Читать книгу Die Augen des Habichts - Arndt Matthias Heigl - Страница 14

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7. Kapitel

„Es gibt kein Geheimnis an sich, es gibt nur Uneingeweihte aller Grade.“

Christian Morgenstern

„Keine Vorkommnisse, Technik komplett einsatzbereit!“ Hauptmann Heinz Lange war von seinem Platz am Sichtgerät des Diensthabenden der Abteilung aufgestanden. Eine Hand an der Hosennaht, in der anderen den Telefonhörer, spulte er seinen Spruch runter. Der Lange Heinz, wie er hier genannt wurde, war permanent verkrampft, wollte besonders korrekt handeln und machte gerade deshalb öfter als nötig Fehler. Lang war er übrigens auch nicht. Heinz maß höchstens 1,65 m!

„Natürlich, Genosse Oberstleutnant. Kein Problem!“ Heinz drückte den schweren schwarzen Hörer in die beiden Mulden des Pultes und trennte die Leitung am rechts daneben liegenden Tastenfeld.

„Du sollst zum Chef! Der ist oben in seinem Arbeitszimmer!“ Heinz nickte kurz zu Tanner rüber und konzentrierte sich dann wieder auf die Luftlage. „Ich mach erst mal alleine weiter.“

Tanner war schnell vor der Tür. Um nach oben zu kommen, musste er den inneren Bereich des Bunkers, also den zweistöckigen Führungssaal, ein Stück weit umrunden. Dann führte sein Weg die Treppe hinauf. Die M 103, das Arbeitszimmer des Kommandeurs der Funktechnischen Abteilung, wurde normalerweise von den Diensthabenden genutzt. Nur bei Bereitschaftsstufe 1 war der Chef selbst vor Ort. Wie alle Räume in der weitläufigen Bunkeranlage, war auch dieses Zimmer spartanisch eingerichtet. Ein Tisch, zwei Stühle, eine Liege, geschmacklose Tapete bis zwei Meter Höhe und ein Spiegel, das war der ganze Luxus!

„Ja!“, tönte die sonore Stimme seines Kommandeurs, nur einen Augenblick, nachdem Tanner an der äußeren Tür M 101 mit der Tarn-Aufschrift „Med.-Punkt“ geklopft hatte. Hinter diesem Zugang gab es drei Räume: ein Lager, den Ruheraum des Brigadekommandeurs und eben die M 103, in deren Tür Oberstleutnant Finke jetzt auf den Leutnant wartete.

„Genosse Oberstleutnant, Leutnant Ta…“, weiter kam Tanner nicht. Finke hatte ihn mit einer einladenden Handbewegung unterbrochen. „Setzen Sie sich! Wie geht es Ihnen?“

Arndt Tanner war erstarrt. Er hatte sich auf dem Weg ein paar Fakten zum heutigen DHS-Dienst überlegt, zum Ausbildungsstand seiner Unterstellten, zum Ausfallgeschehen an seiner Station. Und nun kam diese Frage, die so gar nicht recht zu dem gut 1,85 Meter großen Hünen mit dem ernsten Gesichtsausdruck passen wollte. Der Kommandeur setzte sich auf den einen Stuhl an der Wand und wies Tanner den anderen zu.

Hat Finke etwa von den gestrigen Ereignissen Wind bekommen? Wird das ein Test? Hat sich Schäfer wegen der nicht durchgeführten Wartung in Müncheberg beschwert?

Tanner wurde es heiß unter dem musternden Blick seines Kommandeurs, hielt aber Augenkontakt. Plötzlich überkam ihn das drängende Bedürfnis, Finke einzuweihen. Er mochte die Geheimniskrämerei nicht - schon gar nicht gegenüber Menschen, die ihn immer fair behandelt hatten, die offenbar auch ihm vertrauten. Tanner atmete tief ein, wollte den Druck loswerden. Jetzt sofort!

Doch was wird Finke von ihm denken? Falsches Magnetron im Sender II, ein Überfall ohne Zeugen, ein Med.-Punkt-Aufenthalt ohne Papiere…?

„Wie sind Sie mit ihrer Wohnung zufrieden? Haben Sie sich in Bernau schon eingelebt?“

Nur langsam drangen die freundlichen Worte des gut zwanzig Jahre älteren Offiziers zu Tanner durch.

