Читать книгу Die Augen des Habichts - Arndt Matthias Heigl - Страница 11

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4. Kapitel

„Wenn der Mensch wüsste, wohin er fallen würde, so streute er vorher Stroh hin.“

Russisches Sprichwort

„Was hast Du gemacht? Bist Du wahnsinnig?“ Oberst Brandner war längst aufgesprungen und kreiste um seinen schweren Schreibtisch sowie den Stuhl, der direkt davorstand. Auf diesem Stuhl hing wie ein Häufchen Elend sein alter Weggefährte Till, Tillmann Schuster. Seit gut zehn Minuten brüllte Brandner auf den etwa gleichaltrigen Kollegen ein. „Du zerstörst mein Lebenswerk. Auf den letzten Metern machst Du alles kaputt! Und Du willst so etwas wie mein Freund sein?“

Beim letzten Satz rutschte Schuster noch weiter in sich zusammen. So wütend hat er Otto bisher nie erlebt. Der war immer der Ausgeglichene des ungleichen Paars gewesen. Kennengelernt hatten sie sich beim Aeroklub, wollten Jagdflieger werden, die junge Republik vor ihren Feinden verteidigen. Und obwohl die Republik sie schon bald mit ganz anderen Aufgaben und vor allem an völlig verschiedenen Orten betraute, hatten die beiden sich nie aus den Augen verloren.

Seit geraumer Zeit dienten Sie nun wieder in der gleichen Dienststelle, dem Kommando Luftstreitkräfte/Luftverteidigung in Strausberg. Brandner hatte vor zehn Jahren nach einem Studium an der 8. Fakultät in Kalinin die kleine Abteilung für Strategische Beschaffung SB LSK/LV übernommen. Schuster aber war seit vier Jahren Mitarbeiter der Elektronischen Kampfführung FEK. Privat hatten die beiden Freunde die letzte Zeit genossen, ihre gemeinsamen Angelausflüge, die Grillabende an Brandners Bungalow. Dienstlich hatten sie, obwohl ihre Schreibtische im selben Stabsgebäude standen, so gut wie nichts miteinander zu tun, doch das hatte sich am heutigen Morgen schlagartig geändert.

„Was hat Dich geritten, ausgerechnet meinen wichtigsten E-K zu verbrennen, den einzigen, von dem überhaupt noch was zu erwarten ist?“ Brandner ließ sich erschöpft in seinen Bürosessel fallen und atmete hörbar aus. Fast klang es wie ein Seufzen.

„Otto, das konnte ich doch nicht wissen“, meldete sich Schuster zu Wort und versuchte, sich aufzurichten, „außerdem bin ich doch hier, um gemeinsam mit Dir nach einer Lösung zu suchen!“

Brandner winkte resigniert ab. „Erst lässt Du ihn heute halb tot schlagen…“

„Das war die Verwaltung 2000!“

„… und dann schaust Du auch noch zu, wie er nach Cottbus verfrachtet wird!“

„Auch das ist das Werk der Verwaltung 2000! Aber, lass uns lieber überlegen, wie wir weiteren Schaden verhindern!“, versuchte Schuster das Gespräch in eine konstruktive Richtung zu drängen. „Wir sollten versuchen, Deinen E-K aus Cottbus rauszubekommen, eh die Genossen vom „Schild und Schwert der Partei“ noch mehr Schaden anrichten können!“

„Till, Till!“ Brandner schüttelte ein letztes Mal vorwurfsvoll den Kopf, wischte sich mit dem Rücken der rechten Hand, in der er den Hörer seines Telefons hielt, den Schweiß von der Stirn und tippte dann mit dem Zeigefinger eine dreistellige Nummer ein.

Brandner hörte konzentriert den Wählgeräuschen der gesicherten Leitung hinterher. Er fischte einen Bleistiftstummel aus dem russischen Teeglas, das vor ihm stand, um dann den karierten Block zurechtzulegen, obwohl es sicher kaum etwas zu notieren geben würde.

„Apparat 512, Irmscher!“, meldete sich eine jungenhafte Stimme.

„Geben Sie mir mal Ihren Chef! Hier ist Brandner, Oberst Brandner, SB LSK/LV.“

Mehrmals war ein leises Klicken zu hören.

„Hallo Otto!“

„Schönen guten Tag wünsche ich Dir, Wolfgang!“

„Einen wunderschönen guten Tag!“

Brandner sah das Grinsen Wolfgang Hentschels förmlich vor sich. „Zur Sache, Wolfgang. Ich bin inzwischen im Bilde. Ihr habt heute früh einen meiner wichtigsten Leute außer Gefecht gesetzt. Ihr konntet das ja nicht wissen.“

Obwohl ihr ja sonst alles wisst!

„Bitte, Wolfgang, nehmt ihn nicht zu sehr in die Mangel. Ich würde ihn gerne sofort bei euch abholen und dafür sorgen, dass das ganze Thema unter Verschluss bleibt!“ Brandner trug die Bitte mit fester Stimme und dennoch fast beiläufig vor, hatte in Wirklichkeit aber kaum Hoffnung, dass der alte Fuchs sich auf diesen Kuhhandel einlassen würde.

„Du kannst ihn haben …“, tönte es immer noch gut gelaunt aus dem Hörer, „musst ihn Dir allerdings selber in Ladeburg abholen!“ Hentschel schien heilfroh zu sein, diesen Beifang von heute früh so elegant loszuwerden. Er würde nun doch noch den erfolgreichen Verlauf von „Pingpong“ melden können, ohne die stümperhaft abgelaufenen Details überhaupt erwähnen zu müssen! „Ich habe einen gut bei Dir!“, trompetete er noch in die Sprechmuschel. „До свидания (Auf Wiedersehen), alter Freund!“

Brandner schaute zur Decke und kippte dabei den grauen Hörer in der rechten Handfläche ungläubig hin und her.

Sollte sich das Problem wirklich so einfach in Luft auflösen?

Tillmann Schuster rutschte schon geraume Zeit auf seinem Stuhl herum und räusperte sich dann deutlich. „Was hat er gesagt, Otto? Wie gehts jetzt weiter?“

„Ich kann ihn mir selber abholen in Ladeburg!“ Nach einer gefühlten Ewigkeit setzte er hinzu: „Da stimmt doch was nicht!“

„Sollten wir nicht dort im Med.-Punkt einfach mal anrufen?“ Tillmann Schuster ging die Stille auf die Nerven.

