Читать книгу Die Augen des Habichts - Arndt Matthias Heigl - Страница 13

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6. Kapitel

„Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen.“

Aristoteles

Als Finke nach Minuten auf den Parkplatz der beliebten Gaststätte einbog, knirschten die Kiesel unter den beigefarbenen Reifen. Brandner saß bereits mit Blick zur Straße im Garten des „Waldkater“, erhob sich und kam seinem Studienfreund entgegen. Dieser hatte sein Rad an einen altehrwürdigen Baum vor dem traditionsreichen Lokal gelehnt. Die beiden Mittvierziger blieben voreinander stehen und umarmten sich. Jeder klopfte dem anderen mit der Linken auf die Schulter. Die rechten Hände verweilten in einem festen Händedruck. Die Augen ruhten ernst im Blick des Gegenübers. Finke und Brandner hatten fast gleichzeitig die Militärakademie „G.K. Shukov“ in Kalinin absolviert. Zwar waren sie in unterschiedlichen Lehrgängen gewesen, doch die einschneidenden Erlebnisse in der Fremde schweißten zusammen - für immer!

„Hast Du eigentlich schon Neurerprojekte gemeldet?“ Außerhalb des Dienstgeschehens waren beide per Du. Nach je einem Bier und einem Schnitzel mit Bratkartoffeln kam Brandner nach dem Plausch über Kinder, Urlaub und gemeinsame Freunde zur Sache. „Ich habe die Liste durchgesehen, aber aus Deiner Abteilung nichts entdecken können!“

„Das meinst Du doch wohl nicht ernst?!“ Finke zog die Augenbrauen zusammen, bis sie zu einer einzigen Braue verschmolzen. „Du lockst mich hier raus, um über die Messe der Meister von Morgen zu reden?“ Er richtete sich auf und war nun im Sitzen einen guten Kopf größer als Brandner. „Ich baue hier die zweite Funktechnische Abteilung der gesamten Armee auf. Es gibt Schwierigkeiten ohne Ende. Die meisten Probleme kommen aus Deinem Laden …“, während Finke diese Vorwürfe durch schmale Lippen im Flüsterton von sich gab, deutete sein rechter Zeigefinger auf Brandners Brust, „und ausgerechnet Du agitierst mich wegen der Neurerbewegung?“ Finke schüttelte abermals fast theatralisch seinen Kopf.

Brandner hatte sich indes entspannt zurückgelehnt, um den massiven Zornesausbruch seines Gesprächspartners mit zusammengekniffenen Augen zu beobachten.

„Noch zwei, die Herren?“, unterbrach die blonde Kellnerin mit dem leichten Silberblick die Schimpfkanonade.

Während die beiden Offiziere auf die Gläser mit dem frisch gezapften Pils warteten, taxierten sie sich gegenseitig. Finke bereute seinen Ausbruch. Was war nur los mit ihm? Seit Tagen war er leicht reizbar.

Ist die Aufgabe eine Nummer zu groß? Sind die permanenten Nörgeleien Rockstrohs vielleicht doch gerechtfertigt?

Er wusste es einfach nicht.

Während die Kellnerin mit Schwung die kleinen Gläser mit gut gekühltem Berliner Pils abstellte, brummte Finke: „Nimm es mir nicht übel. Es ist alles ein bisschen viel, zurzeit.“

„Schon gut! Du solltest ruhiger werden. Wir kommen langsam ins Herzinfarkt-Alter.“ Brandner nippte an seinem Bier, um sich dann nach vorn zu beugen. Er sprach konzentriert und leise, obwohl nur ein einziger weiterer Tisch besetzt war, der auch noch gute zehn Meter entfernt stand.

„Zur Sache! Ich habe das nicht umsonst gefragt. Was ich Dir jetzt erzähle, wissen nur sehr wenige Menschen. Ich muss es Dir aber sagen. Das bin ich Dir schuldig …“, Brandner stockte kurz, „und Du kannst mir helfen! Sollte das Thema an falsche Ohren kommen, gibt es massiven Ärger - und das nicht nur innerhalb der Truppe.“ Brandner blickte sich noch mal um. Finke hörte nun konzentriert zu.

