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I. KAPITEL Die gesellschaftlichen Kräfte unter Bismarck
ОглавлениеDas Reich Bismarcks, 1871 in Versailles gegründet, ist 1919 im gleichen Versailles zerstört worden. Die in Weimar geschaffene Republik, die darauf folgte, knüpft zwar in vielen bedeutsamen Einzelheiten an das alte System an. Aber sie ist doch etwas im Wesen Neues: die entscheidende Neuerung liegt nicht in der Absetzung des Hohenzollernhauses und der anderen Dynastien. Das Reich Bismarcks wäre mit einem gewählten Reichspräsidenten durchaus denkbar. Das Neue liegt auch nicht darin, daß in der Republik Sozialdemokraten Minister werden können, denn sie wurden es bereits in der letzten Periode des Kaisertums. Ebensowenig machen die Grenzen des Versailler Friedens die entscheidende Veränderung aus: Bismarck hätte sein Reich auch ohne Elsaß-Lothringen gründen und Deutschlands Beziehungen zu den Polen und zu Österreich anders gestalten können. Sondern die entscheidende Neuerung liegt in der Zertrümmerung der alten preußischen Armee durch die militärische Niederlage im Westen, durch die Revolution und durch die Versailler Friedensbedingungen.
Bismarcks Reich und das preußische Heer gehören untrennbar zusammen. Bismarck hat es immer als seine wichtigste Leistung betrachtet, daß er den König von Preußen und die preußische Armee für die nationale Einheitsidee Deutschlands gewann. Er sah den Fehler von 1848 darin, daß das Bürgertum aus eigener Kraft, ohne Rücksicht auf die deutschen Dynastien und vor allem ohne Rücksicht auf das historisch gewordene Preußen, die Reichsgründung vollziehen wollte. Bismarck ging anders vor: Er hat die militärische Aristokratie Preußens mit dem deutschen Bürgertum vereinigt, an die Spitze des Ganzen das Hohenzollernhaus gesetzt und so das Reich seiner Prägung gegründet1. Die Geschichte des neudeutschen Kaisertums besteht aus der wechselseitigen Anziehung und Abstoßung dieser beiden von Bismarck zusammengefügten Kräfte. Das Ende war da, als der preußische Militäradel 1918 zusammenbrach und das Bürgertum die Herrschaft antrat.
War der Gedanke Bismarcks, das historische Preußen in den Dienst der deutschen Einheitsidee zu stellen, an sich falsch? War 1871 die Situation so, daß das Deutsche Reich lebensfähig nur als ein rein bürgerlicher Staat auf liberal-parlamentarischer Grundlage hätte gegründet werden können und nicht anders? Standen »Junkertum« und Bürgertum zueinander wie Feuer und Wasser, zwischen denen ein Kompromiß unmöglich war? Ist Bismarck einem romantischen und dynastischen Phantom nachgejagt und hat er ihm seine bessere Überzeugung zum Opfer gebracht? Diese Fragen bejahen wäre sehr einfach, aber auch sehr falsch. Die Revolution von 1848/49 hatte bewiesen, daß das deutsche Bürgertum nicht imstande war, aus eigenen Kräften zu siegen. Die agrarischen und militärischen, die dynastischen und bürokratischen, und selbst die kirchlichen Gewalten der alten Ordnung waren doch in Deutschland viel stärker, als es im Jubel der Märztage erschien. Und hinter dem Bürgertum tauchte als neue politische Klasse das städtische Proletariat auf. Es war bereit, zusammen mit dem Bürgertum gegen die herrschenden feudalen Gewalten zu kämpfen. Aber es hatte daneben seine eigenen Ziele, die nicht die Ziele der bürgerlichen Liberalen waren. Die Explosivkräfte, die in der Arbeiterbewegung steckten, sind damals von außenstehenden Beobachtern vielfach klarer erkannt worden als von den Arbeitern selbst.
