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2.5.3 Der »Kleine Hans«

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Am 30. März 1908 erhielt Freud Besuch von Max Graf, einem Musiker, Journalist, Schriftsteller und Professor am Wiener Konservatorium, der seit 1902 zu Freuds Diskussionszirkel der »Mittwochsgesellschaft« gehörte, und seinem fünfjährigen Sohn Herbert (»Der kleine Hans«). Herbert litt seit Januar 1908 an einer Pferdephobie. Freud widmete sich dem kleinen Jungen, indem er ihn als vollgültigen Gesprächspartner ernst nahm und alles, was das Kind ihm mitteilte, in seine Überlegungen einbezog. Fortan besuchte der Vater Freud über fünf Wochen regelmäßig und erstattete ihm Bericht über die Gespräche mit seinem Sohn. Unter Freuds Anleitung gelang es dem Vater, die unbewusste Bedeutung der Symptomatik des Jungen zu entschlüsseln und ihm so zur Erledigung der Phobie zu verhelfen. (Freud 1909b; vgl. Alt 2016, S. 424 ff.; Burchartz et al. 2016, S. 25 ff.)

Der Junge hatte ein erschreckendes Erlebnis: er beobachtete, wie ein beladener Pferdewagen mitsamt den Pferden umkippte. Er hielt eines der beiden Pferde für tot. Von Angst überwältigt, wollte er fortan kaum mehr aus dem Haus, vermied Situationen, bei denen er Pferden begegnen könnte (schwierig zu einer Zeit, in welcher Pferde als Transportmittel allgegenwärtig waren). Er fürchtete, die Pferde könnten umfallen oder er könnte von einem Pferd gebissen werden. Freud verstand die Angst als mehrfach determiniert: Zum einen hatte Herbert ein verstärktes Interesse an seinem Penis entwickelt und verglich sie mit den entsprechenden Organen der Tiere. Zum anderen erwachte in dem Jungen ein ödipales Begehren der Mutter gegenüber, womit er in einen Konflikt mit dem geliebten Vater geriet. Die Mutter verbot dem Jungen die Beschäftigung mit seinem »Wiwimacher« unter Kastrationsdrohungen. Schließlich hatte es das Kind auch mit der Eifersucht auf seine kleine Schwester zu tun, die geboren wurde, als Herbert 3,5 Jahre alt war. Es gab also genug Grund, eine Strafe für seine verbotenen Wünsche zu fürchten. Der Pferdeunfall diente nun dazu, Hass, Angst vor Rache und Rivalität auf ein phobisches Objekt zu verschieben und sich damit in die schützenden Beziehungen zu seinen vertrauten Objekten zurückzuziehen – mit der Fantasie, mit der Mutter ein Kind hervorzubringen. Erst nachdem die Eltern eine entspanntere Haltung einnehmen konnten und der Junge seine Fantasien angstfreier äußern konnte, legte sich die Phobie.

Freud betonte, dass ödipale Wünsche und Fantasien zu einer normalen Entwicklung gehören. Für ihn hatten die Aussagen des Kindes genauso viel Gewicht wie diejenigen von Erwachsenen. Herbert, ein kluges und wissbegieriges Kind, nahm die Erklärungen des Professors eifrig auf. Nach der Sitzung bemerkte er: »Spricht denn der Professor mit dem lieben Gott, daß er das alles vorher wissen kann?« (Freud 1909b, S. 278). Wir können darin eine idealisierende Übertragung erkennen, die es dem Jungen leicht machte, sich dem Professor zu offenbaren. Dass die Behandlung Freuds Theorien über den Ödipuskomplex vollständig bestätigten, kann nicht nur auf eine Anpassungsleistung des Kindes zurückzuführen sein, sonst hätte sich kaum eine Auflösung der Phobie eingestellt, die ja eben der Anpassung an die impliziten Verbote und Drohungen der Erwachsenenwelt diente. Herbert war selbstbewusst genug, auch Deutungen zu widersprechen, wenn sie ihm nicht einleuchteten.

Am 7. Oktober 1908 begegneten sich Freud und sein kleiner Patient wieder. Herbert war vollständig geheilt, bei einem späteren Wiedersehen, 13 Jahre später, erinnerte sich Herbert nicht mehr an die Behandlung.

Diese Fallgeschichte aus den Anfängen der Kinderanalyse ist aus heutiger Sicht eher als eine psychoanalytische Elternberatung zu werten. Gleichwohl erbrachte sie wichtige Grundlagen:

Alle Äußerungen eines Kindes sind vollumfänglich ernst zu nehmen und in die Behandlung einzubeziehen. Sie haben das gleiche Gewicht wie Mitteilungen von Erwachsenen.

Deshalb besteht die analytische Haltung weniger in einem »Ausfragen«, als in einem teilnehmenden Zuhören.

Bei der Behandlung von Kindern sind die Bezugspersonen unverzichtbare Gesprächspartner. Sie tragen durch ihre Bereitschaft, problematische Einstellungen zu überarbeiten, Wesentliches bei.

Die Behandlung lässt sich auch verstehen als ein Stück psychoanalytischer Pädagogik: In ihr wurde versucht, durch die Beeinflussung der elterlichen Erziehungshaltung und anderer pädagogischer Maßnahmen der neurotischen Entwicklung bei Kindern vorzubeugen bzw. sie zu korrigieren.

Freud war trotz dieser erfolgreichen Behandlung skeptisch gegenüber Analysen mit Kindern. In seiner Einleitung der Fallgeschichte schreibt er: »…die Sachkenntnis, vermöge welcher der Vater die Äußerungen seines 5jährigen Sohnes zu deuten verstand, hätte sich nicht ersetzen lassen; die technischen Schwierigkeiten einer Psychoanalyse in so zartem Alter wären unüberwindbar geblieben.« Die Ausarbeitung einer Psychoanalyse von Kindern und Jugendlichen war späteren Nachfolgerinnen und Nachfolgern vorbehalten.

Psychodynamische Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter

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