“ 1975 wurde ich Leiter der Strategischen Beschaffung. Breschnew hatte mitbekommen, dass wir teure sozialpolitische Geschenke an die Bevölkerung austeilten und gleichzeitig für die Landesverteidigung das Geld fehlte. Seine GSSD auf dem Boden der DDR fraß viel Geld aus der sowjetischen Staatskasse. Breschnew forderte die Verdopplung der Verteidigungsbemühungen der DDR innerhalb von nur zehn Jahren. Aber das weißt Du ja alles!“

Finke nickte nachdenklich.

„Was Du nicht wissen kannst, sind die konkreten Dinge, die daraus resultierten.“ Brandner dozierte jetzt regelrecht. „Hoffmann wurde von Honecker gedrängt, die Erfüllung der Forderungen des großen Bruders mit konkreten Plänen zu untersetzen. Eine der Maßnahmen waren Überlegungen, in Friedenszeiten durch Zusammenarbeit und Arbeitsteilung auf beiden Seiten Kräfte und Mittel zu sparen. Das betraf alle Waffengattungen. Bei uns in den LSK/LV wird diese Umstrukturierung in drei Jahren abgeschlossen sein. Die drei Brigaden arbeiten im Frieden im Wechsel mit Kolja und unter vollem Informationsaustausch. Der Befehl zum Abschuss bleibt bei der GSSD. Im Ernstfall werden die Brigaden der jeweiligen sowjetischen Gruppierung direkt unterstellt.“

Finke atmete deutlich hörbar aus.

„Von diesen Plänen wird dein Rockstroh frühestens in zwei Jahren erfahren.“ Brandner ließ seine Worte kurz wirken. Finke schien nicht glücklich mit dem neuen Wissen und wiegte seinen Kopf langsam hin und her.

„Das ist die eine Komponente der Vereinbarung von 1975, die zweite Idee ist die teure. Minister Hoffmann hatte nach Beratung, oder besser: auf dringende Empfehlung des Oberkommandierenden eine Liste mit Waffensystemen unterschrieben, die bis 1986, also bis heute, zu beschaffen waren. Was uns betrifft, sind das MiG-29-Jäger und zum Beispiel die weitreichenden S-200-Fla-Raketensysteme, die ja in Deiner Brigade derzeit aufgebaut werden. Vieles wurde nur bestellt, aber dann storniert, wie Deine NEBO, oder um spätere Lieferung gebeten, wie bei der ST-68U. Es fehlt einfach das Geld, um diese zehn Jahre alte Einkaufsliste jemals abzuarbeiten!“

Beide schwiegen.

„Und Du als kleiner Sachbearbeiter im Kommando kennst diese ganzen Zusammenhänge?“, zweifelte Finke.

„Ja. Ich bin seit zehn Jahren einer von drei Spezialisten, die für die jeweiligen Teilstreitkräfte nach Lösungen aus dem Dilemma sorgen sollen. Hoffmann und Honecker wussten mit Sicherheit schon früh, dass die Breschnew-Forderung nicht erfüllbar sein würde. Andererseits war auch klar, dass wir die Waffensysteme nur bei den Freunden kaufen können - und zwar zu deren Konditionen! Deshalb sollten teure periphere Systeme selbst entwickelt und hergestellt werden.“

„Bei den gravierenden Problemen in unserer Wirtschaft?“

„Eben. Es fehlen Kapazitäten. Seit nun auch noch alle Betriebe, egal ob dafür geeignet oder nicht, auf Teufel komm raus Konsumgüter produzieren müssen, geht da sowieso nichts mehr!“

Finke erinnerte sich an die letzte Parteiversammlung. Ein Unteroffizier hatte ein Beispiel aus seinem Betrieb, dem Stahl- und Walzwerk Gröditz, gebracht. Angeblich musste dieser VEB jetzt Rodelschlitten produzieren - aus massiven Stahlrohren!

„Du kannst ohnehin keine Militärtechnik oder anderweitig sensible Güter einfach irgendwo produzieren! Die Freunde passen da mit ihren Instrumenten im RGW sehr genau auf. Du kennst doch auch die Geschichten rund um das erste und letzte DDR-Passagierflugzeug, die „152“ oder um den L-60!

