Читать книгу Die Augen des Habichts - Arndt Matthias Heigl - Страница 12

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5. Kapitel

„Das Leben ist wie Schach, je mehr Züge man im Voraus kennt, desto weniger wird man von ihnen überfahren.“

Christian Trabucco

Das Fahrrad konnte heute draußen bleiben. Regen hatte es seit zwei Wochen nicht gegeben und auch in der kommenden Nacht würde sich dies nicht ändern. Arndt Tanner legte das Schloss um den Rahmen und den leicht verbogenen Fahrradständer am Eingang zur Brüderstraße 1. Während der vier Schritte zur Haustür warf er noch einen Blick auf das abgedeckte Motorrad, gleich rechts neben dem Eingang.

Alles in Ordnung!

Die rote TS-150 stand noch da wie abgestellt. Er nahm zwei Stufen auf einmal hinauf zur Wohnung im Hochparterre. Hinter der Tür wartete links eine möblierte Küche mit Blick zum „Steintor“ und rechts ein Wohn-Schlafzimmer mit dem Fenster zum großen Innenhof. Der sollte in den nächsten Wochen noch schön gestaltet werden. Eine Campingliege mit knallbuntem Blumenmuster war der einzige Einrichtungsgegenstand, wenn man von den beiden Obstkisten absah, die als Tisch und Stuhl dienen konnten. Uniformteile und Zivilsachen lagen säuberlich getrennt und exakt gestapelt auf Zeitungen entlang der Innenwand gleich neben der Tür. Gegenüber türmten sich Stapel unzähliger Bücher. Der Leutnant war vor sieben Wochen hier eingezogen.

Seine erste eigene Wohnung! Bisher war er nur zum Schlafen hier gewesen, und auch das gerade mal in knapp 20 Nächten. Trotzdem fand er es beruhigend, endlich der Kaserne wenigstens manchmal entkommen zu können. Vier Tage nach seinem 18. Geburtstag war er aus dem Dachgeschosszimmer in Kalkreuth ausgezogen. Drei Jahre hatte er in einer winzigen Vierbettstube auf dem Flur der 53. Kompanie der Sektion Funktechnische Truppen der Offiziershochschule „Franz Mehring“ in Kamenz verbracht, um dann als Offizier wieder in diversen Mehrbettzimmern, in Mannschaftsbunkern oder auf dem Schreibtisch im Dienstzimmer übernachten zu müssen.

Wenn Kathrin schon Sonnabend kommen kann, werden Möbel gekauft, ein Bett und ein Regal, vielleicht ein Kleiderschrank!

Tanner zog sich eine rote Turnhose und ein gelbes Hemd an. Die Standardbekleidung in den ASV-Farben gab es jedes halbe Jahr neu. Als Grundausstattung waren das zwei Hosen, zwei Hemden und ein brauner Trainingsanzug sowie schwarze Turnschuhe gewesen. Inzwischen besaß er acht Hosen und Hemden, wobei die von der Einberufung zwar immer noch passten, allerdings schon ziemlich ausgeblichen waren.

Mit Schwung zog er die Tür hinter sich zu und band die blauen Laufschuhe an der oberen Treppenstufe noch mal nach. In der Freizeit mied er die NVA-Turnschuhe. Die harten schwarzen Sohlen verursachten Rückenschmerzen, das galt als sicher!

Locker trabte Arndt Tanner die Brüderstraße hinauf und musste dabei drei Trabis und einen Wartburg umkurven. Noch waren nicht alle Wohnungen bezugsfertig.

In einigen Wochen wird es hier enger werden!

Rechts ging es zum Stadtwall. Tanner bog links ab. Im zweiten Aufgang der Breiten Straße waren von acht Wohnungen inzwischen drei bezogen. Auf das Klingeln hin klappte eine Tür und drei Sekunden später kam Frank Meisner aus dem Eingang gewirbelt.

„Sport frei!“, tönte der gut gelaunt, als würde er eine ganze Kompanie zum Dienstsport begrüßen. Die Strecke stand fest: drei Kilometer auf dem Wall! Frank wohnte mit seiner Familie schon etwas länger hier und hatte den Rundkurs mit dem Fahrradtacho exakt ausgemessen. Seit sieben Wochen liefen sie nun oft gemeinsam, zumindest immer, wenn beide Offiziere gleichzeitig dienstfrei hatten, doch das war bestenfalls an jedem dritten Tag der Fall.