Unter diesen Umständen lag für einen sozial-konservativen Realpolitiker wie Bismarck der Gedanke nah, das Bürgertum durch ein vernünftiges Kompromiß mit den alten Gewalten zu versöhnen, durch das gemeinsame Wirken beider Kräfte die nationale Einigung zu schaffen, und so zugleich dem »roten« Umsturz ein festes Bollwerk entgegenzusetzen. Wer so 1871 in Bismarcks Position kalkulierte, schätzte die vorhandenen Kräfte Deutschlands gar nicht so falsch ein. Die deutsche Arbeiterklasse hat selbst unter den für sie beispiellos günstigen Voraussetzungen vom November 1918 die Staatsmacht nicht übernehmen können. Ebensowenig hätte sie es früher in anderen Situationen tun können. Und im deutschen Bürgertum war von einem die Kronen und Adelsprivilegien wegfegenden Jakobinergeist bis zum Vorabend der Revolution 1918 nicht viel zu merken. Bismarcks Idee brauchte also weder am Widerstand der Arbeiter noch des Bürgertums zu scheitern. Trotzdem war das Bismarcksche Reich von Anfang an todkrank. Der Glanz der militärischen Siege und der wirtschaftliche Aufschwung konnten nur notdürftig über die politische Dauerkrise hinwegtäuschen, die vom Kulturkampf bis zur Regierung Max von Baden reichte, eine Krise, die niemals gelöst wurde, die immer neue Formen und Gestalten annahm und die am Ende das ganze Werk Bismarcks vernichtete.
Wo liegt die Ursache dieser Dauerkrise des deutschen Hohenzollernkaisertums? Es ist Bismarck nicht gelungen, die verschiedenen Kräfte, die im deutschen Volke vorhanden waren, organisch miteinander zu verbinden. Er hat nicht einmal einen ernsten Versuch dazu gemacht. Sondern die auseinanderstrebenden Klassen und Gewalten Deutschlands sollten durch die Übergewalt des Kaisertums zusammengehalten werden. Bis 1890 waren Bismarcks Gewalt und die Kaisergewalt identisch. Die persönliche Diktatur lebt und stirbt mit dem Diktator selbst. Als 1890 der alte Diktator abtreten mußte, als er seinen Donnerkeil in den schwächlichen und hilflosen Händen Wilhelms II. sah, da war die Katastrophe besiegelt. Ihr Eintreten war nur noch die Frage der Zeit und der Umstände. Von Friedrichsruh aus hat Bismarck das Verhängnis für sein Werk kommen sehen; ohne die Möglichkeit, etwas daran zu ändern. Man sagt vielfach, daß die Epigonen Bismarcks die Schöpfung des Meisters verdorben hätten. Das ist so weit richtig, als die Bismarcksche Verfassung ohne einen Bismarck nicht bestehen konnte. Aber so gesehen liegt darin auch die schärfste Kritik an Bismarck selbst.
Das deutsche Kaisertum war nicht darum lebensunfähig, weil es auf dem Kompromiß zwischen dem deutschen Bürgertum und dem preußischen Militäradel beruhte, sondern weil es das Kompromiß in der Form des bonapartistischen Selbstherrschertums verwirklichte. Dabei sollte der König von Preußen berufsmäßig und erblich der Bonaparte sein, wenn er es nicht vorzog, seine Gewalt dem Reichskanzler zu übertragen. Daß Bismarck die politische Existenz des deutschen Volkes auf seine Person, ja auf sein persönliches Verhältnis zu Wilhelm I. zuschnitt, bleibt ein historischer Fehler von ungeheuerem Ausmaß. Aber es gibt Umstände genug in der so eigenartigen deutschen Situation von 1871, die Bismarcks Fehler zwar nicht aus der Welt schaffen, die ihn jedoch begreiflich machen können.
Zur Zeit der Reichsgründung verfügte das liberale Bürgertum in Deutschland über fast alles, was an Intelligenz, an industrieller und kaufmännischer Leistungsfähigkeit vorhanden war. Die Massen der Handwerker und des übrigen Mittelstandes, der größte Teil der Industriearbeiter, selbst ein erheblicher Teil des Bauerntums und eine Minderheit des Adels, teilten die nationalen und liberalen Ideen des Bürgertums und folgten seinen politischen Parolen: Ohne Zweifel eine gewaltige Kraft und Autorität2. Auf der anderen Seite stand das preußische Heer, der König, sein Offizierskorps, die preußische Beamtenhierarchie, der Großgrundbesitz der Gebiete östlich der Elbe, bis auf die Gruppe der liberalen Aristokraten, und der vom Grundherrn abhängige Teil der Landbevölkerung. Wie sollte ein Kompromiß zwischen diesen beiden Kräften aussehen?