Nein, wir drei Spezialisten waren uns einig, dass wir nur innerhalb der Strukturen der NVA auf Basis der Neurerbewegung arbeiten können. Die Marine war da schon sehr erfolgreich. Die hatten bereits nach einem Jahr ihre Mini-Torpedoschnellboote LIBELLE einsatzbereit, die bei der ersten See-Übung Verbände der Baltischen Rotbannerflotte vernichtend schlagen konnten. Das gab ziemlichen Ärger mit dem Flottenkommando. Inzwischen exportieren wir die Dinger erfolgreich gen Osten.“

„Damit kannst Du aber keine Milliarden einsparen!“, gab Finke zu bedenken.

„In der Masse schon. Uns hilft da die Mikroelektronik. Schließlich werden wir bald den 1-Megabit-Chip in großen Mengen haben. Die Militärtechnik wird digital. Dort hat Kolja seine Defizite!“

Finke dachte an die sechs Sattelauflieger der Systeme SENESCH und PORI, die gerade im Bunker installiert wurden.

Je Bit wird dort ein kompletter Germaniumtransistor benötigt. Wahnsinn!

„Wir arbeiten an einem System zur automatisierten Luftlagedarstellung. Spätestens in drei Jahren habt ihr das auch. Denk an meine Worte, wenn Du irgendwann etwas von ARKONA hörst!“ Brandner lächelte. „Und jetzt zu uns: Deinen Leutnant Tanner habe ich schon seit knapp zehn Jahren auf dem Schirm.“

Brandner deutete Finkes Gesichtsausdruck richtig. „Ja, da war der gerade mal 13 Jahre alt und Schüler einer einzügigen Landschule in Kalkreuth, Bezirk Dresden. Er war mir bei der Zentralen Messe der Meister von Morgen unter den Preisträgern aufgefallen. Er hatte ein kybernetisches System zur Steuerung des Schulterrariums und einen optoelektronischen Trainer fürs Luftgewehrschießen entwickelt, gebaut und erfolgreich erprobt. Das Interessante waren nicht die Systeme, sondern sein Herangehen. Die Mitschurin-Schule in Kalkreuth hat neben großen Erfolgen bei Luftgewehrmeisterschaften den Schwerpunkt Biologie. Tanner war durch Umzug erst zwei Jahre zuvor an diese Schule gekommen, hatte Lücken erkannt und mit vorhandenen oder organisierten Materialien perfekte Lösungen geschaffen. Die nächsten zwei Jahre baute er Radioempfänger und Verstärker, modifizierte Röhrenfernseher. 1978 schaffte er dann als einziger Schüler seiner Klasse ohne Probleme den Sprung an die Erweiterte Oberschule in Großenhain. Inzwischen hatte er eine Verpflichtung als Offiziersbewerber unterschrieben. Die Genossen vom Großenhainer Wehrkreiskommando konnten Tanner schnell mit der geheimnisvollen Botschaft ködern, dass ja die Technik bei der Armee noch viel moderner wäre als draußen.“

Finke nickte. „Der Klassiker! Nur gut, dass der Tanner sich auch mit Röhren beschäftigt hat.“

„Die Abi-Zeit machte er mit links. Auch an seinem Berufswunsch hielt er fest. Obwohl er inzwischen klare Vorlieben für Deutsch und Philosophie zeigte, faszinierten ihn ganz offenbar die neuesten Möglichkeiten der Digitaltechnik. Fehler machten nur unsere eigenen Leute. Erst passierte bei der Musterung der Lapsus, dass Tanner zu den Nachrichtentruppen gezogen werden sollte, dann überredete ihn so ein Bürohengst aus dem Wehrkreiskommando zum Eignungstest für die Ausbildung zum Militärflieger. Wir haben das aber alles hinbiegen können.“

Brandner strich sich nachdenklich übers Kinn. „Schließlich passierte die größte Panne: Arndt Tanner wurde für die Ausbildung zum Jägerleitoffizier nach Kamenz bestellt. Da musste ich dann noch selbst eingreifen. Die Ausbildung an der OHS hat er als einer der ganz wenigen mit „sehr gut“ beendet und mit seiner Militärwissenschaftlichen Abschlussarbeit den gesamten Lehrstuhl verblüfft. Auf ein paar Platinen entwickelte er aus handelsüblichen Schaltkreisen ein funktionierendes System zur Störunterdrückung und baute ein Funktionsmuster. Danach landete er auf ein paar Umwegen bei Dir, und das ist kein Zufall!“

