Читать книгу Die Augen des Habichts - Arndt Matthias Heigl - Страница 15
Оглавление8. Kapitel
„Frei ist nicht, wer tun kann, was er will, sondern, wer werden kann, was er soll.“
Paul Lagarde
Finke saß leger auf einem der Kommunikationspulte, hinter denen das Fensterband verlief. Von hier oben ließ sich die gesamte Front der Luftlagekarten und Tabellen überblicken. An diesem Punkt liefen die Informationen über gegnerische atomare, biologische und chemische Schläge zusammen. Von hier aus wurden die Tafeln im Führungssaal bedient und die Warnung der Einheiten organisiert. Auch über das Hermetisieren des Führungsbunkers wurde hier entschieden. Das war es, was Leutnant Tanner zu diesem Raum wusste. Nur während höherer Bereitschaftsstufen wurden die Arbeitsplätze genutzt, jetzt waren sie unbesetzt.
Finke begann ohne Umschweife. „Haben Sie das Gefühl, dass Ihnen jemand schaden will? Haben Sie Feinde?“
„Nein. Sicher nicht!“
„Sie müssen im eigenen Interesse kritischer werden! Glauben Sie, ich merke nicht, was zwischen Ihnen und Schäfer los ist. Außerdem… “ Finke stockte, „gab es da ja gestern auch noch eine handgreifliche Auseinandersetzung!“
„Sie wissen davon?“ Tanner wurde schlagartig übel.
„Natürlich, ich weiß alles! Quatsch, ich mache mir Sorgen. Hier laufen ein paar Dinge aus dem Ruder, die viel zu wichtig sind.“ Finke schob Tanner einen Stuhl zu und drehte einen weiteren zu sich herum.
„Ich werde Ihnen jetzt ein paar Informationen geben, die Sie sicher benötigen werden, um die kommenden Monate zu überstehen. Und wir sollten gemeinsam überlegen, was zu tun ist. Das Besprochene bleibt hier im Raum! Verstanden?“
„Natürlich, Geno …!“ Tanner verstand Finkes Kopfbewegung: Keine Floskeln!
„Tanner, es gibt da Leute im Kommando, die viel mit Ihnen vorhaben. Sie wurden schon vor Jahren zum Entwicklungskader gemacht, lange vor Ihrer Einberufung. Dieselben Leute hielten es für eine gute Idee, mit Ihnen nicht darüber zu reden - übrigens bis heute. Dieses Gespräch hier findet ohne deren Wissen statt. Sie dürfen also nicht nur keinem davon erzählen, sie müssen auch noch so handeln, als ob Sie die Informationen nicht hätten. Schaffen Sie das?“
Tanner nickte unschlüssig.
Finke krempelte die Ärmel seiner Uniformbluse bis zu den Ellenbogen hoch. Ihm war heiß. „Ich bin erst gestern und auch nur ins Nötigste eingeweiht worden. Ohne den Unfall im Wald hätte es überhaupt keinen Anlass dazu gegeben. Ich glaube, dass wir mit meinen Informationen und Ihren Erlebnissen der letzten Jahre die wichtigsten Puzzleteile zusammentragen können. Das wird Ihnen helfen, sich zu schützen und die Erwartungen aus dem Kommando zu erfüllen. Mir fällt es dann leichter, den Schutzpatron zu spielen.“
Finke setzte sich kerzengerade auf. „Fangen wir an! Wann war für Sie klar, dass Sie Offizier werden wollen?“
„Das müsste so in der sechsten Klasse gewesen sein. Aber ich wollte erst nur Unteroffizier werden. Mir fehlte damals noch das Selbstbewusstsein. Ich war erst neu in Kalkreuth in der Oberschule. Für die Jungs in der Klasse war ich der Streber, der Professor.“
„Wieso Professor?“
„Ich hatte mich in drei Arbeitsgemeinschaften eingeschrieben: Junge Funker, Junge Elektriker und Elektronik. Nach einem halben Jahr habe ich den Posten des KTN-Chefs übernommen. Der Unterricht selbst hat mich nicht sonderlich gefordert, außer Russisch vielleicht.“