Sind das Einstiegsfloskeln in ein Disziplinargespräch? Nein, in den Fragen des Kommandeurs schwingt echtes Interesse mit!

Tanner hatte Mühe, sich auf das Thema einzustellen. „Also die Wohnung ist sehr gut. Es ist schon ein Gewinn, nach vier Jahren endlich wieder eigene Räume zu haben. Durch das Dienstregimes bin ich allerdings öfter hier als in der Brüderstraße.“

Tanner überlegte kurz. „Das geht aber allen so.“ Natürlich wusste er, dass das nicht stimmte. Die Dienstbelastung wirkte schon sehr unterschiedlich. Auf der P-37 teilten sich zwei Offiziere und ein Fähnrich die Aufgaben. Nachrichten machte überhaupt keine Dienste und die Automatisierten waren immer noch nicht im DHS. Frank Meisner und er wurden unterm Strich am häufigsten vor Ort gebraucht, doch Tanner wollte nicht jammern.

Finke nickte. Jetzt musste er seine Botschaft loswerden, ohne dem jungen Leutnant zu viel zu erzählen. Mit Otto hatte er sich gestern Abend im „Waldkater“ geeinigt, dass ein paar Andeutungen genügen sollten, um Tanners Erfindergeist zu aktivieren und in produktive Bahnen zu lenken. Außerdem wollte sich Finke beiläufig erkundigen, ob Tanner bereits an tauglichen Ideen arbeitete.

„Sie haben doch in Kamenz eine Störschutzapparatur entwickelt. Wie funktioniert die eigentlich?“

Tanner ahnte, dass es dem Kommandeur unmöglich um den mathematischen Hintergrund gehen konnte. Finke wollte sicher eher den Praxisbezug hören.

„Im Prinzip funktioniert das System genauso, wie auch die großen analogen Baugruppen und Module auf den Stationen: Die von den Zielen reflektierten Signale werden mit denen der letzten Abtastungen verglichen. Nach bestimmten Algorithmen unterscheidet das System zwischen Flugkörpern und Störsignalen. Neu bei meiner Schaltung ist, dass die Speicherung voll digital funktioniert. Ich brauche weder die Tröge mit dem Quecksilber noch die mechanischen Laufzeitketten, um die alten Signale für den Vergleich mit den neuen zu speichern. Außerdem geht es nicht nur um die Unterschiede zwischen der aktuellen und der vorherigen Abtastperiode. Ich kann, wenn ich genügend digitalen Speicher habe, alle Luftlage-Informationen bis zu einer Minute einfrieren. Damit lässt sich ganz sauber zwischen Zielzeichen und Störsignalen unterscheiden. Auch die Entdeckung eines Störträgers müsste ohne manuelle Peilung funktionieren.

Die gesamte Technik ist so groß wie ein normaler Personal-Computer und ersetzt mehrere Schränke mit Störschutzapparaturen. An der OHS habe ich ein Demogerät gebaut, an dem ich die prinzipielle Funktion belegen konnte.“

Finke schien sichtlich beeindruckt. „Das funktioniert wirklich?“ Er hatte sich in die Abschlussarbeit des damaligen Offiziersschülers eingelesen, als er zur Kadersichtung in Kamenz war. Allerdings konnte er die mathematischen Herleitungen nur schnell überblättern. Auch mit den digitalen Prinzipschaltbildern wusste er nichts anzufangen. Hermann Ringel, ein ganz früher Weggefährte aus den Anfängen der Funktechnischen Truppen, hatte ihm die Arbeit überreicht. Ringel, der als Dozent in der Sektion FuTT auch Tanner unterrichtete, hatte damals scherzhaft gemeint: „Also, in meiner Ausbildung hat der das bestimmt nicht gelernt! Gib dem Tanner ein paar Wundertüten aus Wermsdorf und der baut Dir die erste funktionstüchtige Funkmessstation, die auf einen Handwagen passt!“

Finke hatte nicht viel auf diese Expertise gegeben. Er brauchte schließlich truppentaugliche Offiziere und keine Elektronikbastler. Nach dem gestrigen Gespräch mit Otto sah er das nun allerdings aus einem anderen Blickwinkel.