In Preußen hatte der König und mit ihm die militärische Aristokratie alle Gewalt. Die militärische Disziplin hatte in dem Menschenalter vor 1871 die schwersten Belastungsproben überstanden. Weder die Revolution von 1848 noch die Konfliktszeit der sechziger Jahre hatte das Gefüge des preußischen Heeres ernstlich erschüttert. Der König ernannte die preußischen Minister nach freiem Ermessen. Der Beamten- und Polizeiapparat war fest in der Hand der Regierung. Wenn ein oppositioneller Landtag den Staatshaushalt nicht bewilligte, regierte der König ohne gesetzlich zustande gekommenen Etat weiter. Das hatte die Konfliktszeit ebenfalls bewiesen. Ein Volksaufstand gegen das intakte preußische Heer war aussichtslos. Auch der oppositionell gestimmte Rekrut fügte sich der Disziplin, und das eiserne System des preußischen Offiziers- und Unteroffizierskorps zeigte keine Lücke. Wenn auch hier und da im Lande ein liberaler Richter saß, stand doch die Staatsmaschine vom Oberpräsidenten bis herunter zum letzten Gendarmen unbedingt der Regierung zur Verfügung.
Das altkonservative Preußentum hatte also sämtliche politischen Trümpfe in der Hand. Ein Kompromiß war nur so denkbar, daß die militärische Aristokratie freiwillig einen erheblichen Teil ihrer Rechte an das Bürgertum abtrat. Das konnte auf doppelte Art geschehen: Entweder erhielt das Bürgertum einen Anteil an der realen Staatsmacht in Preußen selbst, oder man beteiligte das Bürgertum an der Macht im Reich und übertrug zugleich auf das Reich so weite Kompetenzen, daß damit das alte Preußentum ein Gegengewicht fand. Keinen der beiden Wege ist Bismarck bei der Reichsgründung gegangen; er ließ in Preußen das tatsächliche Kräfteverhältnis so, wie es war. Das heißt, der König und die militärische Aristokratie behielten alles in der Hand, und ferner schuf Bismarck eine Verfassungskonstruktion, bei der Preußen das Reich regierte und nicht umgekehrt.
Es wäre ganz falsch, die Handlungsweise Bismarcks aus borniertem Kastenhochmut zu erklären. Bismarck hat den preußischen »Junker« keineswegs besonders geliebt, und er hat die Bedeutung des Bürgertums niemals verkannt. Aber er sagte sich, daß das Deutsche Reich bei seiner besonders schwierigen außenpolitischen Situation ohne starke Militärgewalt nicht leben könne. Eine leistungsfähige deutsche Armee, die nötigenfalls im Osten und im Westen die Abwehr führen konnte, sei aber nur durch Preußen zu bilden. Eine Zertrümmerung des preußischen Militärsystems sei zugleich die Wehrlosmachung Deutschlands, und wenn Deutschland seine staatliche Existenz nicht verteidigen könne, sei damit auch der innenpolitische Streit gegenstandslos. So war Bismarck ein überzeugter Anhänger des alten preußischen Militärsystems. Er vertrat die militärische Herrschaft des preußischen Königs über Deutschland und die unbedingte Kommandogewalt des Königs über die Armee, frei von jedem parlamentarischen Einfluß.
Wenn aber das alte Preußentum die Waffen Deutschlands führte, war es sehr schwer, ihm politische Zugeständnisse an die anderen waffenlosen Volksschichten abzuzwingen. Auch wenn Bismarck gewollt hätte, wäre es ihm kaum gelungen, den König Wilhelm I. zum Verzicht auf wesentliche Teile seiner Rechte zu nötigen. Es war ein Verhängnis für die ganze folgende deutsche Entwicklung, daß die Konfliktszeit in Preußen mit einem so restlosen Siege der königlichen Gewalt geendigt hatte. Das alte Preußentum hatte den Ansturm des bürgerlichen Liberalismus auf der ganzen Linie abgeschlagen. Der König von Preußen und sein Heer hatten 1864 gesiegt, ebenso 1866 und 1870/71; nur so war das Deutsche Reich möglich geworden. Und nach solchen Erfolgen sollte der König auf seine Rechte zugunsten des Parlamentarismus verzichten? So ließ Bismarck das alte Preußen, wie es war, und gab ihm überdies die Führung in Deutschland.
Das Geheimnis der Bismarckschen Reichsverfassung liegt darin, daß eigentlich keine Reichsregierung gebildet wurde. An Stelle der Reichsregierung stand der Bundesrat, die Gemeinschaft der einzelstaatlichen Regierungen, mit dem Reichskanzler als ihrem geschäftsführenden Vertrauensmann. Daß das buntscheckige Gesandtenkollegium des Bundesrats in Wirklichkeit gar nicht regieren konnte, das muß Bismarck von Anfang an gewußt haben. So war der Bundesrat das konstitutionelle Feigenblatt für die preußische Regierung über das Reich, und der Reichskanzler in Personalunion mit dem preußischen Ministerpräsidenten machte die deutsche Politik. Wenn in einer Spezialfrage zum Beispiel Bayern Sonderwünsche hatte, mußte die Frage auf diplomatischem Wege zur Erledigung gebracht werden, aber niemals ist die Reichspolitik durch das Zusammenwirken von Bayern und Baden mit Hamburg, Waldeck usw. bestimmt worden. Das Hauptstück der Reichsverfassung Bismarcks, die Reichsregierung durch den Bundesrat, war also von Anfang an eine offenkundige Fiktion.