„KTN?“
„Das ist die „Kommission Technik und Naturwissenschaft“. Im Prinzip ging es darum, die Arbeit an den Exponaten für die „Messe der Meister von Morgen“ zu koordinieren. Ich habe das sehr ernst genommen und so wurden wir nach zwei Jahren als Beste Schule im Kreis ausgezeichnet. Natürlich waren auch immer Arbeiten von mir dabei.“
„Das Aquarium und der Schießtrainer?“
Tanner stutzte. „Ja-a, aber auch das Modell vom Vesuv! Und das Aquarium war ein Terrarium, für das ich aus den Relais einer alten Telefonvermittlung eine Steuerung gebaut hatte. Mit dem automatischen Terrarium war ich dann sogar bei Radio DDR-2. Der Schießtrainer war aus meiner Sicht das deutlich interessantere Projekt, doch die Reporterin hat mir erklärt, das wäre zu militärisch. Es gäbe sowieso zu viel Ärger wegen der fehlenden Akzeptanz für den gerade neu eingeführten Wehrunterricht. Auf alle Fälle haben beide Exponate Goldmedaillen auf der MMM in Leipzig bekommen.“
„Und dort, auf der Veranstaltung in Leipzig, sind Sie dann mit einem Offizier der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung ins Gespräch gekommen.“
„Nein. In Uniform war da niemand. Ich erinnere mich an ein Jurymitglied, das sich dafür interessierte, wer mir die Aufgaben gestellt hat und mit wem ich zusammengearbeitet habe. Sicher wollte er nur herausfinden, ob es wirklich meine Einzelleistung war, oder ob vielleicht Papa geholfen hat.“
„Und hat Papa geholfen?“
„Gott bewahre! Mein Vater hat null technisches Verständnis. Er ist Tierarzt. Schon in der 5. Klasse habe ich zu Hause und bei den Großeltern die Reparaturen an der Elektrik selber gemacht. Mein Vater hätte da nie durchgeblickt. Deshalb hat er mich wohl auch machen lassen. So habe ich das dem Jurymitglied dann auch gesagt.“ Tanner dachte kurz nach. „Das Jurymitglied war ein Offizier aus dem Kommando?“
Finke nickte. „Wie ging es dann weiter?“
„Ich habe in der siebten Klasse bei einem Preisausschreiben der Armeerundschau einen Elektronik-Bastelsatz gewonnen und mich dann mit dem Bau kleiner Radios beschäftigt. Nach kurzer Zeit habe ich auch die ersten funktionstüchtigen Sender gebaut. Zum Glück gab es auf dem Dachboden meiner Großeltern alte Röhrenradios und eine Fernsehtruhe. Die waren als Materialspender ideal.“
„Das Preisausschreiben - war das ein Zufall?“
„Bis vor Minuten hätte ich mit Bestimmtheit „Ja!“ gesagt, jetzt würde ich eher das Gegenteil behaupten. Die Armeerundschau hatte ich bei der MMM in Leipzig bekommen - in einem Plastebeutel mit vielen anderen Geschenken, die alle Teilnehmer der Endrunde mitnehmen konnten.“
Finke nickte erneut. „Was fällt Ihnen mit dem Wissen von heute noch zu Ihrer Schulzeit ein?“
„Eigentlich lief alles glatt. Das Übliche halt: Jugendweihe, Oktobertreffen in Berlin, Freundschaftszug nach Minsk, Kiew, Leningrad und Moskau, sehr gute Noten. In der siebten Klasse gab es so eine Art Vormusterung für Offiziersbewerber. Nach der achten Klasse ging es ohne Probleme zur Erweiterten Oberschule nach Großenhain. Lernen musste ich zumindest in der Freizeit eher wenig. Meine Eltern hatten angefangen, einen Bauernhof auszubauen. Da gab es reichlich zu tun. Außerdem war ich Mitglied einer Reitsportgemeinschaft. Reiten ist der Sport mit permanentem Überschuss an Mädchen. Das war eine schöne Zeit!“ Über Tanners Gesicht huschte ein Lächeln, dann konzentrierte er sich wieder.