Finke schüttelte immer noch ungläubig den Kopf, doch weshalb sollte sein alter Kampfgefährte ihm einen Bären aufbinden? „Eine Frage: Weshalb hast Du Dir nicht einen fertigen Elektroniker mit Einser-Diplom von der Uni geholt?“

„Erstens: Es waren zehn, von denen aktuell noch vier übrig sind. Zweitens: Wir brauchen nicht einfach Ingenieure, sondern Erfinder mit direkter Truppenerfahrung!“

„Verstehe. Und jetzt willst Du von mir, dass ich Leutnant Tanner vom Dienst freistelle, damit er in Ruhe für euch erfinden kann?“

„Um Himmels willen! Der weiß doch gar nichts von alledem.“

---

Arndt Tanner hockte auf dem Feldbett in seinem Wohnzimmer und ging die Schaltung des Netzteils durch. Letzte Woche hatte er viel geschafft. Die Arbeit am AC-1 ging sehr gut voran. Noch an der Hochschule hatte er begonnen, die vielen kleinen Teile für den Amateurcomputer zu beschaffen. Mehrmals waren Urlaubstage draufgegangen, um nach Wermsdorf bei Oschatz zu fahren. Im dortigen Konsum-Elektronik-Versand gab es die begehrten U-202, die Arbeitsspeicher für den Computer. Auch die einzelnen Schaltkreise der Prozessorfamilie 880 hatte er nach und nach bekommen, oft erst nach stundenlangem Anstehen. Tanner hatte sich schon im zweiten Studienjahr in den Kopf gesetzt, einen funktionstüchtigen Computer selbst zu bauen. Damals hatte er angefangen, die Hauptplatine zu zeichnen, zu ätzen und die Bauelemente durchzumessen. Offiziell war die Ware aus Wermsdorf nicht ganz normgerecht, in der Praxis allerdings meist voll leistungsfähig.

Das Schreiben der Abschlussarbeit und das Erstellen der damit verbundenen digitalen Störschutzapparatur hatten dann im dritten Studienjahr viel Freizeit gekostet. Die Teile des AC-1 schlummerten bis zum Abschluss des Studiums in einer flachen Kiste hinter den Stiefeln in Tanners Spind. Erst vor wenigen Wochen hatte er begonnen, die Elemente auf einem ausgebreiteten ND zu ordnen. Daneben lag die abgegriffene Schaltung aus dem FUNKAMATEUR. Vor zwei Wochen hatte er das Netzteil gelötet. Eine der fünf Gleichspannungen war allerdings immer noch nicht sauber. Seitdem hatte er keine Zeit mehr gehabt, dem Problem nachzugehen. Auch jetzt war sein Kopf nicht richtig frei. Der heutige Tag hatte merklich geschlaucht, unwirklich und schemenhaft schoben sich die Erlebnisse immer wieder in den Vordergrund. War das wirklich alles so passiert?

Tanner schüttelte heftig den Kopf. Sofort zuckte ein stechender Schmerz durch sein Genick. Ja, es war offenbar alles passiert, genauso, wie es ihm die Erinnerung immer wieder aufs Neue vorspiegelte! Die Konzentration war nun endgültig weg, an Schlaf war aber auch noch nicht zu denken.

Auf dem Fußboden, an einen Bücherstapel gelehnt, lockte der schmale Karton mit dem Briefpapier. Ja, ein Brief an Kathrin war längst überfällig. Es war bereits vier Tage her, dass Tanner einen der hellblauen Umschläge in den ramponierten rostig-gelben Briefkasten am Rathaus geworfen hatte.

Kathrin wird schon warten!

Vom „Steintor“ fiel warmes Licht in die kleine Küche und beleuchtete das längliche Blatt mit den dezent blauen Wolken am rechten oberen Rand. Schwungvoll nahm Tanners Füller die ersten Zeilen mit dem Dank für den letzten Brief und einer Entschuldigung, dass die Antwort erst jetzt möglich sei.

Ja, Tanner versprach, beim Russischlernen zu helfen. Kathrin bereitete sich gerade auf ihre Prüfungen zur Krankenschwester vor.

Nein, er konnte sie nicht in Oschatz besuchen.

