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6. Kapitel
Оглавление»Au!«
Emma trat mit einem Fuß Hollerbeck mitten ins Gesicht. Seine Nase blutete.
»Das tut mir Leid. Das wollte ich nicht. Legen Sie sich flach auf den Boden und beugen Sie den Kopf in den Nacken!«
Als hätte sie eine Schlange gebissen, hatte Emma sich ruckartig zurückgeschoben – und dabei Hollerbeck, der hinter ihr emsig Steine beiseiteschob, getroffen. Immerhin hatte das den, fand sie, angenehmen Nebeneffekt, dass sie schlagartig wieder klar denken konnte. Die Hysteriegefahr war gebannt. Fürs erste.
Sie hatten eine Leiche gefunden!
Eine Leiche, die offenbar schon länger hier lag. Das, was an Körper erkennbar war – die Hände, der Kopf – war, soviel ließ das Dämmerlicht erkennen, so verschrumpelt wie Ötzi, die antike Gletscherleiche. Vertrocknet. Aber so alt wie Ötzi war der Mann offenkundig nicht – Kleidung und Schuhgröße deuteten klar auf männliche Leiche. Der Stoff jenseits des Schuhs entpuppte sich als Funktionshose aus jenem leichten, wasserdichten Stoff, der zur globalen Wanderausrüstung des frühen 21. Jahrhunderts gehörte. Nur die Farbe war unidentifizierbar.
»Was machen wir jetzt?« wollte Emma von Hollerbeck wissen, als dessen Nase nicht mehr blutete.
»Ich denke, wir sollten die Steine wieder zurechtrücken und verschwinden.«
»Und vergessen, was wir hier gefunden haben?« Das erschien Emma unmöglich.
»Zumindest nicht darüber reden.« Hollerbecks Stimme klang weinerlich. Nasal. Er drückte sich noch immer ein Papiertaschentuch vors Gesicht.
»Das ist nicht Ihr Ernst. Ich denke, wir sollten die Polizei informieren. Wir müssen die Polizei informieren. Der Mann hier kann ja nicht friedlich gestorben sein. Der ist ermordet worden!«
Emma starrte Hollerbeck in die Augen. Der blinzelte heftig und unternahm einen letzten Versuch, ihr Vernunft beizubringen:
»Kann sein. Wird wohl so sein. Aber daran können wir zwei jetzt auch nichts mehr ändern. Sehen Sie es doch mal so: Wer immer das ist da drin: er hat jetzt hier seine Ruhe gefunden. Bis Sie gekommen sind!«
Emma war sprachlos. Hollerbeck fuhr fort:
»Ich hab keine Ahnung, wer das ist und wie er hierhingekommen ist. Aber ich weiß ganz genau, dass die Polizei uns beiden eine Menge Fragen stellen wird, die wir entweder nicht beantworten können oder jedenfalls nicht gern beantworten würden. Angefangen damit: Wieso sind wir eigentlich hier?«
Emma wischte Hollerbecks Bedenken mit einer Armbewegung beiseite. »Die einzige jetzt relevante Frage, finde ich, ist: wie alarmieren wir die Polizei? Wir haben höchstwahrscheinlich ein Mordopfer gefunden. Jemand wird den Mann dort« – Emma deutete auf den Steinhaufen – »vermissen. Wir haben gar keine andere Wahl, ob wir wollen oder nicht: wir müssen den Fund melden. Das ist unsere Pflicht.«
Hollerbecks Mienenspiel, als er das Wort ›Pflicht‹ hörte, erinnerte Emma wieder heftig an Walter Matthau. Auch Woody Allen kam ihr in den Sinn. Der konnte auch so ein Gesicht schneiden. Sie hatte plötzlich die Schlusszene aus »Manhattan« vor Augen, wo Allens junge Geliebte, die für ein halbes Jahr nach London ziehen will, ihn mit dem Hinweis vertröstet, sie werde ihm treu bleiben, was sei schon ein halbes Jahr… Woody Allen, beziehungsweise der Typ, den er darstellt, schweigt dazu, aber seine Mimik spricht Bände.