„Das bringt nichts! Ich rede mit dem Finke, der ist Kommandeur der FuTA und muss ja irgendwann sowieso eingeweiht werden.“

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Endlich! Der Politnik kam von der Ringstraße direkt in Richtung des FuTA-Gebäudes geschlendert. Finke mochte diesen Typ Offizier nicht. Für konkrete Dinge waren die kaum zu gebrauchen, sonst hätten sie ja nicht die Politlaufbahn einschlagen müssen. Permanent hielten die den Rest der Truppe von wirklichen Aufgaben ab, wenn es aber konkret wurde, waren sie weg! Jetzt hatte sich dieser Major Kollmeder wohl auch noch zu Rockstrohs Werkzeug machen lassen! Finke war sich in diesem Punkt absolut sicher.

Der Major schlenderte auf den Eingang zu. Dass er dabei von seinem Kommandeur beobachtet wurde, bemerkte er nicht.

„Sogar zu blöd zum Laufen!“, quetschte Finke durch die Zähne. Kollmeder hatte zu lange Arme. Weil er immer etwas gebückt ging, schienen diese locker bis zu den Knien zu reichen. Außerdem lief der Major im Passgang. Das war der Albtraum jedes Exerzierausbilders!

Finke wollte zur Tür, um seinen Stellvertreter für Politische Arbeit abzufangen, bevor dieser in seinem Dienstzimmer verschwinden konnte. Als seine Hand schon auf der Klinke lag, klopfte es zaghaft.

„Ja!“

Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. Hauptmann Schäfer, der kommissarische TA, wich wieder etwas in den Flur zurück, als er seinen Kommandeur gleich direkt hinter der Schwelle wahrnahm. „Ge-genosse Oberstleutnant, ge-gestatten Sie, dass ich Sie in einer dienstlichen Angelegenheit spreche?!“, brachte er mühsam hervor.

„Kommen Sie rein und machen Sie die Tür zu!“ Finke war erkennbar verärgert. Er ertrug die unterwürfige Haltung dieses Hauptmanns nur schwer. Früher war es ungeschriebenes Gesetz, dass ein Stellvertreter für Technik und Ausrüstung Erfahrungen als Stationsleiter einer Rundblickstation oder eines PRW haben musste. Dieser Schäfer, der den Posten kommissarisch ausfüllen sollte, kannte nur die Automatisierten Objekte und versuchte nun, seine Inkompetenz durch Anbiedern und Krümelkackerei wettzumachen.

„Was gibts, Hauptmann?“

„Ein be-besonderes Vorkommnis, Ge-genosse Oberstleutnant!“ Lang und breit erläuterte Schäfer, dass die Funktechnische Kompanie 611 in Müncheberg heute Wartungstag der P-18 hätte und der zugehörige Stationsleiter ausgefallen sei. Deshalb hätten die Genossen angefragt, ob man helfen könne. Er, Schäfer, habe deshalb Leutnant Tanner abgestellt, der sei aber nie in Müncheberg angekommen.

„Rockstroh hat recht!“, wetterte Finke sofort los. Unfähigkeit ist das Markenzeichen dieser Abteilung und meine Stellvertreter mischen ganz vorne mit! Was soll das? Sie schicken ausgerechnet einen PRW-Stationsleiter zur Wartung einer Meter-Rundblickstation? Habe ich Tanner nicht gestern im Bunker gesehen? Hatte der nicht bis heute früh Dienst? Wofür war der Tanner ursprünglich eingeteilt?“

„Wartung 6752!“, kam es kleinlaut über Schäfers Lippen.

„Wa-as?“ Finke war kurz versucht, laut loszubrüllen. Stattdessen zischte er resigniert und kaum hörbar: „Raus, ganz schnell raus hier!“

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Stabsarzt Hoffmann hatte einen Entschluss gefasst: „Helm, es gab heute Vormittag keine Patienten. Es wurde niemand eingeliefert und es wurde auch niemand abgeholt! Verstanden?!“ Hoffmann konnte sich der Loyalität seines Sanitäters, der jetzt mit Fragezeichen im Gesicht eifrig nickte, sicher sein.

„Sie hatten den ganzen Vormittag mit dem Steri zu tun, ok?“

„Geht klar, Chef!“

„Gut und nun: Bestecktasche fassen und ab zum Mittag! Ich halte hier solange die Stellung.“ Hoffmann wartete noch, bis die Eingangstür ins Schloss fiel, ehe er Zimmer B-06 öffnete.

Leutnant Tanner saß auf der Pritsche und sah deutlich vitaler aus, als noch vor einer Stunde. „Nun, wie gehts uns?“

„Die Schulter schmerzt noch, der Kopf ist wieder ok!“

Hoffmann schloss das kleine Schränkchen mit den Glastüren auf und suchte eine Aluverpackung heraus. „Das ist ein starkes Schmerzmittel. Sie werden es brauchen, maximal drei Stück pro Tag!“ Hoffmann streckte die Hand aus. „Versuchen Sie mal eine Runde um die Pritsche!“

Tanner tapste im Uhrzeigersinn durch den kleinen Behandlungsraum. „Funktioniert!“

„Gut!“ Hoffmann übergab die Tabletten. „Sie waren nie hier. Es gibt keine Eintragung im G-Buch. Sie sind gesund!“

Der Leutnant reichte dem Arzt die Hand. „Danke, auch wenn ich immer noch nicht weiß, was das alles soll!“

Müde und angeschlagen verließ Arndt Tanner die Baracke mit dem etwas ausgeblichenen Tarnanstrich.

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Finke hatte es immer noch nicht geschafft, seinen Politstellvertreter zu dessen Audienz beim Brigadekommandeur zu befragen. Gleich nach dem Abgang von Hauptmann Schäfer meldete sich das graue Telefon. Ein alter Bekannter aus Akademiezeiten, von dem er ewig nichts gehört hatte, war nun schon das zweite Mal am Apparat. Finke erinnerte sich: Vor einem knappen Jahr hatte ihn Otto nach überschwänglicher Freude über den Kontakt nach so langer Zeit und der Neuigkeit, dass er jetzt für die Strategische Beschaffung im Kommando zuständig sei, mit einer wichtigen Information versorgen wollen.

„Bekomme ich nun doch noch die geplante NEBO oder wenigstens eine KABINA?“, hatte Finke damals scherzhaft gefragt und den Oberst damit an frühere Pläne erinnert.