Tanner antwortete auf die Frage zur Funktion der Schaltung nach kurzem Überlegen mit den fast gleichen Worten, die er auch zur Offiziersprüfung am Ende seines Vortrags an die Mitglieder des staunenden Prüfungsgremiums gerichtet hatte: „Entscheidend ist die Speicherung einer unvorstellbaren Datenmenge, die erst durch den konsequenten Einsatz der Digitaltechnik möglich wird. Die intelligente Arbeit realisiert dann eine Software, die ständig an die neuen Anforderungen angepasst werden kann. Das ferne Ziel muss ein selbstlernendes System sein, das in Sekundenbruchteilen auch neueste und noch raffiniertere Störungen erkennt und unterdrückt.“

Finke hielt seinen Kopf etwas schief und hatte das linke Auge leicht zusammengekniffen. Aus dem kleinen Spiegel, der ihm gegenüber hing, blickte ihn jetzt sein ratloses „Ich“ an. Gestern noch hatte er auf dem Heimweg vom „Waldkater“ die ganze Geschichte als weniger wichtig eingeordnet. Heute Morgen war er lange in seinem Dienstzimmer hin und her getigert, hatte gegrübelt, wie er diesen Leutnant am besten „in die Spur“ schicken könnte. Dann war er ins D-Objekt gefahren, um das Gespräch hinter sich zu bringen. Er wollte sich auf seine Erfahrung und sein Gespür verlassen, fühlte sich nun aber gnadenlos überfordert.

Ist es nur die Spinnerei eines Tüftlers oder tatsächlich entscheidend für den Ernstfall?

Finke tendierte inzwischen zu Letzterem.

„Haben Sie das System weiterentwickelt?“ Finke hatte sich jetzt vorgebeugt. Normalerweise saß er ebenso kerzengerade, wie er auch ging und stand. Sein Rücken schmerzte beim Krümmen, und das schon seit Jahren.

„Die Demo-Apparatur steht in Kamenz im Lehrstuhl. Ich habe nur die Durchschläge eines kleinen Teils der Dokumentation. Zurzeit baue ich einen PC, komme aber nicht so richtig voran. Nächste Woche will mir der Zahnarzt der Dienststelle ein paar ausgemusterte 0,8-er Bohrer geben. Dann könnte ich in vier Wochen mit dem Bohren der Leiterplatte, dem Bestücken und dem Testen fertig sein. Das Netzteil ist schon komplett und der Vater meiner Freundin bastelt an seinem Arbeitsplatz in der Rapido-Waagenfabrik am Gehäuse. Mit dem PC könnte ich dann auch am Projekt weitermachen. In zwei Jahren soll es doch den 1-Megabit-Chip geben. Dann ist auch die Speicherung von mehreren Minuten kein Problem mehr!“

Finke schüttelte ungläubig den Kopf. „Einen PC? So richtig mit Bildschirm und Tastatur?“

„Ja genau! Schöner wäre es, man könnte einen industriell gefertigten Rechner kaufen, doch daran ist derzeit nicht zu denken. RFT bekommt nicht mal den Produktionsstart des ersten DDR-Walkman hin. Robotron hat letztes Jahr die Prototypen des PC-1715 ausgeliefert, mit gerade mal 64 KB RAM, das ist zu wenig!“

Tanner war sich nicht sicher, ob sich der Kommandeur wirklich für das Hobby seines PRW-Stationsleiters interessierte und kam nach kurzer Überlegung zu dem Schluss, dass dies eher unwahrscheinlich war. Deshalb setzte er noch hinzu: „Natürlich ist das eine reine Freizeitbeschäftigung. Und die Arbeit hier draußen geht ja sowieso vor!“

Finke war in Gedanken weit weg. Plötzlich straffte er sich.

Zum Teufel mit Otto, so wird das nichts!

Er hatte den Entschluss gefasst, mit diesem jungen Offizier Klartext zu reden, soweit dies möglich war und zwar so schnell es ging!