„Es gab regelmäßige Veranstaltungen des Offiziers-Bewerber-Kollektivs, organisiert vom Wehrkreiskommando Großenhain. Der Chef war ein ehemaliger Bataillonskommandeur der Panzertruppen. Nach reichlich Alkohol fing der mit konstanter Regelmäßigkeit an, von einem Blitzkrieg zu faseln, den wir gewinnen, ohne die Panzer auch nur einmal nachtanken zu müssen. Ich fand das abartig und konnte mir ab da nicht mehr richtig vorstellen, in den Landstreitkräften zu dienen.“
„Also zu den Luftstreitkräften?“
„Genau. Ich wollte irgendwas mit Flugfunk oder Richtfunk machen, aber eben bei den Luftstreitkräften.
„Und als Jagdflieger?“
„Ja, das wäre fast schiefgegangen. Mich hat das aber nie wirklich gereizt. Schon als 16-Jähriger wurde ich zu einem Gespräch ins Wehrkreiskommando bestellt. Dort hieß es dann, ich hätte doch die Vormusterung mit der höchsten Tauglichkeit bestanden und es würden Jagdflieger gebraucht. Ob ich mir nicht vorstellen könne, den Test zum Piloten zu machen. Ein paar Wochen später war der Termin in Königsbrück im „Institut für Luftfahrtmedizin“. Fünf Tage lang ging das Ganze. Psychotests, Labor, Ultraschall, EKG, EEG, Unterdruckkammer, Humanzentrifuge,…. Am Freitagfrüh waren wir noch acht Übriggebliebene. Die anderen 47 Bewerber hatten diverse Tests nicht bestanden. Ein Teil konnte Montag schon wieder abreisen. Träume platzten reihenweise. Viele hatten schon bei der GST den Segelflugschein gemacht, einige Teilnehmer trainierten bereits Kunstflug. Natürlich wollten die alle Piloten werden. Ich nicht!
Freitagmittag ging es für mich auf den Drehstuhl. Dieses interessante Diagnosegerät versucht, das Gleichgewichtssystem zu überlisten. Bei mir hat das funktioniert. Nach drei Minuten musste ich mich übergeben.
Am Nachmittag gab es dann so eine Art Kadergespräch. Vor mir saß ein betrübter Major, der mit belegter Stimme die traurige Nachricht überbrachte: Arndt Tanner, geboren 1963 in Meißen, Bezirk Dresden, ist leider nicht tauglich zum Flugzeugführer. In einer gut einstudierten Pirouette erklärte der Major, dass man natürlich wisse, wie groß die Enttäuschung jetzt sei, dass die Untersuchung ja aber wichtig wäre, um das Leben der Piloten zu schützen. Keinesfalls könne man bei den Jagdfliegerkräften auf Arndt Tanner verzichten.