Für die Abteilung war ursprünglich schwere Technik zur Fernaufklärung vorgesehen. Nicht umsonst hatten die Baupioniere neben den Bunkern die notwendigen gedeckten Garagenkomplexe und die drei massiven Gefechtshügel ins Gelände geklotzt. Die KABINA war das weitreichende Allzweckmittel gegen Ziele in allen Höhenbereichen. Das System NEBO sollte eine 3-D-Station mit hohem Automatisierungsgrad sein, die in der NVA bisher nur vom Hörensagen bekannt war.

Seit mehr als drei Jahren galt es als sicher, dass die NATO bei Kriegsbeginn massenhaft Marschflugkörper einsetzen würde, die in wenigen Metern Höhe angriffen und von der herkömmlichen Radartechnik kaum aufgefasst werden konnten. Der Arbeiter- und Bauernstaat hatte aber schlicht und ergreifend nicht mehr genug Geld, um all die sinnvolle und notwendige Technik anzuschaffen. In der Volkswirtschaft der DDR zeigten sich zunehmend Probleme, die sozialpolitischen Maßnahmen, das Wohnungsbauprogramm und die Aufwendungen für die nationale Verteidigung innerhalb der geplanten Zeiträume zu stemmen. Alle wussten das! Finke, der seine Jugend - und inzwischen schon mehr als 20 Jahre - dem Schutz dieses Landes gewidmet hatte, sah das ein. Was er nie akzeptieren würde, war die zunehmende Übermacht der Schwätzer aus der Politabteilung.

Die konstruieren für jeden Missstand eine Erklärung, die der klassenbewusste Genosse gefälligst mittragen soll!

Erst letzte Woche hatte der Politnik behauptet, die DDR-Volkswirtschaft würde die gesteckten Ziele zu Ehren des 37. Jahrestags weit überflügeln.

Ehrlicher wäre gewesen, er hätte aufgerufen, die Landesverteidigung rund um Berlin mit teils veralteter und aus Reserven zusammengesuchter Technik heldenhaft zu gewährleisten, damit erhöhte Verteidigungsausgaben die Wirtschaft nicht noch weiter ins Trudeln brachten. Stattdessen wurden erneut Phrasen gedroschen!

Finke kam nicht zum ersten Mal der Gedanke, dass die Politoffiziere in der NVA die gleiche ambivalente Wirkung entfalteten wie die Pfaffen in den Kriegen der Vorzeit.

„Finke, Sie haben doch wirklich alles bekommen, was möglich war“, hatte Brandner damals gefleht, „eine P-37, eine P-18, eine P-15 mit AMU und sogar zwei PRW-13!“. Natürlich hatte auch er gewusst, dass diese Aufzählung vor zehn Jahren jeden Chef einer Funktechnischen Kompanie in der zweiten Reihe stolz gemacht hätte. Für den zentralen Standort einer neu aufgestellten Fla-Raketenbrigade war dieses Sammelsurium bestenfalls eine Notlösung. Das Gespräch war im Frühjahr ´85 gewesen. Damals wurde gerade die Technik für die nagelneue Brigade zusammengestellt. Es waren drei derartige Formationen vorgesehen. Sanitz an der Ostsee war schon arbeitsfähig, Sprötau in Thüringen für 1989 geplant und eben nun Ladeburg nördlich Berlin.

„Zur Sache, Kommandeur“, hatte Brandner den frisch ernannten Chef der Funktechnischen Abteilung damals aufs eigentliche Thema zurückgebracht, „Sie haben in Ihrem Kader ein paar erfahrene Kämpfer…“

„…die woanders weggelobt wurden!“, hatte Finke geknurrt.

„Das stimmt nicht bei allen - und das wissen Sie!“ Brandner war ärgerlich geworden.

Finke hatte beschwichtigt: „Sie haben recht. Zumindest hab´ ich einen guten Kompaniechef!“

„Das will ich wohl meinen!“, bejahte Brandner, „Wichtiger sind aber die Absolventen, die Sie bekommen! Sie haben die fast einmalige Chance, eine Truppe aus jungen Leuten zu formen!“

Finke wusste, was Brandner meinte. Viel zu oft war der Offiziersnachwuchs auf den eingefahrenen Gleisen des Alltags in den Funktechnischen Kompanien ins Leere gelaufen und nach wenigen Jahren völlig desillusioniert. Finke hatte sich vorgenommen, dies in seiner Einheit nicht zuzulassen.

„Was ich Ihnen jetzt sage, bleibt unter uns!“ Brandners sonore Stimme war deutlich leiser geworden. „Mir liegt besonders E-K Tanner am Herzen. Wir hier haben da große Hoffnungen, auch wenn Sie und ich die Früchte vielleicht nicht mehr alle ernten werden!“

Finke hatte sich an die Auswahlgespräche in Kamenz erinnert, die damals erst ein paar Tage zurücklagen. Ja, dieser Offiziersschüler war ihm in positiver Erinnerung. Beim Durchblättern der Kaderakte war ihm sehr wohl das Kürzel E-K/SB aufgefallen und auch der hervorragende Notendurchschnitt, der einen Einser-Abschluss bereits sicher versprach. Mit offenem Blick hatte dieser Fast-Offizier auf Finkes Fragen geantwortet. Nein, eine Lehrtätigkeit an der Offiziershochschule würde ihn nicht reizen. Er habe sich für Sprötau gemeldet, da ihn die dortige Technik und deren Möglichkeiten im Truppenpraktikum begeistert hätten. Fast hatte es Finke leidgetan, diesem jungen Menschen erklären zu müssen, dass es nach erfolgreichem Studium nun nicht nach Thüringen, sondern nach Bernau gehen würde. Ja, er hatte sich damals überhaupt gewundert, weshalb die ihm einen der sehr raren Einser-Absolventen zugeteilt hatten. Durch den ersten Anruf Brandners war zumindest klar geworden, dass die Strategische Beschaffung dahintersteckte.

Finke hatte Gedanken an diesen Anruf, der nun ein Jahr zurücklag, lange verdrängt. Die täglichen Aufgaben verdichteten sich seit der Aufstellung seiner Abteilung immer weiter. Der junge Leutnant war bisher nicht groß aufgefallen. Er löste die neuen Anforderungen in der Truppe ohne Probleme, soweit man das aus der Position des Kommandeurs einschätzen konnte. Aber auch Kompaniechef Krüger schien zufrieden zu sein. Dieser hatte Tanner schließlich bereits nach wenigen Wochen zu seinem Stellvertreter gemacht.