Hinter Finke an der äußersten Kante des kleinen Tischchens, das hier als Schreibtisch dienen sollte, schnarrte das orange Telefon. Nach dem zweiten Signal nahm er ab. Am anderen Ende mühte sich der Diensthabende, der Lange Heinz: „Genosse Oberstleutnant, keine Vorkommnisse, Diensthabender FuTA Hauptmann Lange.“

„Schon gut, was gibts?“

„Ich wollte fragen, ob für Leutnant Tanner ein Ersatz nachgezogen werden soll - für den Dienst heute?“

„Wieso das?“

„Hauptmann Schäfer behauptet, Tanner wurde von Ihnen bestraft, weil er gestern nicht nach Müncheberg gefahren ist.“

„Vorher wäre der Schäfer dran, dieser Schleim…! Vergessen Sie das! Und nein, Leutnant Tanner ist in fünf Minuten wieder an seinem Platz. Wie lange sind wir heute mit großen Mitteln in der Plangrafik?“

„Bis 20 Uhr, Genosse Oberstleutnant!“

„Gut!“

Finke legte nachdenklich auf.

Schäfer, dieser Idiot! Es sind nicht die jungen Offiziere, die Probleme bereiten bei der Formierung der Abteilung - da wird Otto wohl doch recht behalten!

„Leutnant, Sie lösen jetzt den Hauptmann Lange ab. 20.30 Uhr treffen wir uns in der ABC-Aufklärung und setzen unser Gespräch fort. Sie wissen, wo das ist?“

„Jawoll!“ Tanner schnappte sich seine Mütze und nahm dann zur Grußerweisung kurz die Grundstellung ein, vollführte eine perfekte 180-Grad-Drehung und huschte durch die zwei Türen hinaus in den oberen Ringflur des Bunkers. Auf der Treppe kam ihm Hauptmann Schäfer entgegen. Schon vor dem Podest reckt der seinen Hals um die Ecke.

Wie ein Geier!

Tanner schmunzelte, als sich beide begegneten. Schäfer verstand nun ganz augenscheinlich die Welt nicht mehr.

„Und, Kopf noch dran?“, wollte der Lange Heinz wissen.

„Ja, warum denn nicht?“, fragte Tanner zurück. Lange zuckte nur mit den Schultern und deutete auf die Karte mit der Luftlage.

„Einmal E-3A in der nördlichen Zone, einmal RC-135 und die F-4 ist gerade im Norden raus. Ich geh dann mal zum Mittagsmahl!“

Tanner nickte. Das Funktechnische-Bataillon 61 arbeitete derzeit offenbar mit der Luftlage der KABINA. Sollte jetzt eine SR-71 einfliegen, wäre dies kein Problem für die Mannschaft in Wusterwitz. Tanner wies der eigenen Meterstation zwei Zielnummern zu, dann hörte er in die Drahtverbindung hinein. Ihn interessierte, ob neben dem gleichmäßigen Singsang der Daten der Rundblickstation in den kurzen Pausen die Höhenwerte seines PRW exakt kamen, „92-125-140… 065… 97-203-075… 080“.

Alles im grünen Bereich!

Tanner streckte sich am Sichtgerät, als wollte er die massiven Griffe aus dem schweren Gehäuse herausreißen.

20.30 Uhr, ABC-Aufklärung!

Er war neugierig auf das, was dem Finke offenbar so wichtig erschien und ein bisschen stolz war er auch, dass sich der Kommandeur für das PC-Projekt interessiert hatte.

„Wann wo-wollen Sie endlich den Drehmelder anschließen, Ge-genosse Leutnant?“ Unbemerkt war Hauptmann Schäfer hinter Tanners Arbeitsplatz aufgetaucht. Eigentlich war dies unmöglich, da direkt hinter dem Stuhl des Diensthabenden eine Zwischenwand verlief, die den Führungssaal von der Jägerleitstelle und dem System PORI abtrennte. Tanner gab sich wenig beeindruckt:

„Vorgestern DHS-Dienst, gestern Ausfall 6749, heute DHS! Sobald ich Zeit habe, können wir starten!“

„A-a-a!“ Schäfer winkte resigniert ab und verschwand aus dem Führungssaal. Er hatte sich wohl nur abreagieren wollen.

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Am Haupttor des Kasernengeländes stoppte ein grün lackierter Lada. Ein fülliger Oberst mit vollem grauem Haarschopf schälte sich vom Beifahrersitz, fischte eine flache Aktentasche, die mit einer Petschaft versiegelt war, von der Rücksitzbank und schlenderte in Richtung Posten. Der Gefreite hatte diesen Offizier noch nie gesehen, auch konnte der sich nicht mit einem Objektausweis legitimieren. Mühsam kramte der Oberst einen Berechtigungsschein aus der inneren Jackentasche. Dieser wies ihn als Kontrolloffizier der 1. Luftverteidigungsdivision (mit Betretungsrecht für alle Objekte der 1. LVD) aus.