Ein Flugzeugführer hätte ja immer nur ein einziges Flugzeug. Ein Steuermann am Boden müsste Paare, Ketten und Staffeln führen, wäre deshalb also noch viel wichtiger als der Pilot. Weil die psychologischen und sonstigen Tests alle so hervorragend ausgefallen seien, würde man Arndt Tanner 1982 gern in Kamenz als Offiziersschüler in der Sektion Führungsorgane begrüßen. Ich habe mich geschmeichelt gefühlt und bin froh in den Linienbus nach Hause gestiegen. Zum Glück musste ich nicht Jagdflieger werden und zum noch größeren Glück hatte man meine besonderen Fähigkeiten erkannt und ich würde gleich Führungskraft!“
„Und, was war mit den technischen Ambitionen?“
„Ja, das habe ich mir nach ein paar Tagen auch überlegt. Inzwischen hatte ich die spärlichen Informationen über die Arbeit der Führungsorgane zusammengesucht und war überhaupt nicht mehr begeistert. Doch versprochen ist versprochen!“
„Wie sind Sie dann doch noch zu den Funktechnischen Truppen gekommen?“
Tanner dachte länger nach. „Das war auch so eine merkwürdige Geschichte. Im Frühjahr ´82 wurde ich zum Eignungstest nach Kamenz eingeladen. Nach dem Sammeln am Eingang zu Objekt III holte uns ein Fähnrich ab. Zu Beginn wollte er uns zum Hörsaal führen. In Höhe des Stabsgebäudes kam ein Feldwebel gelaufen, ließ halten und wollte wissen, ob ein Arndt Tanner unter den Bewerbern wäre.“
Finke lehnte sich genüsslich zurück. Er ahnte, wie es weiterging. Auch Tanner war das merkwürdige Geschehen dieses Tages noch sehr gut in Erinnerung.
„Der Feldwebel brachte mich dann ins Stabsgebäude auf den Flur vor das Zimmer von Oberst Brunner.“ Tanner stockte nachdenklich. „Wenn ich mir das heute so überlege - die ganze Aktion war irgendwie komisch“, unterbrach sich Tanner erneut. „Das Dienstzimmer von Oberst Brunner stand offen. Ich saß im Flur auf einem Stuhl direkt neben der Tür. Der Feldwebel meldete dem Oberst, dass ich jetzt da sei. Mit tiefer Stimme wendete sich Brunner an eine dritte Person im Raum. „Nun denn! Da wollen wir uns mal um Deinen Wunderknaben kümmern, Otto!“
„Otto, wirklich Otto?“
„Ja, da bin ich mir ganz sicher. Allerdings bekam ich diesen Otto nicht zu sehen.“
„Sie hätten ihn wahrscheinlich auch nicht erkannt, so in Uniform.“
„Der Ingenieur aus der Jury?“
„Genau! Jedenfalls hat Sie der Otto vor der Laufbahn als Steuermann bewahrt. Erzählen Sie weiter!“ Finke hatte sich entgegen seiner Gewohnheit weit nach vorne gebeugt, als könnte ihm ein wichtiges Detail entgehen.
„Kurz darauf stand Brunner in voller Größe vor mir. Ich sollte ihm in einen Besprechungsraum folgen, schräg über den Flur. Dort waren wir alleine. Brunner hatte eine dünne Mappe mitgebracht und musterte mich eine gefühlte Ewigkeit. „Sie wollen also unbedingt Steuermann werden? Weshalb haben Sie sich nicht für die Funktechnischen Truppen entschieden? Bei Ihren Leistungen!“
Ich konnte ihm nur wahrheitsgemäß antworten, wie ich nach dem Test in Königsbrück genötigt worden war und dass ich von Funktechnischen Truppen noch nie etwas gehört hatte. Ich sagte ihm auch noch, dass ich früher sehr wohl zu den Nachrichten wollte und mich für Flugfunk und Richtfunk interessierte. Brunners Laune wurde nicht besser.“
„Das kann ich mir gut vorstellen!“, warf Finke schmunzelnd ein. „Darunter leiden wir nun schon seit den 50-er Jahren. Wir verwenden von Anfang an die übersetzte russische Bezeichnung für die Waffengattung. Mit dem Begriff RADAR sollen wir ja nicht operieren.“
Tanner nickte wissend. Er hatte damit inzwischen ausreichend Erfahrungen gemacht. Wenn er draußen mit der schicken Fliegeruniform unterwegs war und gefragt wurde, welches Flugzeug oder welchen Hubschrauber er denn fliege und er dann antworten musste, dass er am Boden mit der Fliegerei zu tun hätte, bei den Funktechnischen Truppen, dann erntete er oft genug ein ziemlich enttäuschtes „Ah, Funker!“
„Jedenfalls hat Brunner dann versucht, mich zu locken. Er nahm einen Zettel und schrieb eine Formel auf:
R= 4. Wurzel aus PsG²lambda²delta / Pe(4Pi)³
Dann wollte er wissen, ob ich damit etwas anfangen kann. Natürlich konnte ich das nicht. Er erklärte mir, dass man mit dieser Formel die Reichweite einer Funkmessstation errechnen kann, welche Bedeutung die Variablen haben und wie so eine Station im Impulsverfahren prinzipiell funktioniert.