Frank gab das Tempo vor. Trotz seiner gut zehn Kilo mehr auf den Rippen schien es ihm nichts auszumachen, regelmäßig die Norm für die Eins zu toppen. Er hatte früher aktiv Fußball gespielt, auch in den Jahren in Kamenz. Jetzt in der Truppe gab es kaum noch Dienstsport. Die Soldaten waren oft wochenlang in der Technischen Zone. Dort fand außer DHS und Wartung maximal noch der Theorieunterricht statt. An Ausdauersport war gar nicht zu denken. Ein kleiner Ausgleich für die beiden Offiziere war die Nutzung des Fahrrads von Bernau bis zur Dienststelle und zurück.

Arndt Tanner verzog das Gesicht. Seine rechte Schulter protestierte inzwischen deutlich gegen die stauchenden Schritte. Es ging vom Wall hinunter: Schrittgeschwindigkeit, auspendeln und tief durchatmen. Frank war da konsequent.

Eine Minute später zuckelten sie wieder über die Breite Straße. Frank schloss die Eingangstür auf. Es ging hinab in den Keller. Dieser war zum Flur hin mit einer massiven Tür abgeschlossen. Das Licht einer Neonröhre flammte auf. Drinnen gab es vier, mit Latten abgetrennte Verschläge. Frank öffnete den Bereich gleich rechts. Hier wartete der zweite Teil der Sportstunde. Ein Heizungsrohr diente als Reckstange und dann lagen da noch ein paar Eisenteile, die als Hanteln genutzt werden konnten. „Stationsbetrieb Kraft“ hieß das Ganze. Ohne viele Worte wechselten sich die beiden Freunde an den Geräten ab. Im Radio lief DT-64. Nach einer Viertelstunde ließ sich Arndt Tanner das dritte Mal vom Heizungsrohr fallen. 16, 14 und 12 Klimmzüge sollten heute reichen. „Frank, wir müssen reden!“

Frank Meisner hatte sich auf einen Hocker gesetzt und angelte zwei Berliner Pilsner aus dem kleinen Schrank in der Ecke.

„Gestern war alles noch normal. Dann kam in der Nacht der Anruf von Schäfer, dass ich heute die Wartung in Müncheberg übernehmen soll. Mit dem Kompaniechef würde er das klären. Ich sollte mich unbedingt gleich nach der Dienstübergabe auf den Weg machen.“ Tanner schilderte sein schmerzhaftes Erlebnis im Wald und die anschließenden Merkwürdigkeiten im Med.-Punkt.

„Hast Du die MVM gemeldet?“

„Nein. Dann hätte ich ja auch den Rest erklären müssen. Wer soll mir das glauben?“

Frank nahm den ersten Schluck aus der braunen Flasche und nickte: „Was denkst Du? Was wollten die ausspionieren?“

„Da bin ich mir inzwischen ganz sicher, doch das macht die Sache nicht einfacher!“ Auch Arndt Tanner nahm einen ersten Schluck. „Heute war bei der Wartung eigentlich die Formierung des Reservesenders dran. Ich hatte Peters aber noch ausdrücklich davor gewarnt, das zu tun.“

„Und er hat es trotzdem gemacht, ausgerechnet Peters?“

„Schäfer hat ihn gezwungen!“

Frank stellte seine Flasche auf dem Boden ab, stand auf und begann kopfschüttelnd um seinen Hocker zu kreisen. „Was soll das alles für einen Sinn haben?“

„Das wird noch komplizierter! Schäfer hat Peters verboten, die Kontrolle des Reservemagnetrons in das Wartungsprotokoll einzutragen und er hat ihm verboten, darüber zu reden.“

„Schäfer ist ein Arsch, aber das ist kein Spaß, das ist ein grober Verstoß gegen VS-Regeln. Weiß der das vielleicht nicht? Der hat doch als WP-Mann nie etwas mit geheimen Sendefrequenzen zu tun gehabt. Oder will der Dir anhängen, dass Du den Peters trotz des Verbots eingewiesen hast?“

„Das war auch mein erster Gedanke, doch Peters wusste den sicheren Drehwinkel nicht. Schäfer hat ihm 261 Grad befohlen. Und er hat nicht auf Äquivalent umschalten lassen.“

„Wahnsinn! Antennenabstrahlung der Reservefrequenz und dann noch in Richtung West?!“

„Genau genommen in Richtung Biesenthaler Weg, wo zeitgleich die Messantenne der MVM aufgebaut war, zumindest in etwa.“

„Sollten wir das nicht heute noch melden, eh uns das alles um die Ohren fliegt? Immerhin ist die Reservefrequenz nun enttarnt. Was kostet so ein Magnetron eigentlich? Und das Ganze mal 60, allein in der NVA! Im Ernstfall stehen wir auf beiden Frequenzen im Dunkeln. Bis die Magnetrone überall gewechselt sind, ist der erste Luftschlag lange über uns weg!“

„Und trotzdem wird in den NATO-Annalen über diesen Luftkrieg stehen: „Die Partie begann schon am 10. Juni 1986 … mit dem Schäferzug!“ Tanner lachte laut los über seinen eigenen Witz.