Nun also ein erneuter Anruf! Brandner klang diesmal weit weniger überschwänglich als vor einem Jahr. Er bat um ein persönliches Gespräch, welches keinen Aufschub dulde. Er würde sich mit Finke gern noch am Abend treffen, außerhalb der Dienststelle. Finke schlug den „Waldkater“ vor, eine Gaststätte zwischen Bernau und Wandlitz.

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Der Standortausweis steckte noch in der linken Tasche der blaugrauen Uniformbluse, der Wehrdienstausweis mit der Alu-Erkennungsmarke auch. Arndt Tanner betrachtete sich im mannshohen Spiegel am Kontrolldurchlass KDL, während der Posten den Schein mit dem Dienstsiegel des Kommandeurs kontrollierte. Bluse, Stiefelhosen, Chromlederstiefel. Ein Lächeln zuckte über das Gesicht des jungen Offiziers. Diesen Aufzug fand Kathrin immer besonders sexy!

„Danke, Genosse Leutnant!“, salutierte der Posten.

Arndt Tanner zuckte sofort der Schmerz durch die rechte Gesichtshälfte. Die Schulter brannte barbarisch beim ruckartigen Hochreißen des Arms zur Grußerweisung.

Während der zweihundert Meter zwischen Kasernentor und Zufahrt zur Hauptstraße Ladeburg - Biesenthal vollführte er ein paar Lockerungsübungen, kreiste ausgiebig mit beiden Armen, bis der größte Schmerz vertrieben war. Zur Not wartete ja noch das kleine Alupäckchen mit den Tabletten in der linken Hosentasche.

Während seine Hand suchend durch den Uniformstoff fühlte, erreichte er die Straße. Zur Objekttarnung gehörte es, dass das Kasernentor von hier aus nicht zu sehen war. Mit dem Fahrrad war der kleine Umweg durch den Wald kein Problem. Zu Fuß nervte das.

Auf der anderen Straßenseite gab es ebenfalls nur Wald.

Natürlich mit Kiefern. Was anderes wächst hier doch nicht!

Rechts standen die größeren Exemplare. Zwischen den beiden Waldstücken hatte es früher bereits einen befestigten Weg gegeben, der jetzt mit zwei Spuren aus Betonplatten belegt war, Platten, deren grüner Anstrich sich teilweise schon wieder abgenutzt hatte. Wer hier immer noch zweifelte, dass dies die Zufahrtsstraße zu einem weiteren militärischen Objekt war, den warnten gleich zwei Schilder:

„Achtung! Sperrgebiet - Betreten verboten!“

Von vorn näherte sich ein LO. Schon war das jaulende Geräusch des unermüdlichen Transportfahrzeugs deutlich zu hören. Immer wenn der Pritschen-Lkw mit einem Vorderrad durch ein Schlagloch rumpelte, klapperten die Metallspriegel auf der Ladefläche gleich mehrfach in den U-Eisen ihrer Verankerung.

Der Leutnant suchte Deckung hinter zwei massiven Kiefern, die sich wie ein siamesisches Zwillingspaar eine Wurzel teilten. Er wollte nicht gesehen werden, nicht zu Fuß und nicht um diese Zeit.

Der LO fuhr klappernd vorbei und bremste hinter einer leichten Kurve an der Hauptstraße. Die letzten 500 Meter hatte Tanner die Plattenstraße für sich allein. Kurz vor dem Biesenthaler Weg wurde seit ein paar Wochen im Wald gebaut. Angeblich sollte hier die Hundestaffel der Bernauer Volkspolizei untergebracht werden, doch wovor wollte man die Hunde mit einer derart massiven Zaunanlage schützen? Der Leutnant hatte keine Zeit, weiter über die wahrscheinliche Verwendung des Objekts nachzudenken. Ohnehin war zwischen Ladeburg, Biesenthal und Wandlitz der gesamte Wald von geheimen Bereichen nur so durchzogen. Das hatte er bei der Suche nach Pilzen schon vor Wochen bemerkt.

Rechts, drei Meter abseits im Gebüsch glänzte ihm der verchromte Lenker seines 28er Diamant-Fahrrads entgegen. Von seinen Angreifern war logischerweise nichts mehr zu sehen. Dass auch die Amis längst weg waren, bekam er beim Herausschieben des Rads noch mit. Dreihundert Meter ging es nun schnurgerade zwischen Feldern in Richtung Lobetal. Der befestigte Weg schlängelte sich an ein paar Obstbäumen weiter geradeaus, doch die Fahrspuren bogen rechts ab. Sie waren mit sorgfältig dunkelgrün gestrichenen Platten belegt. Offenbar waren die Tarnspezialisten der Meinung, der Ernstfall würde im Frühsommer stattfinden, wenn auch die Felder dunkelgrün waren.

„Danke, Genosse Leutnant!“ Der Posten öffnete nach dem eingehenden Studium der Karte, die zum Betreten des Objekts D und weiterer Bereiche berechtigte, das grau gestrichene Gittertürchen.

Auf den ersten Blick schien alles in Ordnung, auf den zweiten auch, fand Tanner. Die Nachmittagssonne ließ die Luft flirren. Über der Plattenstraße verschwamm alles.

So sollen in der Wüste die Fata Morganen entstehen!

Links zweigte der Weg ab, der zum Haupteingang des modernsten unterirdischen Gefechtsstandes führte. Dort hatte Tanner die letzte Nacht verbracht, eine unruhige Nacht!

Rechts waren zwei Bauarbeiter dabei, die neue Treppe zum kleineren Mannschaftsbunker zu zerstören. Der Beton wehrte sich gegen den Presslufthammer. Wegen dieser Treppe, die von der Plattenstraße hinauf zum Bunkereingang führte, hatte es heftige Diskussionen gegeben. Der Bauleiter wollte nicht einsehen, weshalb eine minimale Differenz bei der Stufenhöhe korrigiert werden sollte. Kompaniechef Krüger hatte angedroht, einen Soldaten abzustellen, der die Aufgabe hätte, alle, aber auch wirklich alle Maße des Mannschaftsbunkers nochmals zu kontrollieren. Schließlich ginge es um Leib und Leben seiner Unterstellten. Im Bunker würden viele Funkorter die meisten Tage ihres Wehrdienstes verbringen, im Ernstfall vor gegnerischen Antifunkmessraketen Schutz finden und in völliger Dunkelheit die Treppe nutzen müssen, hatte der Kompaniechef gewettert.