Ich habe ihn dann mit der Antwort verblüfft, dass dies nicht die gesamte Reichweitengleichung sein kann, weil mindestens zwei Parameter noch fehlen und ihm erklärt, dass ja jeder Sendeimpuls mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs ist und was das bedeutet. Ich habe ihm vorgerechnet, dass bei angenommenen 300 Impulsen pro Sekunde und der Geschwindigkeit von 300.000 Kilometern in der Sekunde die Reichweite auf weniger als 500 Kilometer begrenzt ist, da der Impuls den Weg zweimal zurücklegen muss. Brunner hatte anerkennend genickt und wollte wissen, welcher denn der zweite begrenzende Parameter sein soll. Das war nicht schwer zu beantworten: Die Reichweite ist schließlich auch wegen der Erdkrümmung beschränkt. Ich habe dann nach dem Satz des Pythagoras hergeleitet, dass man ein Flugzeug in 10.000 Metern Höhe nur bis etwa 360 Kilometer sehen kann, bevor es hinterm Horizont verschwindet.
Brunner schien beeindruckt. Er meinte, dass es ja wohl nicht sein kann, dass ich meine Zukunft im Exerzieren der immer gleichen Abfangregeln sehe. Am Schluss bot er mir an, dass er sich kümmern könnte, damit ich in letzter Sekunde noch zu den Funktechnischen Truppen wechseln darf, obwohl der Jahrgang ´82 eigentlich schon voll sei. Den Eignungstest hätte ich gerade mit Bravour bestanden. Ich bin dann voller Stolz nach Hause gefahren. Ich glaube, meine Eltern haben nicht verstanden, was nun bei den FuTT so viel reizvoller sein soll, als bei den Führungsorganen. Ein paar Wochen später, fünf Tage nach meinem 19. Geburtstag, war ich dann wieder in Kamenz an der Hochschule, natürlich als Offiziersschüler der Funktechnischen Truppen.“
Tanner war sich nicht sicher, ob sein Kommandeur noch zuhörte. Finke schien jedenfalls das Schaubild mit dem Atompilz eingehend zu mustern. Ohne Tanner anzuschauen, fragte er nach.
„Hatten Sie während des Studiums irgendwann das Gefühl, dass merkwürdige Dinge geschehen?“
Tanner überlegte lange.
„Nein. Das Studium verlief ohne Merkwürdigkeiten. Außer mit Russisch hatte ich eigentlich auch da keinerlei Probleme. Am Ende war es ein „sehr gut“, aber das wissen Sie ja!“
Finke nickte vielsagend. „Sie wirkten nicht gerade begeistert, als Sie in unserem ersten Gespräch erfahren haben, dass sie nicht nach Sprötau kommandiert werden sollten, sondern in meine Einheit!“
„Ja, ich war ziemlich enttäuscht. Nachdem ich zum Glück weder in einer MiG-21-Kanzel noch am Steuermann-Sichtgerät gelandet war, hatte ich mich mit der Ausbildung zum Offizier der Funktechnischen Truppen recht gut angefreundet. Die Mischung aus Technik, Taktik, Personalführung und vielen anderen Facetten fühlte sich interessant an. Gegen Ende des Studiums wurde auch klar, um welche Aufgaben sich ein Offizier der FuTT zu kümmern hat. Das Ganze reizte mich. Zwischendurch gab es ziemlich penetrante Versuche der Politabteilung, mich zu einer Laufbahn als Politoffizier zu überreden. Ich habe denen klargemacht, dass ich mir das überhaupt nicht vorstellen kann und sie haben mich dann auch irgendwann in Ruhe gelassen. Schnell war das Truppenpraktikum dran. Wir wurden auf verschiedene Kompanien auf dem Gebiet der DDR verteilt. Ich kam nach Sprötau und war total begeistert. Die hatten Technik, von der ich noch nie gehört hatte und einen genialen Gefechtsstand in einem sehr modernen Rundbunker!“