Was für ein Blödsinn, jetzt an alte Filme zu denken! Emma wunderte sich über sich selbst und vertrieb die Schattengestalten Walter und Woody, indem sie energisch den Kopf schüttelte.
»Was meinen Sie: Haben wir hier Handyempfang?« Bevor Hollerbeck antworten konnte, hatte Emma ihr Smartphone in der Hand und checkte die Verbindungsanzeige. Ein Signal war vorhanden, wenn auch nur schwach.
Hollerbeck beobachtete Emma mit zunehmender Nervosität. »Ob wir den Toten hier entdeckt haben oder ob das irgendeine Wandergruppe tut, im nächsten oder übernächsten Jahr: was macht den Unterschied? Der Mann ist tot, eine ganze Weile schon. Und wenn ihn jemand vermisst haben sollte, ist die Trauer längst verklungen. Sicher ist nur: wenn wir den Leichenfund melden, sind wir Zeugen, haben wir den Ärger. Brauchen Sie den? Ich nicht.«
Hollerbeck schien das tatsächlich ernst zu meinen. Und so Unrecht hatte er nicht, musste Emma sich eingestehen. Niemand wusste von ihrem Ausflug hierhin. Hätte sie, Emma, nicht in einem Anflug närrischer Nostalgie darauf bestanden, ihr blödes Amulett zu suchen, wären sie nicht hierhin gekommen, hätte sie die Steine nicht weggeräumt, hätten sie auch keine Leiche entdeckt… Einfach den Reset-Button drücken und die Episode überspringen!
Ja, und dann? Dann hätten Jochen Hollerbeck, den sie kaum kannte, und sie ein Geheimnis. Miteinander. Nur sie beide. Ein Gedanke, der Emma überhaupt nicht behagte – ohne dass sie hätte erklären können, weshalb. Und abgesehen davon: sie war Reporterin, Journalistin, und hier vor ihr in einem entlegenen Zipfel der Insel Teneriffa lag nicht nur eine männliche Leiche, sondern eine Story! Ihre Story! Was würde Paul Bärkamp tun? Jeder Restzweifel verflog. Paul würde sagen: »Mädchen, mach was draus!«
»Kommt nicht infrage, Herr Hollerbeck. Hier liegt eine Leiche, wahrscheinlich ein Mordopfer. Ein Mensch, der vermisst wird, der Angehörige hat, die nach ihm suchen, die um ihn trauern. Und irgendwo da draußen ist ein Täter, ein Mörder, der vielleicht wieder zuschlagen wird oder es schon getan hat, wer weiß… das müssen wir verhindern. Dafür sind wir jetzt verantwortlich, ob wir wollen oder nicht. Sie und ich. Das ist jetzt unser Schicksal!«
Hollerbeck nickte, wenn auch eher resigniert als überzeugt. »Sie haben ja Recht. Aber Ärger wird es uns bringen, Zeit wird es uns kosten und wer weiß, was die Presse daraus macht. Pardon! Die Presse ist ja schon hier. Wollen Sie darüber schreiben? Über unseren Fund hier? Über uns?« Hollerbeck wirkte alarmiert.
»Über uns? Ich wusste gar nicht, dass wir beide ein ›Wir‹ sind, Herr Hollerbeck. Sie sind Makler, ich habe ein Apartment geerbt. Wir sind geschäftlich unterwegs, erinnern Sie sich?«
»Ach ja, und was haben wir ›geschäftlich‹ hier oben im Teno-Gebirge verloren, wir zwei beiden ›Geschäftspartner‹?«
Ja, musste Emma sich eingestehen, das würde Fragen aufwerfen. Was hatten sie, Emma C. Schneider aus Bochum, und Jochen Hollerbeck, verheirateter Makler mit ihr gänzlich unbekannter Vergangenheit, hier oben in den Bergen verloren? Und was brachte sie dazu, zielstrebig den Fundort einer Leiche anzusteuern?