Ob der Bauleiter für das Scheitern der Luftverteidigung der Hauptstadt die Verantwortung übernehmen wolle, war letztlich die Frage, in der Krügers pathetischer Vortrag kulminierte. Der Vertreter von Spezialbau Bernau hatte seinen weißen Helm abgenommen, um sich am Kopf zu kratzen und dann die Nachbesserung an der Außentreppe versprochen.

Dem sternförmig aufgebauten Mannschaftsbunker schloss sich das Wasserwerk an. Von hier aus wurde das gesamte Objekt mit Kühlwasser versorgt. Nach dem Wasserwerk zweigte eine Fahrspur nach rechts ab und verschwand hinter den Gefechtshügeln. Sie führte zu den beiden kleinen Rundblickstationen P-15 und P-18, die nach Westen freie Sicht brauchten.

Direkt am Rundweg begann die erhabene Hügelkette. Drei massive Erhebungen waren hier aufgeschüttet worden, um den drei Zentimeterwellen-Funkmessstationen einen freien Blick in alle Richtungen zu verschaffen. In den Fuß der Hügel waren jeweils gewaltige splittergeschützte Großgaragen eingelassen. Über die Hügel führten Beton-Plattenwege, auf denen schwere Lkw die Lafetten mit den Sende-Empfangs-Kabinen ziehen konnten.

Auf dem mittleren Berggipfel stand die P-37, eine Rundblickstation mit 450 Kilometern Reichweite. Die beiden äußeren Hügel waren den PRW, den Höhenmessern vorbehalten. Während die Rundblickstation einen Überblick über die Bewegungen im Luftraum darstellen konnte, musste als dritte Koordinate die Höhe mit den PRW bestimmt werden. Dazu schwenkten die eindrucksvollen Antennen der Höhenmesser permanent auf und ab.

An Tanners PRW-13 war die Wartung offenbar schon abgeschlossen und es lief die Luftraumaufklärung. Das wunderte den Leutnant. Er konnte die typischen Bewegungen der hinteren Kabine erkennen. Bei konstantem Auf und Ab hielt die Drehbewegung kurz inne. Es folgten drei bis vier Nickbewegungen, dann drehte sich der Koloss in Richtung des nächsten Ziels, erneute drei bis vier Nickbewegungen, um die Höhe abzulesen und so weiter. Das Ganze erfolgte ohne hektisches Hin und Her.

Da sitzt ein erfahrener Funkorter mit guter dreidimensionaler Vorstellungskraft am Drehsteuerblock, der Gefreite Damm!

Der PRW wurde aus dem Innern des Gefechtsbunkers gesteuert, deshalb waren die schweren Splitterschutztore des dritten Unterstandes geschlossen und hydraulisch verriegelt. Das sah der Leutnant auch aus der Entfernung. Heute fiel im strahlenden Sonnenlicht besonders auf, dass die schweren Tore noch immer im zarten Hellgrau des Rostschutzanstrichs strahlten.

Hat hier das Tarnkonzept versagt, oder ist lediglich die Farbe knapp?

Die Torflügel am vorderen Komplex standen einladend offen. Das 400-Hertz-Summen des Frequenzumformers drang herüber. Die Sende-Empfangs-Kabine duckte sich mit offener Tür bewegungslos auf den ersten Hügel. Soweit Tanner das von hier aus erkennen konnte, kauerte Stationsleiter Frank Meisner im Halbdunkel vor dem Empfängerschrank.

„118,119…!“

Mit genau 120 Schritten war der Weg vom Fuß des Hügels hinauf zur Kabine zu schaffen. Das hatte Tanner schon zigmal ausprobiert. Dabei stellte er immer wieder stolz fest, dass er durch den kurzen Sprint nicht außer Atem geriet.

„Frank brauchst Du Hilfe?“, übertönte Tanner das Geräusch der Lüfter und das Summen der vielen 400-Hertz-Trafos in den Modulen der Kabine.

Diese Frage hatte er seinem Freund in den letzten Monaten schon oft gestellt. Wenn es irgendwie möglich war, hatte der das Angebot abgelehnt. Frank besaß einen starken Willen, gelegentlich bis zur Sturheit. Dabei musste er sich aus vielen Gründen nicht schämen, Hilfe anzunehmen. Die beiden jungen Offiziere trugen zwar denselben Abschluss, hatten sogar am selben Lehrstuhl studiert, doch war Frank schon früh in einen anderen Zug versetzt worden. Er hatte die Spezialisierung für den kleineren PRW-16 durchlaufen. In der Truppe wurde er dennoch Stationsleiter eines PRW-13, dessen Besonderheiten er sich nun mühsam nachträglich erarbeiten musste. Als Hilfsmittel standen ihm nur ein paar Fotoabzüge und Lichtpausen von handgezeichneten russischen Schaltbildern zur Verfügung. Diese gehörten, in zwei Segeltuchtaschen eingeschlagen, zur Ausrüstung der Station. Einige Hefte mit russischen Anleitungen lagerten aus Gründen der Geheimhaltung in der VS-Stelle.

Frank hatte sich in den ersten Monaten recht schnell in die wichtigsten Abstimmalgorithmen eingearbeitet, als ein weiteres wirklich gravierendes Problem massiv zutage trat: Sein Höhenmesser mit der taktischen Nummer 6749 war früher eine Austauschstation gewesen. Immer, wenn irgendwo auf dem Gebiet der DDR einer der insgesamt 60 PRW-13 zur Hauptinstandsetzung musste, wurde die 6749 als Ersatz genutzt. Zig Besatzungen hatten diese Station auf- und abgebaut, waren mehr oder weniger pfleglich mit den Baugruppen umgegangen, hatten dabei vielleicht funktionstüchtige gegen instabile Systeme ausgetauscht. Das Ergebnis war die 6749, eine „Funkmess-Hure“! Laufend fielen irgendwelche Systeme aus. Oft war die Ursache nicht eindeutig, so offenbar auch heute.

Frank nahm die Hilfe diesmal gerne an. „Du bist schon wieder da? War wohl doch keine Wartung in Müncheberg? Der Sender bringt die Werte nicht. Ich könnte verzweifeln, schon wieder der Sender!“ Wie diese Infos aus ihm heraussprudelten, musste der Kampf mit der Technik schon eine ganze Zeit andauern.