Finke nickte wieder wissend. Er kannte den Standort des Sprötauer Fla-Raketenregiments mit örtlichem Funktechnischem Bataillon recht gut. „Ein Standort der ersten Linie. Da ist noch mehr los, als hier bei uns!“
Tanner nickte heftig. „Gleich beim ersten Rundgang im Gefechtsstand hatten wir eine Grenzverletzung mit einem tieffliegenden Ziel. Da war ziemliche Hektik einschließlich DHS-Start-Hubschrauber. Ein paar Minuten später wurde JASTREB ausgelöst. Das erste Mal konnte ich Flugzeuge mit Extremgeschwindigkeiten und in extremer Höhe in Echtzeit erleben. Im Gefechtsstand war die Anspannung mit Händen zu greifen. Dort wollte ich später auch dabei sein!“
„Chef der örtlichen Kompanie war damals Major Krüger?“
„Ja, genau“, warf Tanner ein, „zum Abschlussgespräch habe ich den KC gefragt, was ich tun muss, um nach dem Studium in seine Einheit versetzt zu werden. Der hat abgewunken und spöttisch geantwortet, dass ich einfach einen Einser-Abschluss machen soll und dann könnte ich mir aussuchen, wohin die Reise geht.“
Finke zog seine Stirn in Falten. „So ein Unfug!“ Er wusste nur zu gut, dass die jungen Offiziere meist recht willkürlich auf das Gebiet der Republik aufgeteilt wurden. Er hatte im letzten Frühjahr die Kaderunterlagen von vier Studenten des ältesten Jahrgangs überreicht bekommen, mit denen er Übernahmegespräche zu führen hatte. Auf dem Flur der ersten Etage im Unterkunftsgebäude der Sektion Funktechnische Truppen tummelten sich an diesem Tag Bataillonskommandeure und Stabschefs der sieben Funktechnischen Bataillone, der zwei Funktechnischen Abteilungen und jede Menge Offiziere der Fla-Raketentruppen, um ihre sehnlichst erwarteten Nachwuchsoffiziere zu begutachten. Für Finke gab es einen Techniker für das Automatisierte Objekt WP-02M, einen Techniker für die Rundblickstation P-37 und zwei Stationsleiter für die Höhenmesser PRW-13. Einer von denen war damals Offiziersschüler Arndt Tanner gewesen.
Auch Tanner konnte sich noch sehr gut an dieses erste Zusammentreffen mit seinem heutigen Kommandeur erinnern. Auf dem Flur waren die Ormig-Abzüge mit der Planung für die Einsatzgespräche angeschlagen gewesen. Hinter der Zimmernummer standen die Einheiten und hinter den Uhrzeiten die Namen der jeweils geplanten Offiziersschüler. Tanner hatte ganz sicher noch nie etwas von einer Funktechnischen Abteilung gehört. Das klang eher nach Fla-Raketentruppen und dorthin wollte er unter keinen Umständen! „Na ja, ich hatte erst die Befürchtung, zukünftig in Hellgrau rumlaufen zu müssen. Doch wenigstens diese Angst haben Sie mir ja schnell genommen.“
Finke schmunzelte. Er hatte jedes Gespräch mit der gleichen Einleitung begonnen: „Setzen Sie sich. Ich bin Major Finke, Kommandeur der Funktechnischen Abteilung 4101, stationiert in Ladeburg bei Bernau. Die Abteilung gehört zur 41. Fla-Raketenbrigade. Fachlich untersteht sie aber dem Chef Funktechnische Truppen, Generalmajor Merkel, deshalb tragen wir auch Blau an der Uniform!“, und dann war er immer noch etwas pathetisch geworden: „Das bleibt auch so - zumindest so lange ich der Kommandeur bin!“
Mit Arndt Tanner hatte er sich etwas länger beschäftigt. Während die anderen Funkmessstationen alle bereits mit einem erfahrenen Offizier besetzt waren, sollten beide PRW-13 nun frische Absolventen als Chefs bekommen. Neben der fehlenden Truppenerfahrung war hier noch das Problem, dass einer der beiden Stationsleiter, der Frank Meisner, auf dem PRW-13 nicht ausgebildet war.