„Danke Genosse Oberst!“, salutierte der Posten.

Der nickte nur flüchtig und hatte die nächsten dreißig Meter auf der Ringstraße mit dem umständlichen Einstecken des Berechtigungsscheins zu tun.

An einem Fenster im Erdgeschoss des Gebäudes der Funktechnischen Abteilung begleiteten den Gast bereits zwei Augenpaare. Die Majore Vetter und Mummert tauschten einen Blick und atmeten fast gleichzeitig noch mal tief durch, bevor sich der ältere Vetter an einen Besprechungstisch setzte. Er begann, fahrig in einer Akte zu blättern, ohne den Inhalt wirklich zu erfassen. Mummert eilte auf die doppelt gesicherte Eingangstür zu und begrüßte den Gast aus dem fernen Cottbus: „Guten Morgen, Genosse Oberst!“

„Mir fällt da überhaupt nichts ein, was an diesem Morgen gut sein soll!“, legte der Oberst den Grundton der kommenden Diskussion fest. Wolfgang Hentschel hasst es, die unterstellten Bereiche der Verwaltung 2000 zu besuchen. Wozu gab es schließlich sichere Telefone? Wenn schon der persönliche Kontakt nötig wurde, dann zitierte er seine Unterstellten einfach in die Zentrale. Erst gestern war Klaus Mummert aufgetaucht, hatte ihm das Beinahe-Scheitern von Pingpong gebeichtet und ihm wirre Geschichten aufgetischt. Wegen der Tragweite der Operation war er nun doch selbst nach Ladeburg gefahren. Am Abend sollte es eine weitere Beratung mit der HVA geben.

Warum eigentlich? Es hat am Ende ja alles geklappt!

Hentschel verzog bei dem Gedanken an das abendliche Treffen sein Gesicht zu einer Grimasse. Er mochte sie nicht, die Edelgeheimdienstler von der Hauptverwaltung Aufklärung. Seine Gesichtszüge entspannten sich auch nicht, als er im letzten Dienstzimmer Major Vetter erspähte. Dieser löste sich von der Akte und begrüßte seinen Vorgesetzten mit Handschlag.

„Was beschert uns die besondere Ehre?“, versuchte er einen lockeren Einstieg ins Gespräch, brach aber angesichts der drohenden Grimasse auf Hentschels massigem Hals sofort ab. „Wen wollen Sie dabeihaben?“

„Alle Eingeweihten“, klang es jetzt etwas kontrollierter.

„Mummert, holen Sie noch den Neuen. Wir gehen in die 111!“ Mit einer einladenden Geste wies Vetter auf den Besprechungsraum genau gegenüber. Zwei Minuten später saßen vier Mitarbeiter der Verwaltung 2000, des Militärgeheimdienstes des MfS, auf grün gepolsterten Stühlen an dem länglichen Tisch. Oberst Hentschel hatte bereits das Siegel seiner Aktentasche gebrochen und zog nun eine dünne Mappe mit dem roten Aufdruck „GVS“ heraus.

„Pingpong!“ Hentschel versuchte Blickkontakt zu bekommen, doch alle drei Gesprächspartner schauten gebannt auf die Akte. Wie anfangen? Dieses Pokerspiel, das sich die HVA da ausgedacht hatte, war so gar nicht sein Ding. Hentschel liebte es, die in den Einheiten regelmäßig erstellten Dossiers, die sich „Stimmungs- und Meinungsbild“ nannten, auszuwerten. Er war effektiv, wenn es darum ging, die Eignung eines Offiziers für eine neue Aufgabe oder einen Akademiebesuch zu bestätigen oder abzulehnen. Er hatte in seiner 31-jährigen Dienstzeit beim MfS schon so ziemlich alles erlebt: Kompanien, die sich geschlossen zum Westfernsehen verabredeten, verschwundene geheime Dokumente, Fotoapparate in Führungsbunkern, Ansätze zur Meuterei in einer Fla-Raketenabteilung oder Westbesuch am Kasernentor! Mit all diesen Vorkommnissen war seine Truppe gut fertig geworden, doch das, was die sich mit Pingpong ausgedacht hatten, war ihm einfach zu komplex. Vetter räusperte sich. Mummert rutschte auf seinem Stuhl etwas nach hinten. Alle drei blickten inzwischen in Hentschels Gesicht mit den rot-geäderten Wangen.