„Eh, ich finde das überhaupt nicht zum Lachen!“

„Wirst Du aber, wenn ich Dir alles erzählt habe!“ Beide hatten inzwischen ihre Flaschen geleert. Entgegen sonstiger Gewohnheit öffneten sie keine weiteren.

„Bevor ich heute aus der Technischen Zone weg bin, habe ich überlegt, dass ich den Senderschrank noch mal kontrollieren sollte. Du glaubst gar nicht, was ich da entdeckt habe! Wir beide sind schon jetzt die unfreiwilligen Helden der ersten Luftschlacht!“ Und wieder begann Tanner zu lachen. „Erinnerst Du Dich an den Ausfall Deiner Station zu Pfingsten?“

Und ob sich Frank erinnerte! Sein PRW hatte erstaunliche 48 Stunden ohne Havarie gearbeitet. Es war der erste Sonntag, an dem er mit Ina und seinem kleinen Sohn Robert auf der Terrasse an der neuen Wohnung den Frühstückstisch gedeckt hatte. Die Sonne schielte schon seit sieben in die Schlafzimmerfenster. Es sollte ein wunderschöner Frühlingstag werden. Gerade, als er den Topf mit den drei Eiern vom Herd nehmen wollte, klingelte es. Durch das Küchenfenster konnte er den grünen Wartburg aus dem Fuhrpark des Stabes gut sehen. Er hatte sich noch schnell von Ina verabschiedet.

„Guten Morgen, Genosse Leutnant! Es tut mir leid, ein Ausfall.“

„Schon gut!“, hatte er abgewunken und sich auf den Beifahrersitz geschwungen.

Hinten sitzen Kommandeure!

Die Fehlersuche an diesem Pfingstsonntag hatte sich hingezogen. Gegen Mittag konnte die Zentimetertechnik in Bereitschaftsstufe 2 gehen und ausschalten.

„Igor, ich geh mal raus und helfe dem Frank, damit die 6749 wieder flott wird!“, hatte sich Tanner damals beim Diensthabenden abgemeldet. Auf Station fand er einen verzweifelten Frank vor. Obwohl dieser alle Systeme schon mehrfach überprüft hatte und die Hochspannung lief, arbeitete das Magnetron, die Senderöhre, offenbar nicht. Der PRW brachte keine Sendeleistung auf die Antenne. Frank sah wie ein begossener Pudel aus. Auf dem geriffelten Gummibelag der Kabine zeichneten sich glänzende klebrige Pfützen ab.

„Du hast ja das Magnetron schon gewechselt!“, hatte Tanner lakonisch festgestellt und sich demonstrativ umgeschaut.

Frank hatte genickt. „Ich weiß jetzt, wie das Antifries schmeckt! Ich habe eine ziemliche Ladung abgekriegt.“

„Nicht so schlimm. Das Zeug ist doch nicht giftig, nur eklig süß! Ich habe das auch schon probieren dürfen. Und, läuft das neue Magnetron?“

„Natürlich nicht!“, quetschte Frank raus, „ich weiß mir so langsam nicht mehr zu helfen!“

„Pass auf: Wenn jetzt kein DHS-Einschalten kommt, kann ich noch eine Stunde helfen, dann muss ich wieder runter und Igor über Mittag ablösen. Welches Magnetron hast du jetzt drin?“

„Im Schrank ist das Originale, hier das Neue!“ Frank schob die längliche graue Holzkiste mit der Fußspitze von sich.

„Ok. Ich baue das bei mir in der 6752 ein und teste das mal. Dann wissen wir wenigstens, ob das Ding geht. Du kannst ja inzwischen noch mal die Hochspannung durchmessen. Vergiss auch das Thyratron und die Sicherheitsschalter nicht!“ Tanner hatte sich das neue Magnetron geschnappt und in den unteren Senderschrank seiner eigenen Station eingebaut. Eine Viertelstunde später, als ein hektischer Einschaltbefehl für seine 6752 kam, stand fest, dass das Teil einwandfrei funktionierte.