Warum? Er könnte sich etwas ausdenken, ließ es dann aber. Die Wahrheit zu alledem, was da mit seinem Dienst zu tun hatte, konnte er ohnehin nicht einmal andeuten. Kathrin wusste das.

Während des Studiums hatte er sich gerne ein bisschen wichtig gemacht, indem er so gut wie nichts erzählte. Inzwischen waren die meisten Dinge, die mit seinem Dienst zu tun hatten, wirklich derart sensibel, dass sich selbst Andeutungen verboten. Das, was heute passiert war und ihn immer noch nicht losließ, würde er ihr nicht mal schreiben, wenn er es dürfte. Kathrin hatte so schon genug Angst um ihn.

Tanner kaute Minuten auf seinem Füller. Dann fiel ihm ein, dass er berichten könnte, dass die Arbeit am AC-1 voranging, dass er einen Fehler suchte und bestimmt bald finden würde und, dass er ihrem Besuch entgegenfieberte.

„Bleibt es bei übernächster Woche? Ich freue mich!“

Trotz der gewohnheitsgemäß umfangreichen, aber durchaus ernst gemeinten Beteuerungen bezüglich Sehnsucht und Liebe, wurde es diesmal nur eine einzige eng beschriebene Seite. Mit großem Schwung vollführte die Feder das „Dein Arndt“. Dann klickte die Hülle auf dem Metall-Schaft des Füllers. Den Brief würde er erst am Morgen wegschaffen. Die Kastenleerung erfolgte eh frühestens gegen sieben.

Auf der anderen Straßenseite waren die Fenster im „Steintor“ immer noch hell erleuchtet. Ein Ober im Frack schlenderte entspannt von rechts nach links. Offenbar waren nur noch wenige Plätze der HO-Gaststätte im ersten Stock des Backstein-Neubaus besetzt.

Dort oben hatten sie um einen großen Tisch gesessen, die Offiziere in Gesellschaftsuniform, die auch Sektjacke genannt wurde. Eingeladen hatte Kompaniechef Major Krüger. Es gab etwas zu feiern, die Aufstellung der Einheit! Der Abend sollte später als legendäre Helios-Fete in die ungeschriebene Geschichte der Funktechnischen Kompanie eingehen. An dem bewussten Tag hatten sie ihre Funkmess-Stationen geholt und in die Technische Zone gefahren. War das wirklich erst ein paar Wochen her? Tanner schüttelte den Kopf, diesmal mit Rücksicht auf drohende Nackenschmerzen eher in Zeitlupe.

Der Wecker neben der Liege zeigte inzwischen einen neuen Tag an. In knapp fünf Stunden würde der den Klöppel gegen die beiden außen liegenden Glocken schlagen und erbarmungslosen Lärm veranstalten. Tanner drehte sich auf den Bauch. Die Schulter schmerzte.

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Trotz der klaren Nacht zeigte das Thermometer kurz nach sechs schon mehr als 20 °C. Die tief stehende Morgensonne trieb zwei unendlich lange Schatten in Richtung Ladeburg. Frank hatte schon an der Stadtmauer gewartet. Nun radelten die beiden Freunde auf der Ladeburger Chaussee in Richtung Kaserne. In einer Stunde würde Vergatterung zum Diensthabenden System sein, heute mussten die beiden Stationsleiter vorher noch Schreibkram erledigen.

Außer einem etwas verhaltenen „Morgen!“ hatten Tanner und Meisner noch kein Wort gewechselt. Der gestrige Tag wirkte nach. Schweigend gingen beide Stationsleiter noch mal die Ereignisse durch. Sie kannten sich gut genug, um sich nicht gegenseitig mit den immer gleichen ungelösten Fragen zu nerven.

Frank Meisner brach das Schweigen. „Wenn ich in der Technischen Zone bin, hole ich mir erst mal den Theo rüber!“

„Mach das!“, nickte Arndt Tanner und stellte sein 28er Diamant-Rad neben dem Kontrolldurchlass ab. Zwei Minuten später hatten die beiden Offiziere den Posten passiert und waren in ihrem Dienstzimmer angekommen. Tanner zog seine ERIKA-Schreibmaschine heran und tippte die paar belanglosen Zeilen. Es ging um die Stellungnahme zum Disziplinarverstoß eines Unteroffiziers. Eigentlich wäre dies Meisners Aufgabe, doch Tanner war schneller beim Tippen.