„Soll ich versuchen, Joker zu erreichen?“, versuchte Mummert, die peinliche Stille zu beenden.

„Auf gar keinen Fall!“, fing sich Hentschel. „Bis auf Weiteres: keine aktive Kontaktaufnahme. Sollte Joker sich melden, haltet ihn möglichst auf Distanz!“

Hentschel straffte sich. „Genossen! Ich habe in ein paar Stunden Kontakt zur HVA. Ich weiß nicht, was die noch wollen. Auf jeden Fall aber geht es um Pingpong. Wir sollten alles noch mal durchgehen, damit wir keine Überraschungen erleben.

Also: Joker hat am Montagabend die Info bekommen, dass am Dienstag an der 6752 die Überprüfung der Kriegsfrequenz auszuführen ist. Noch in der Nacht hat er vereinbarungsgemäß am „Alexgrill“ Kontakt zu Lilly aufgenommen und am frühen Morgen den Stationsleiter abgezogen. Der Zeitpunkt der Frequenzüberprüfung ist offenbar rechtzeitig in der Villa von Diringshofen angekommen, jedenfalls verließ der Range Rover mit dem Kennzeichen 26 genau 06.18 Uhr die Basis. Meine Leute waren bis Bernau dran. MVM-Alarm wurde von einem ABV in Karow ausgelöst. In Ladeburg wollte ein übereifriger VP-Helfer das Fahrzeug stoppen. Die Amis hatten glücklicherweise die Chance, mit Allrad durch den tiefen Sand des Sommerwegs zu entkommen. 08.21 Uhr habt ihr dann die Observation übernommen!“

„Tja…“, seufzte Mummert, „ich war mit dem zugeteilten Spezialisten aus Ihrer Dienststelle vor Ort. Unseren Wartburg hatten wir an der Baustelle abgetarnt, dann sind wir zu Fuß zum angegebenen Standort der Amis. Wir sollten ja unerkannt auf Abstand bleiben. Gleich an der zweiten Baumreihe lehnte ein Fahrrad. Wir sind vorsichtig weiter rein ins Unterholz und ich wäre fast über diesen Leutnant Tanner gefallen. Irgendwie muss der uns bemerkt haben und wollte wohl zu den Amis rüber, wollte überlaufen, oder was auch immer!“

Mummert hatte sich diese wenigen Augenblicke hundertmal durch den Kopf gehen lassen. Es ergab alles keinen Sinn! „Wir haben den Tanner dann in den Med.-Punkt mitgenommen.“

„Vorher hat der aber noch meinen Mitarbeiter für Tage dienstuntauglich geprügelt!“, fauchte Hentschel gallig.

Mummert zog bedauernd die Schultern hoch. „Wenn sich Ihre Nahkampfspezialisten von einem Ingenieur derart zurichten lassen, sollten Sie mal den Dienstsport in Cottbus unter die Lupe nehmen!“

Hentschel winkte nur müde ab. „Entscheidend ist doch: Haben die Amis von der Keilerei was mitbekommen oder nicht? Hatten die erfolgreiche Messungen?“

„Die Amis haben sicher nichts gemerkt. Den Rest weiß der Geier, oder nicht mal der!“, mischte sich Major Vetter ein. „Mich würde mal interessieren, wer sich diesen Mist ausgedacht hat. Sonst internieren wir bei Frequenzüberprüfungen aus kompletten Wäldern die Pilzsammler und verscheuchen mit hanebüchenen Geschichten die Genossenschaftsbauern von den Feldern. Hier tun wir alles, damit die CIA in aller Ruhe die Kriegsfrequenzen ausspionieren kann. Was soll das?“

Hentschel schlug den Deckel der Pingpong-Akte auf und zu. „Ich weiß auch nur das, was die HVA uns in der Aufgabenstellung rübergeschickt hat. Für mich ist Joker der Dreh- und Angelpunkt.“

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Der Lange Heinz stand nun schon eine gefühlte Ewigkeit neben Arndt Tanner. „Pass auf, dass Du kein Loch in die Karte stierst“, meinte er jetzt gutmütig. „Willst Du zuerst oder soll ich?“ Der untersetzte Hauptmann hatte immer Hunger und derzeit war die richtige Zeit fürs „Nachtmahl“. Die 24-Stunden-Besatzungen hatten Anspruch auf eine zusätzliche reichhaltige Mahlzeit.