Tanner hatte das ausgebaute Magnetron mit der eigentlichen Reservefrequenz noch schnell in die grüne Kiste gepackt und war aus der Sende-Empfangs-Kabine gesprungen. Die Kiste hatte er im Aggregate-Hänger verstaut und war dann in den Bunker gesprintet. Als er an seinem Arbeitsplatz ankam, waren beide PRW einsatzbereit. Frank hatte den Fehler an einem Kontakt des Sicherungssystems gefunden. Im Gefechtsstand herrschte gedämpfte Betriebsamkeit. Eine P-37 in Müncheberg war ausgefallen und es galt einen Flug der Kategorie II zu begleiten.

Als die Werte von den eigenen Stationen präzise an den Plexiglaswänden erschienen, hatte sich die Anspannung schnell gelegt. Es war nicht viel los an diesem Pfingstsonntag. Die beiden Diensthabenden hatten gemutmaßt, wer da im Flug der Kategorie II transportiert wurde. Igor tippte auf Günter Mittag mit Familie. Der Hubschrauber war in Marxwalde mit Kurs Nord gestartet, offenbar eine Mi-8. Das Ziel würde kurz vor Rügen die Insel Vilm sein. Dort sollte es angeblich eine Feriensiedlung der Partei- und Staatsführung geben. Die Mi kroch auf den Sichtgeräten und Plexiglas-Karten nach oben. Die Zeit an diesem Pfingstsonntag wollte und wollte nicht vergehen.

„Als gegen 16.00 Uhr Müncheberg wieder übernehmen konnte, hatte ich das Reserve-Magnetron völlig vergessen.“, endete Tanner.

„Das heißt: Schäfer hat überhaupt nicht auf der geheimen Reservefrequenz gesendet? Genial!“

„Genau! Das zugehörige Magnetron liegt noch neben der Drehsäule in meiner Kabine!“

Franks Blick wurde wieder etwas zuversichtlicher. „Trotzdem müssen wir das Ganze melden. Die müssen dem Schäfer das Handwerk legen!“

„Wen meinst Du mit die und was sollen wir melden? Schäfer wird alles abstreiten. Den Überfall auf mich hat es nie gegeben, die MVM hat keiner gesehen und wie soll ich das falsche Magnetron erklären? Mit hellseherischem Weitblick? Nee, das geht schief!“

Frank nickte nachdenklich. „Du hast recht. Aber, wie weiter?“

„Schäfer wird nicht aufgeben. Er wird einen neuen Anlauf versuchen!“

„Sag mal, warum geht der nicht einfach in die VS-Stelle, lässt sich die Frequenztabellen der Kriegsmagnetrone aushändigen und schreibt die ab?“

„Weil es diese Frequenzen nicht mal dort gibt. In den Tabellen stehen nur die Soll-Anzeigewerte unserer Messgeräte. Mit der realen Frequenz hat das nichts zu tun. Um diese zu bestimmen, brauchst Du einen geeichten Messempfänger und ein arbeitendes Magnetron.“

„Du meinst also, bei der nächsten Wartung liegt wieder die MVM im Gebüsch und diesmal ist es meine Station, die in Richtung 261, oder wohin auch immer, abstrahlt?“

„Die Messung könnte auch aus der Luft passieren!“ Beide Offiziere kannten diese Schwachstelle des Standorts. Die Technik stand nur wenig außerhalb der Berliner Kontrollzone BKZ.

Schon einige Male war ein kleines einmotoriges Flugzeug der West-Alliierten dem Objekt bedenklich nahegekommen. Über den Baumwipfeln ohne Vorwarnung aufgetaucht, hatte die Maschine jeweils eine gemächliche Kurve gezogen, um dann ebenso schnell wieder zu verschwinden. Resignierend wurde die PILATUS PC-6 inzwischen „OvD von Tempelhof“ genannt. Während der Wartung würde die Stationsbesatzung den Überflug gar nicht bemerken. Schweigend hingen beide Offiziere ihren Gedanken nach und fassten dann einen gemeinsamen Entschluss. Sie wollten am folgenden Tag überprüfen, ob der Seitenwinkel 261 Grad wirklich dem Standort der MVM entsprach, in der 6752 das richtige Reservemagnetron einbauen und dem Kompaniechef einen Luftbeobachter für kritische Wartungstage vorschlagen. Sie verabschiedeten sich ohne die üblichen ein oder zwei Gläser Goldkrone aus Franks Minibar. 6.05 Uhr würden sie sich erneut treffen, um dann gemeinsam nach Ladeburg zu radeln.

Die Augen des Habichts

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