Der Wagen knallte ein letztes Mal gegen den Anschlag. Mit Schwung zog er die Blätter aus der Maschine und schob sie auf Franks Platz.

„Hier, damit die liebe Seele Ruhe hat!“

„Meinen Sie mich?“ Major Krüger stand in der Tür. Der Kompaniechef mochte es nicht, wenn die jungen Offiziere sich derart salopp über Vorgesetzte äußerten.

„Nein, Genosse Major, zwei Etagen höher …“, kam es von Tanner, der inzwischen aufgestanden war.

„Zwei Etagen höher? Was soll das denn nun wieder sein?“, knurrte Krüger verärgert.

Meisner hatte inzwischen, so wie Tanner, längst Grundstellung eingenommen und informierte den Vorgesetzten, dass es um die Stellungnahme an den Kommandeur der Brigade, Oberst Rockstroh ging. „Unteroffizier Lindner hat den Kommandeur doch bei B-1 im Bunker angerempelt und soll nun bestraft werden. Das hier ist die Stellungnahme zu dem Vorkommnis.“

Meisner dehnte das Vor-komm-nis und hielt die drei Blätter, zwischen denen noch das Kohlepapier klemmte, nach oben.

„Später!“ Krüger hatte abgewunken und war bereits wieder auf dem Flur. Er musste versuchen, ernst zu bleiben, obwohl ihm schon gefiel, wie die junge Generation mit derartigem Unsinn umging. Er wollte sie aber auch nicht bestärken.

Vielleicht tanzen sie als Nächstes dann mir auf dem Kopf herum!

Diesen Gedanken hatte er in den letzten Monaten schon mehrfach gehabt.

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Arndt Tanner musste sich sputen. In zwanzig Minuten sollte Vergatterung sein. Heute nahm er nicht den LO, der vor dem Tor hielt und gleich abfahren würde. Er schnappte sich sein Rad und dann ging es über den Plattenweg hinaus zur Technischen Zone. Er traf kurz vor dem LO ein, zückte seinen Ausweis und stand zehn Minuten nach sieben zur Vergatterung bereit.

Erst vor wenigen Wochen war die neu gebildete Funktechnische Abteilung ins Diensthabende System der Luftverteidigung eingegliedert worden. Seit diesem Tag galt nun ein ununterbrochenes Dienstregime. Täglich 7.15 Uhr vollzog sich am Vergatterungsplatz das immer gleiche Ritual: Die Diensthabenden Besatzungen des Gefechtsstandes und der Technischen Zone traten an und die Vollzähligkeit wurde gemeldet. Bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag würde dies so weitergehen!

Heute kam das „Achtung!“ vom Stabschef der Brigade.

"Zur Durchführung des Diensthabenden Systems vom 11. zum 12. Juni 1986 verpflichte ich sie, getreu dem geleisteten Fahneneid, im festen Klassen- und Waffenbündnis mit der Sowjetarmee und den anderen Bruderarmeen alle gestellten Gefechtsaufgaben zum Schutze des Luftraumes der Deutschen Demokratischen Republik und der sozialistischen Staatengemeinschaft mit hoher Disziplin und Initiative zu erfüllen! Diensthabender Kommandeur, Oberstleutnant Boden."

Die aufgezogene Flagge knatterte im auffrischenden Sommerwind, der die eine Strophe der Nationalhymne über die Äcker nach Norden in Richtung Lobetal trug.

„Rührt euch! Wegtreten!“

Die Funkorter der Rundblickstationen eilten an ihre Sichtgeräte. Die Techniker bereiteten die Funktionskontrollen vor und die Auswerter/Planzeichner setzten vorsorglich ihre Sonnenbrillen auf. Es war ziemlich düster im Bunker und die Augen brauchten lange, um sich von der strahlenden Sommersonne an das schummrige Licht im Gefechtssaal zu gewöhnen. Acht Uhr, das war zehn Uhr Moskauer Sommerzeit, lief die Luftraumaufklärung bereits auf Hochtouren. Leutnant Tanner würde für die kommenden 24 Stunden Diensthabender Kompaniechef sein. Auf sein Sichtgerät hatte er sich das Signal der Zentimeterstation P-37 geschaltet. Auf der runden Bildröhre wimmelte es heute nur so von Zielzeichen. Wie auf Perlenschnüre gefädelt, waren die kleinen Leuchtpunkte innerhalb der Luftstraße A4 zwischen Kopenhagen/Malmö und Prag unterwegs. Auch in den drei Luftkorridoren von und nach Westberlin gab es massive Flugbewegungen.