„Geh mal als Erster. Ich habe noch gar keinen Appetit!“ Arndt Tanner wusste, dass ihn das abendliche Rührei mit Speck schläfrig machen würde, außerdem spannte der Hosenbund schon merklich. Er hatte durch die vielen Dienste zugenommen. „Ach, Du kannst meine Portion mitessen!“

Tanner konzentrierte sich auf die Plexiglasfront. Nur auf der großen mittleren Karte mit der Gesamtluftlage bewegten sich um diese Zeit mehr als eine Handvoll Flugzeuge. Nichts, was auf eine baldige Alarmierung hindeutete. In Tanner hallte das Gespräch mit Kommandeur Finke nach. Er zwang sich, die kleine Aktenmappe hochzuholen und aufzuklappen. Er rutschte mit seinem hochlehnigen Stuhl vom Sichtgerät hinüber zum Arbeitstisch. Ganz oben auf dem Stapel mit diversen Unterlagen fand sich die Vorbereitung für die morgige Ausbildung, die er vor den Soldaten der Kompanie halten sollte. Es würde um Grundlagen der Funkmessortung und Gefechtseigenschaften gegnerischer Flugzeuge gehen. Die Funkorter sollten auf die nächste Stufe ihrer Klassifikation vorbereitet werden. Bis auf die kleinen Besatzungen der Höhenmesser, die zumindest auf ihrem Weg zu den Sichtgeräten einen kurzen Blick in den Gefechtssaal mit der riesigen Kartenfront erhaschen konnten, hatten die Soldaten und Unteroffiziere keinerlei Zugang zum Gefechtsbunker der 41. Fla-Raketenbrigade. Jeder sollte nur genau das wissen, was er für seine Diensterfüllung unbedingt benötigte. Tanner hielt das für falsch oder zumindest für ineffektiv. Er wollte, dass seine Ausbildung interessant war und er würde sich etwas einfallen lassen für morgen.

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20.00 Uhr. „Fernsehprogramm 79, die 3281 und die 6752 gehen in B-2.“

„Das ist verstanden, 3281 und 6752 in B-2!“

Tanner notierte die Meldung und gab dann den Befehl zum Ausschalten und zur Einnahme der Bereitschaftsstufe 2 an die beiden derzeit arbeitenden Stationen weiter. Vor ihm auf der zwölf Meter breiten und sechs Meter hohen Plexiglaswand wurde jetzt nur noch die große Luftlagekarte bedient. Die Informationen kamen aus Müncheberg. Die E-3A des NATO-Systems AWACS zog immer noch auf ihrer Bahn gegen den Uhrzeigersinn um Rotenburg und Hameln. Die RC-130 hatte offenbar den Rückflug nach England angetreten. Ansonsten waren nur noch zivile Maschinen unterwegs.

Die Nacht würde wohl eher ruhig werden.

Der Diensthabende der Brigade beugte sich über das große Kreuzworträtsel aus der Wochenendausgabe des ND und Heinz Lange vertiefte sich gerade in die russische Dokumentation des Systems PORI. In zwei Wochen standen die ersten Zulassungsüberprüfungen an. Spätestens Ende des Jahres sollte dann auch automatisiert gearbeitet werden. Heinz wollte die erste Nachthälfte übernehmen. Tanner tippte ihm auf die Schulter und deutete mit dem rechten Zeigefinger nach oben. Dort waren drei Fenster in dem Glasband der inneren zweiten Etage schwach erleuchtet - das Lagezentrum der ABC-Aufklärung. Tanner hatte Heinz schon am Nachmittag informiert, dass er ab 20.30 Uhr dort oben sein würde.

Vorher nahm er die vier Stufen zum Zwischengeschoss mit zwei Schritten. In der Jägerleitstelle rieb sich der Gefreite Damm die Augen. Er hatte vier Stunden lang die Höhen zu unzähligen Zielen bestimmt. Das ständige Auf und Ab des Auslenkstrahls auf dem abgesetzten Sichtgerät des Höhenmessers strengte an.