„Schalt die Kabine mal komplett ab. Wir starten in zehn Minuten neu!“ Natürlich wusste Tanner, dass ein einfacher Neustart der Systeme so gut wie nie den wirklichen Fehler beheben konnte, doch auch ihm war es bei langwierigen Fehlersuchen schon passiert, dass eine falsche Schlussfolgerung zu immer obskureren Erscheinungen führte. Nach dem unvermeidlichen Neubeginn der Messungen konnte das Problem oft in Minutenschnelle gefunden werden. Dies war allerdings nicht der Hauptgrund für den Vorschlag, die Kabine abzuschalten.

„Frank, wir müssen dringend reden! Hier sind Dinge im Gange, für die gibt es keine Erklärung!“ Tanner wusste, dass er sich auf seinen Freund hundertprozentig verlassen konnte, dennoch stockte er. „Ich erzähl Dir heute Abend alles. Jetzt nur so viel: Ich war seit Dienstübergabe hier bei Dir, weil es diese Probleme mit dem Sender gab, ok?“

„Kein Problem!“ Frank nickte.

„Jetzt erzähl mir noch kurz, was seit heute früh passiert ist!“

„Ich hatte im Mannschaftsbunker gerade mit der Ausbildung der Neuen angefangen, als Hartmann gesprintet kam. Eine Warnlampe hatte eine offene Tür am Magnetron-Schrank gemeldet. Der Sender ließ sich nicht hochfahren. Türen auf, Türen zu! Die Warnung war auf wundersame Weise weg, der Sender lief scheinbar normal. Trotzdem zeigten sich keine Sichtzeichen, keine örtliche Rose, kein Kontrollziel. Seitdem versuche ich das Problem in den Griff zu kriegen!“

Tanner wusste, dass sich sein Kollege viel strikter an die Abstimmvorschriften hielt, als er selbst dies jemals tun würde. Den mühseligen Abgleich noch mal durchzugehen, konnte er sich getrost sparen. „Hast Du am Eingang überhaupt ein Signal gemessen?“

„Nein, eben nicht!“

Tanner erinnerte sich an die unzähligen Fehlersuchstunden im Lehrkabinett an der Hochschule. Oft hatte Oberstleutnant Ringler, der gemütliche Dozent, sie auf seine Grundsätze zur Fehlersuchstrategie am PRW eingeschworen. „Es herrscht immer Zeitdruck, deshalb ist die Fehlersuche kein akademisches Lehrstück. Das Ergebnis zählt!“ Meist hatte er noch hinzugefügt: „50 Prozent der Fehlerursachen können Sie sehen oder riechen. 40 Prozent erkennen Sie nach dem Ausschlussprinzip durch den systematischen Austausch von Röhren oder Baugruppen. Vor den restlichen 10 Prozent schütze Sie der liebe Gott - oder Karl Marx!“ In den wenigen Monaten in der Truppe hatte er sich bestimmt hundertmal an genau diese Worte erinnert, und er hatte seinem Dozenten in Gedanken hundertmal recht gegeben.

Die beiden Offiziere hockten längst wieder in der aufgeheizten Sende-Empfangs-Kabine. Die Systeme waren inzwischen komplett hochgefahren. Am Empfänger regte sich … nichts!

„Frank, hast Du noch ein „Rosa Schweinchen“ in Reserve?“

„Klar, sogar zwei!“

Seit Frank Meisner bewusst geworden war, dass die Pannenserie seines PRW wahrscheinlich nie enden würde, hatte er keine Skrupel mehr, Ersatzteile zu hamstern. Der kommissarische Stellvertreter für Technik und Ausrüstung zeichnete aufgrund des fehlenden Durchblicks anstandslos jede Bestellung gegen.

Das keramische Wasserstoffthyratron, das die beiden Offiziere jetzt mit ein paar Handgriffen tauschten, war ein ganz zentrales Bauelement des PRW. In dem zylindrischen rosafarbenen Keramikkörper steckte ein kleines Wunderwerk. Das konnte Impulsleistungen von fast zwei Megawatt zaubern und tausend Ampere durchleiten. Es wurde aus einer Hochspannungsbaugruppe mit 25.000 Volt versorgt. Den hochenergetischen Impuls des Senders modulierte dann ein Magnetron, die Senderöhre. Der Sendeimpuls wurde in den Luftraum geschossen. Millisekunden später kam ein winziger Teil, reflektiert von einem Flugkörper, über die gleiche Antenne zurück und musste nun möglichst ungehindert zum hochempfindlichen Empfänger geleitet werden. Im Gegensatz zu den meisten Röhren, war dem Thyratron ein Fehler nicht anzusehen. Es bestand aus einem massiven Topf aus rauer, rosa Keramik, in den die Elektroden eingelassen waren.

Nachdem Meisner noch das Einbaudatum auf die Röhre geschrieben hatte, schloss er die beiden Flügeltüren des Modulator-Schrankes und verriegelte die Drehgriffe. Zeitgleich schlossen sich die Kontakte der Türsicherung und die Hochspannung begann zu arbeiten. Beide Offiziere schauten sich zur gegenüberliegenden Kabinenwand um. Dort, am Empfängerschrank zeigte sich sofort Leben.

„Geschafft!“

Über den robusten Feldfernsprecher in dem graubraunen Gehäuse meldete Frank Meisner die Einsatzbereitschaft seiner 6749, nicht ohne eine Information einzuflechten, die später noch wichtig werden könnte: „Hier 6749, Leutnant Meisner. Melde Ende der Instandsetzung. Schwerwiegenden Fehler in der Sende-Empfangs-Umschaltung gemeinsam mit Leutnant Tanner behoben. 6749, 15.18 Uhr voll einsatzbereit!“

„Das ist so bestätigt, quittierte Hauptmann Ingolf Malschke, der nur einhundertfünfzig Meter entfernt, tief unter der Erde die Luftlage koordinierte, in dem typischen Sprech der Diensthabenden. „Wieso mit Tanner? Der ist nach meiner Kenntnis in der 611 zur Sozialistischen Hilfe!“, kam es jetzt verwundert und nicht ganz protokollgerecht durch den schweren Hörer.