„Wie gut kennen Sie den Offiziersschüler Meisner? Können Sie sich vorstellen, ihm am Anfang etwas fachliche Hilfestellung zu geben?“, hatte Finke damals wissen wollen.
Arndt Tanner konnte Frank Meisner nicht gut einschätzen. Die meiste Zeit hatten sie in verschiedenen Zügen eine unterschiedliche Ausbildung durchlaufen. „Ich kann mich bemühen, habe aber keine Ahnung vom kleinen PRW-16!“
„Das ist auch nicht nötig. Wir werden zwei große PRW-13 bekommen, deshalb wird Offiziersschüler Meisner umlernen müssen. Ihnen kommt da eine wichtige Funktion zu!“
Tanner hatte nur genickt.
„Sie schließen jetzt erst mal Ihr Studium ab!“, hatte Finke das Gespräch beendet. „Ab 11. August dienen Sie in der FuTA 4101. Unser Standort ist noch im Bau. Es könnte dadurch ein etwas holpriger Start werden. Ich wünsche Ihnen für die letzten Wochen hier viel Erfolg!“
„Danke, Genosse Major!“ Tanner war aufgestanden und wollte nach Grußerweisung den Raum verlassen. Finke hatte ihm die Hand zu einem sehr kräftigen Händedruck gereicht.
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Heute, viele Monate später war Finke längst zum Oberstleutnant befördert und Tanner zum Leutnant. Die normale Arbeit in der Funktechnischen Abteilung lief inzwischen fast routiniert - zumindest bis gestern!
Finke warf durch die Glasfront einen Blick über die rechte Schulter auf das Geschehen im Führungssaal unter ihnen. Das Treiben der Diensthabenden verriet unaufgeregte Routine. Mehr zu sich selber fragte er: „Wie können wir weitermachen?“
Tanner war sich nicht ganz sicher, was sein Kommandeur meinte. Nach kurzem Nachdenken antwortet er: „Ich könnte die Arbeit am Störschutzsystem forcieren.“
„Gut, wenn Sie fertig sind, informieren Sie mich. Die Erprobung müssen wir dann auf eigene Kappe durchziehen. Den Schäfer halte ich auf Abstand, zumindest soweit möglich. Und Sie sind bitte vorsichtig!“
Ein Händedruck besiegelte den sehr vagen Plan und das Schweigegelübde.
Tanner war mit fünf Schritten an der Tür und eine Minute später an seinem Platz vor dem Sichtgerät des Diensthabenden im Führungssaal. Beide Hände umklammerten wieder die massiven Alugriffe an der großen runden Bildröhre.
Aus dem oberen Stockwerk hatte sein Kommandeur den Blick auf den Leutnant gerichtet und ging das Gespräch innerlich noch mal durch. Er sorgte sich um den unbekümmerten jungen Offizier.
Welche Kräfte mischen hier außer Otto noch mit? Welche Rolle spielt der Schäfer? Weshalb die körperliche Gewalt?
Finke riss sich los und schüttelte energisch den Kopf.
Zuerst muss der Schäfer auf Distanz gebracht werden!
Der hoch aufgewachsene Finke warf sich die Uniformjacke über und beschloss, nach Hause zu fahren. Zehn Minuten später, nach dem Passieren von vier massiven Schleusentüren und einem Wachposten, schwang er sich auf sein Rennrad.