Tanner legte seinem Gefreiten die Hand auf die Schulter. „Alles klar zu Hause?“ Der Gefreite war seit dem letzten Kurzurlaub ungewöhnlich still. Keine der sonst üblichen grenzwertigen Bemerkungen war über seine Lippen gekommen.

Jetzt zog er unsicher die Schultern hoch. „Ich warte auf Post. Sie hat seit dem Urlaub noch nicht geschrieben.“

Tanner nickte. Das kannte er. Die Briefe waren die einzige Verbindung zur Außenwelt, zur Freundin. Blieben sie aus, wurden die eigenen nicht beantwortet, kreisten bald alle Gedanken nur noch darum. Die Zeit bis zur Postverteilung zog sich unendlich hin. Wenn dann wieder kein Brief dabei war, wanderte der Kloß im Hals nach oben und man war versucht, davonzulaufen. Stattdessen wurde volle Konzentration verlangt. Tanner hatte das im Studium selbst oft genug genau so erlebt und konnte sich gut in den fast gleichaltrigen Gefreiten hineinversetzen. „Ist die heutige Post schon durch?“

„Sicher! Ich war ja aber seit Mittag nicht oben.“

Tanner warf durch das Fenster der Trennwand einen Blick auf die große Uhr im Führungssaal.

„Spurten Sie los! In 15 Minuten sind Sie wieder hier. Bis dahin übernehme ich.“

Konrad Damm angelte seine Feldmütze vom Sichtgeräteschrank. „Danke!“ In weniger als drei Sekunden war er draußen auf dem Flur.

Arndt Tanner ließ den Blick durch den abgedunkelten Raum schweifen. Zentral standen die Sichtgeräteschränke der beiden PRW, die sie vor wenigen Wochen hier runtergeschleppt hatten. Daneben waren die Koppelblöcke aufgebaut, die die Höhenmesser mit dem Automatisierten Objekt verbinden sollten - vorausgesetzt, die Drehmelder wären irgendwann richtig verdrahtet.

Vor der Fensterfront, die den Blick in den Führungssaal freigab, standen zwei große STRELA-Sichtgeräte und eines von SENESCH, dazwischen der Kartentisch der Jägerleitoffiziere. Von hier aus sollten die fünf Steuermänner der Jägerleitstelle 31/3 schon bald die Maschinen aus Marxwalde und Holzdorf führen. Dies würde für die Funkorter noch mal eine ganz neue Erfahrung werden. In der Endphase des Luftkampfes waren die Höhenangaben von beteiligten Eigenen und Gegnern entscheidend. Vor allem die Differenzhöhen mussten genau stimmen. Tanners Funkorter hatten da noch keine Erfahrung. Er nahm sich vor, einen der nächsten Flugtage zum Trockentraining zu nutzen.

Der große Zeiger der Wanduhr rückte mit leichtem Nachzittern auf den 28. Strich. Tanner riss sich vom Anblick der Westeuropa-Karte neben den Jägerleit-Arbeitstischen los. Er wollte pünktlich im ABC-Raum sein. Raus aus dem Führungssaal, dann zehn Meter nach rechts. Hier bog der Flur erneut in die gleiche Richtung ab. Nach weiteren fünfzehn Metern führte links eine Treppe in das obere Stockwerk des Bunkers. Als Tanner die ersten Male hier unten gewesen war, hatte er sich gnadenlos verlaufen. Ihm war das Bunkersystem wie ein Termitenbau vorgekommen. Inzwischen hatten sich die paar markanten Punkte ins Unterbewusstsein eingegraben. Tanner wäre nun sogar im Dunkeln klargekommen, so musste das schließlich auch sein!

24 Stufen, dann wieder rechts und schon hatte er den ABC-Raum erreicht. Tanner klopfte. Zeitgleich kam aus der Druckschleuse eine Gestalt gesprungen und eilte in Richtung Treppe. Bevor Tanner auf das „Ja“ hinter der Tür reagierte, erkannte er noch, dass da der Gefreite Damm auf ihn zueilte und der schien völlig verwandelt. Er strahlte förmlich übers ganze Gesicht. Tanner lächelte immer noch, als er seinem Kommandeur gegenüberstand.

Die Augen des Habichts

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