Tanner nahm diesen jetzt selbst ans Ohr. „Hallo Igor…!“ Eigentlich hatte seine Mutter den massigen Hauptmann mit den wenigen Haaren Ingolf getauft. Seit er regelmäßig das Zusammenwirken mit der 20. Gardearmee zu koordinieren hatte und die sowjetischen Freunde Ingolf zu Igor gemacht hatten, hieß er eben Igor.

„Ich konnte Frank doch nicht mit seiner Funkmess-Hure alleine lassen. Außerdem, was soll ich an der P-18 in Müncheberg schon ausrichten. Ich kann doch nur Röhren!“

Igor grunzte zufrieden. Er kam selbst von der P-18 und war voll und ganz davon überzeugt, dass die Meterstation mit den 16 Yagi-Antennen das Modernste war, was sich in den Funktechnischen Truppen drehte. „Jo, ich trag das dann mal so ein und wünsche noch einen wunderschönen Abend!“

„Einen wunder-wunderschönen Abend von uns hier!“, nahm Tanner die Floskel des Diensthabenden auf, die er eigentlich so nervig fand. „Übrigens ist es hier oben recht hell und das sicher noch ein paar Stunden! Aber das kannst Du natürlich nicht wissen!“

„Schon gut. Ende!“

Das war geschafft!

Ein paar Minuten arbeiteten die beiden PRW noch parallel, dann übernahm die 6749 planmäßig die Luftraumaufklärung. Hinter den Antennen beschrieb derweil die Nachmittagssonne in einem weiten Bogen ihren Weg in Richtung Biesenthal. Dort würde sie in knapp drei Stunden untergehen. Leutnant Tanner war unterwegs zu seiner eigenen Station, der 6752. Immer wieder zogen die Lichtreflexe der Sonnenstrahlen in den unzähligen eng gespannten Stäben der Parabolantenne seinen Blick an. Auch die hocheffizienten und aufs Genaueste mathematisch berechneten Formen der beiden ungleichen Antennen mit ihren Hohlleitern und Hornstrahlern konnten ästhetisch wirken! Die NATO hatte dem PRW-13 den vielsagenden Tarnnamen Odd Pair gegeben, was so viel wie „Seltsames Paar“ hieß.

Tanner hatte überhaupt keine Eile mehr. Der eigentlich freie Tag zwischen zwei planmäßigen 24-Stunden-Diensten war ohnehin fast um. Morgen früh, Punkt sieben würde er zur Vergatterung wieder hier sein.

In einer Stunde war er mit Frank zum Sport verabredet. Die beiden Stationsleiter wollten aber vor allem den heutigen Tag noch mal durchgehen. Es würde guttun, die Geschehnisse des Vormittags mit Frank zu teilen.

Wäre schön, wenn Kathrin jetzt da sein könnte, doch die steckt noch im Prüfungsstress und wird frühestens in zwei Wochen auf dem S-Bahnhof Bernau ankommen.

„Gut, dass Sie wieder da sind!“, riss ihn sein Truppführer aus den Gedanken rund um die Eleganz geometrischen Formen, den heutigen Abend und seine Freundin. Unteroffizier Peters hielt sich unter Zeugen korrekt an die Formen militärischen Auftretens. Waren sie alleine, legte Tanner keinen Wert auf die vorgeschriebenen Floskeln. „Ist ja gut, wo brennt´s denn?“

Peters schien aufgewühlt. So hatte Tanner seinen Unteroffizier eher selten erlebt. Jörg Peters war der Ruhepol, nicht nur im Kollektiv der 6752. Er verlor auch als Funkorter nie die Gelassenheit, egal, wie panisch die Stimme des Diensthabenden klang und wie unsicher die Koordinaten von den Rundblickstationen hereinkamen.

Jetzt aber war Peters nicht wiederzuerkennen. Er federte von einem Bein aufs andere, knüllte seine Feldmütze zusammen, als wollte er sie verknoten und er blickte auf seine Stiefelspitzen. „Ich darf darüber eigentlich nicht reden. Schäfer kam heute früh zur Wartung.“

Verwundert zog Tanner seine Stirn kraus. Was könnte der Hauptmann gewollt haben? Selbst hatte er den kommissarischen Stellvertreter für Technik und Ausrüstung nur selten an der Station erlebt, drinnen bezeichnenderweise noch nie. „Ich hoffe, es gab an der Bekleidung der Besatzung nichts auszusetzen und die Aufgabeneinteilung klang militärisch korrekt?!“

„Das hat den gar nicht interessiert.“ Peters stand mit hängenden Schultern vor seinem Stationsleiter. „Der Hauptmann hat mich gezwungen, die Reservefrequenz zu formieren!“

Tanner war kurz sprachlos. In die Stille purzelten aus Peters Mund nun die Satzfragmente, die er in stundenlangem Grübeln immer wieder durchgegangen war.

„Er hat es mir befohlen, … ließ sich nicht aufhalten, … keine Aufzeichnungen!“

Der Leutnant konnte seinen Blick nicht von der Sende-Empfangs-Kabine lösen, als wäre dort die Erklärung für Schäfers Handeln zu finden. Natürlich waren die jungen Offiziere dem krankhaft ehrgeizigen Hauptmann ein Dorn im Auge. Ihn ärgerte die fachliche Überlegenheit der frischen Hochschulabsolventen, ihr lockerer, aber umso effektiverer Umgang mit den Unterstellten und ihr Zusammenhalt. Wo es ging, hatte er versucht, seine eigenen Vorstellungen durchzusetzen, meist allerdings ohne Erfolg. Doch eine Erklärung für den massiven Verstoß gegen sämtliche Geheimhaltungsvorschriften gab das alles nicht her. Tanner war beunruhigt, wollte das aber nicht zeigen. Peters war ohnehin schon durcheinander.

„Nun erzählen Sie mal der Reihe nach!“ Tanners Ermunterung sollte möglichst beiläufig klingen.

„Ich hatte den PRW gerade zur Wartung abgemeldet, da stand Schäfer vor mir!“

Jedes Detail des merkwürdigen Besuchs hatte sich tief in Peters` Gedächtnis eingegraben. Er spulte die entscheidenden 15 Minuten jetzt herunter, erleichtert, die unangenehme Bürde loszuwerden.