Das große Sichtgerät des Diensthabenden Kompaniechefs stand in der hinteren von zwei langen Reihen mit Arbeitstischen und Monitoren ganz weit rechts. Die Oberfläche der bernsteinfarbenen Bildröhre lag fast waagerecht. Am Gehäuse gab es neben der Plexiglaswölbung massive Griffe. Tanner hielt jetzt beide fest umklammert, als gelte es, so die Luftlage schnell in den Griff zu bekommen. Gute sechs Meter vor ihm wuchs über zwei Stockwerke auf der gesamten Breite die Kartenwand empor. Auswerter/Planzeichner waren mit ihren bunten Fettstiften permanent dabei, die Flugbewegungen zu dokumentieren. Sie arbeiteten in ihren dunklen Uniformen hinter den indirekt beleuchteten Plexiglas-Karten. Ihre Welt gestaltete sich spiegelverkehrt. Osten war links und Westen rechts. 90 Grad waren 270 Grad und jede Zahl wurde in Spiegelschrift geschrieben, die Zahlenkolonnen natürlich von rechts nach links. Das alles musste funktionieren, völlig ohne nachzudenken. Pausenlos sprudelten immer neue Werte aus den Kopfhörern: „0601 240 285… 085 … 0604 155 090 … 035!“

Tanner war zufrieden. Der Gefreite Haller hinter der Karte mit den Azimut-Kreisen arbeitete konzentriert. Alle relevanten Ziele, die der Leutnant auf seinem Sichtgerät im Verantwortungsbereich erkennen konnte, leuchteten auch auf der riesigen Plexiglaswand. In ruhigem Ton kamen dazu die Zielnummern der angemeldeten Flugzeuge aus dem Gefechtsstand des Vorgesetzten. Routine!

Tanner streckte sich und schob dabei die Schulterblätter gegeneinander, ohne jedoch die Griffe am Sichtgerät STRELA-W freizugeben. Der Schmerz war fast nicht mehr spürbar. Er ertappte sich bei dem Gedanken, die Geschehnisse des gestrigen Tages einfach auf sich beruhen zu lassen. Es gab schließlich genügend andere Probleme - und was sollte da auch rauskommen?

Tanner hatte bei diesen Gedanken mit seinen Augen schon länger einen imaginären Punkt im Raum fixiert, als rechts von ihm die Eingangstür des Führungssaals schwungvoll aufgerissen wurde und Frank Meisner auf ihn zueilte.

„Es ist genau die Stelle!“, zischte der so leise durch die Zähne, das selbst der Diensthabende der Abteilung, der nur drei Meter entfernt saß, kein Wort verstand. „Ich habe das mit dem Theo ausgemessen. 261 Grad, das ist genau in Richtung Waldkante, wo der Jeep gestanden hat!“

Tanner wusste, dass er hier nicht nachfragen musste, ob sich sein Freund auch wirklich sicher sei. Keiner gab sich so viel Mühe beim Justieren des Theodoliten wie Frank!

Zu jedem Höhenmesser gehörte das „Theo“ genannte Präzisionsinstrument, das in einem silbergrauen Zylinder wartete, im Bedarfsfall auf ein Stativ geschraubt zu werden. Nachdem es exakt lotrecht ausgerichtet war, ließ sich mit mindestens zwei markanten Geländepunkten der eigene Standort auf der Karte sehr genau bestimmen. Auch der Seitenwinkel von Objekten und sogar die Höhe über Meeresspiegel konnten am Theodoliten abgelesen werden.

„Genau 261 Grad?“, mehr fiel Arndt Tanner nicht ein. Hatte er noch vor einer Minute geglaubt, der Spuk des gestrigen Tages würde sich in Luft auflösen, waren die Erlebnisse jetzt wieder sehr präsent.

Die Augen des Habichts

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