben? Die Aussicht wird von dort nicht besser sein als von hier aus.«

»Mag sein, aber ich muss da einfach hin; jetzt, wo wir schon so weit gekommen sind. Das verstehen Sie doch, oder?«

Nein, Hollerbeck verstand es offensichtlich nicht, aber er folgte ihr kopfschüttelnd. Der kurze Abstieg war nicht unbeschwerlich. Ziegen waren hier seit langem nicht mehr hergegangen, Wanderer offenbar auch nicht. Hollerbeck unternahm noch mehrere Versuche, Emma zur Umkehr zu bewegen. Doch es war zwecklos.

»Hier war es. Genau hier. Da auf den Steinen haben wir gesessen und Käsebrote und Bananen gegessen. Und hier, auf dieser flachen Bank, bin ich eingedöst damals. Es war genauso sonnig wie heute. Es war der schönste Tag des Urlaubs. Also eigentlich: der einzig schöne, wie ich damals fand. Und jetzt muss ich was suchen.«

»Suchen? Was müssen Sie suchen?« In Hollerbecks Stimme klang eine Spur von Entsetzen mit.

»Ein Amulett. Ich habe seinerzeit ein Amulett hier versteckt.«

»Ein Amulett?« Offenbar hatte Hollerbeck seine Smartness jetzt völlig verlassen. Er starrte sie mit offenem Mund ungläubig an, als wäre sie verrückt geworden.

»Sage ich doch. Eine Halskette, die mir mein erster Freund geschenkt hatte. Also, ein Junge, der glaubte, mit mir zu gehen. Ich hab damals, als ich lag und döste, mit ihm Schluss gemacht. Hat er natürlich nicht gewusst. Ich hab ihm später erzählt, ich hätte das Amulett beim Schwimmen verloren. Er war untröstlich, der Arme.«

»Ich hätte nie gedacht, dass Sie so gemein sein können. Sie sind ja eine Männerfresserin! Aber Sie wollen das Amulett jetzt im Ernst nicht suchen, oder?«

»Oder doch. Schon allein, damit Sie sehen, dass ich nicht gemein bin, sondern sentimental.«

Und schon fing Emma an, Steine an die Seite zu zerren. Steinblöcke, die den Zugang zu der zerfallenen Hütte versperrten.

»Was tun Sie da? Das ist hier ein Naturschutzgebiet. Kennen Sie nicht den Spruch: Nehmen Sie nichts als Fotos mit und hinterlassen Sie nichts als Fußabdrücke?«

»Sehen Sie, ich habe etwas wieder gutzumachen. Vor zwanzig Jahren habe ich hier widerrechtlich frevelnd etwas hinterlassen. Das hole ich jetzt zurück. Auf dass die kanarische Natur wieder ihre wohlverdiente Ruhe finde!«

Währenddessen hatte Emma schon einen Haufen Steine beiseite geräumt. Allmählich tat sich der Blick ins Innere der zerfallenen Hütte auf.

»Sie wollen doch da wohl nicht reinkrauchen! Lassen Sie das! Die Decke könnte einstürzen und Sie begraben. Wie soll ich hier Hilfe holen?«

»Die brauchen Sie nicht. Sie sind doch ein starker Mann. Und wenn mir vor zwanzig Jahren nichts zugestoßen ist, wird‘s heute auch gut gehen.«

Und schon hatte sich Emma bäuchlings zwischen den Steinen hindurch in die Enge der alten Schutzhütte gezwängt.

»Iiiiihhh!«

Was war das? Ein Schuh? Ein Schuh. Aber nicht nur ein Schuh. Während sich ihre Augen an das Dunkel langsam zu gewöhnen begannen, tastete Emma den Gegenstand vor sich ab. Jenseits des Schuhs fühlte sie etwas Ledrig-Weiches, etwas, das auf Druck nachgab. Ein Tier? Eine Echse? Quatsch, so große Echsen, das wusste sie, lebten hier nicht. Und sie trugen bestimmt keine Schuhe. Emma zog die Hand spontan zurück. Dann streckte sie sie vorsichtig wieder aus und betastete das, was da länglich vor ihr lag. Stoff. Stoffreste, und darunter – konnte das sein? – ein Körper! Nochmal schrie sie gellend auf.

Hinter ihr schob Hollerbeck jetzt eilig weitere Steine beiseite. Das Licht wurde besser. Und Emma verstand: kein Zweifel, sie hatte eine Leiche gefunden.

Emma erbt

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