Nur an einer Stelle hakte sein Stationsleiter nach. „Was hat der?“

„Er wollte wissen, nach welchem Winkel die Kabine beim Formieren des Magnetrons ausgerichtet sein muss. Das wusste ich natürlich nicht. Ich darf ja bei der Überprüfung nicht mal dabei sein, habe ich ihm gesagt. Dann hat er mir 261 Grad vorgegeben. Ich musste die Kabine dahin drehen lassen.“

„261? Das ist ja Wahnsinn!“ Tanner hörte bei den letzten Sätzen seines Unteroffiziers kaum noch hin. „Peters, Sie sprechen bitte mit niemandem über diese Aktion. Es war richtig, dass sie mich informiert haben! Wer weiß, dass Schäfer da war?“

„Unteroffizier Roloff, Gefreiter Damm und Soldat Hübner.“

„Gut! Wir treffen uns morgen früh zur Vergatterung. Sehen Sie zu, dass Sie ihre Feldmütze wieder gerade kriegen!“, setzte der Leutnant noch mit einem Augenzwinkern hinzu.

Peters drehte sich noch während der lediglich angedeuteten Grußerweisung erleichtert in Richtung Ausgang der Technischen Zone. Unten, gleich neben dem Wachlokal war der Speisesaal. Peters hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Jetzt spürte er seinen Magen und Bärenhunger!

Auch Leutnant Tanner schlenderte in Gedanken versunken Richtung Ausgang, als ihn eine unbestimmte Idee noch mal umkehren ließ. Er nahm die Betonplatten hinauf zu seiner Sende-Empfangs-Kabine.

„117 … 118 … 119…!“

Mit einem oft geprobten Schwung stand er auf dem nördlichen Ausleger der Lafette und schob den Drehgriff der Kabinentür nach oben. Der PRW war abgeschaltet. Keines der sonst zahlreichen Lichter glomm vor sich hin. Tanner griff links vom Türrahmen nach einem kleinen schwarzen Kästchen, der Taschenlampe. Die hing hier an ihrer Lederschlaufe und hatte durch das Hin- und Herpendeln einen liegenden Halbkreis in die hellgraue Kabinenwand geritzt. Der Lichtkegel wanderte durch die Kabine.

Nach dem Hochschlagen der Strahlenschutzdecke waren hinter den silbrig glänzenden Blechtüren des Magnetronschranks die beiden Hochleistungssenderöhren zu erkennen. Schräg eingebaut, liefen ihre Ausgänge auf eine Hohlleiterweiche zu. Die Röhren steckten jeweils in der Öffnung eines zentnerschweren Permanentmagneten. Auf dem Kopf war die russische Bezeichnung des Magnetrons MI-341 zu lesen. Auf die 341 folgte ein Buchstabe, der mit der fest abgestimmten Sendefrequenz zu tun hatte. Die wirklichen Frequenzen unterlagen höchster Geheimhaltung. Der obere Sender lief mit der sogenannten Friedensfrequenz.

Tanner konnte durch die Drahtglasfenster in den Schranktüren die Kennzeichnung der unteren Röhre nicht erkennen. Nach dem Öffnen der beiden Drehgriffe fiel der Lichtkegel der Taschenlampe auf „Z“. Beim Kontrollblick zur oberen Röhre durchfuhr es den Leutnant eiskalt.

„Z - heilige Scheiße!“, zischte Tanner. Er konnte nicht anders, obwohl diese beiden Worte sonst so gar nicht zu seinem Wortschatz gehörten.

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Abteilungskommandeur Finke hatte das Mifa-Rad seiner Frau aus dem Keller geholt. Ihm blieb nichts weiter übrig. Sein neues Rennrad stand noch vom Wochenende in der Gartenlaube.

War es richtig gewesen, sich hier gleich einen Kleingarten aufzuhalsen? Diese Frage stellte er sich in letzter Zeit häufiger. Noch vor einem Jahr war alles klar gewesen. Es sollte der letzte Schritt in Uniform sein. Acht Mal war er während seiner Dienstjahre umgezogen. „Genosse Finke, die Partei benötigt Ihren Einsatz an neuer Wirkungsstätte … Blabla!“ Die letzten fünf Mal war Regina mitgezogen, ohne zu murren, immer mit den Kindern. Die Mädels waren nun beide raus, gingen ihre eigenen Wege. Für ihn und Renate sollte es wirklich der allerletzte Umzug gewesen sein. Die Wohnungsverwaltung hatte auf dem Gelände der nicht mehr zu haltenden Altbauten in Bernau ein neues Stadtviertel mit Viergeschossern hochgezogen. Berlin war mit der S-Bahn schnell zu erreichen und der Beginn in der Fla-Raketenbrigade ließ sich gut an. Ein nagelneues Dienstgebäude war im Bau, der moderne Bunker fast fertig, leistungsstarke Technik geplant und gutes Personal versprochen!

Dann aber war es zu einer Verzögerung nach der anderen gekommen. Die endgültige Einbindung der Brigade ins Diensthabende System wurde immer wieder hinausgeschoben. Es gab Probleme mit den Schutzbauwerken, die versprochene Funkmesstechnik wurde durch Notlösungen ersetzt. Das alles waren Dinge, die hier keiner der Akteure zu verantworten hatte oder gar ändern konnte. Zum Brigadekommandeur hatten sie ausgerechnet den ehemaligen Regimentskommandeur Rockstroh gemacht, von dem es hieß, dass er diesen Posten nur unter Protest angenommen habe. Als es vermehrt Probleme gab, war der immer ungenießbarer geworden. Der Druck von oben wurde größer und Rockstroh wurde härter in seinen Anwürfen. Auch heute, während der Beratung im Stab hatte Finke kurz überlegt, ein Versetzungsgesuch einzureichen, den Gedanken dann aber schnell ad acta gelegt. Ein erneuter Umzug wäre ihm wie ein Verrat an seiner Renate vorgekommen. Finke straffte sich, sodass seine 1,87 m voll zur Geltung kamen, um sich dann auf das 26er Damenrad zu krümmen und über die F2 in Richtung Westen zu rollen.

An der Einmündung zur Ladeburger Chaussee kam einer seiner jungen Offiziere angeradelt. Dieser nahm sein Tempo etwas zurück. Sicher wäre es dem Finke peinlich, auf einem 26er Damenrad gesehen zu werden.

Wie der Affe auf dem Schleifstein!

Tanner war froh, dass ihn der unfreiwillig komische Anblick des Kommandeurs aus dem Grübeln gerissen hatte und setzte seine Fahrt die letzten 300 Meter mit neuem Schwung und einem Schmunzeln fort.

Die Augen des Habichts

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