Der Reichstag konnte zwar über alle politischen Fragen öffentlich reden. Aber die Armee und die Außenpolitik waren von vornherein seinem Einfluß entzogen. Das Geldbewilligungsrecht des Parlaments für das Heer durfte unter keinen Umständen die kaiserliche Kommandogewalt beeinträchtigen, und die Außenpolitik machte der Kaiser, beziehungsweise der Reichskanzler, ohne sich um die Reichstagsreden zu kümmern. Die innerpolitische Wirksamkeit des Reichstags wurde zunächst durch die Sonderrechte der Einzelstaaten lahmgelegt, und vor allem durch die vollständige Einflußlosigkeit des Reichsparlaments auf die Exekutive. Der Reichstag konnte höchstens den Etat ablehnen. Aber der böse Präzedenzfall der preußischen Konfliktszeit bewies, daß dann die Regierung ihre Zahlungen ohne gesetzliche Deckung weiter leistete. So war die einzige Waffe des Parlaments von vornherein stumpf.
Weder durch Ausnutzung des preußischen Landtags noch mit Hilfe des Reichstags war das Bürgertum in der Lage, einen maßgebenden Einfluß auf die deutsche Politik auszuüben. Aber Bismarck wußte trotzdem ganz genau, daß das Deutsche Reich ohne und gegen das Bürgertum weder zu gründen noch zu behaupten war. Verfassungsmäßige Rechte auf Kosten der Krone sollte das Bürgertum nicht erhalten. Aber der Regent, formal der Kaiser, in Wirklichkeit der Reichskanzler, sollte dafür sorgen, daß die berechtigten Ansprüche des liberalen Bürgertums erfüllt wurden: Die nationale Ausgestaltung des Deutschen Reichs sollte die Ideen der bürgerlichen Patrioten verwirklichen, die wirtschaftlichen Wünsche von Handel und Industrie sollten erfüllt werden. Die Ansprüche der Liberalen auf eine moderne, geistig hochstehende, allem »Muckertum« abgeneigte Regierungsform sollten, soweit es irgend ging, befriedigt werden. Bismarck wollte sogar noch weiter gehen: Er war bereit, Vertrauensmännern des liberalen Bürgertums einzelne Ministerposten in Preußen und wichtige Verwaltungsstellen im Reich anzuvertrauen und mit den liberalen Parlamentsfraktionen sachlich zusammenzuarbeiten. Aber all dies sollte auf dem freien Willen des Kaisers, bzw. seines entscheidenden Ratgebers beruhen. Wenn es nötig war, wollte Bismarck sich und seinen Nachfolgern jederzeit die Möglichkeit vorbehalten, die Liberalen so zu schlagen wie in der Konfliktszeit.
Vom Bürgertum verlangte Bismarck, daß es mit derartigen Zugeständnissen sich zufrieden gab und die Besonderheiten der außenpolitischen und militärpolitischen Lage Deutschlands begriff. Die starke militärische Kaisergewalt war doch die beste Stütze für das besitzende Bürgertum gegen die Gefahr einer proletarischen sozialen Revolution. Die Pariser Kommune hatte auf Bismarck den stärksten Eindruck gemacht. Er war der Meinung, daß eine bürgerlich-parlamentarische oder gar republikanische Verfassung nicht die nötige Widerstandskraft gegen den Ansturm der besitzlosen Massen aufbringen könnte. Schon deshalb sollte das Bürgertum die Einsicht haben und sich um die bestehende konservative Staatsordnung scharen, auch wenn ihm dieses oder jenes im Deutschen Reich nicht gefiel.
Auf der anderen Seite hielt Bismarck es für ebenso notwendig, daß die altpreußische Aristokratie sich in die neue Zeit hineinfügte. Die »Junker« mußten begreifen, daß das Deutsche Reich sich nicht nach den Methoden eines Gutshofs östlich der Elbe regieren lasse. Sie mußten sich mit der Existenz liberaler Minister und mit der Entwicklung städtischen Reichtums abfinden. Sie mußten einsehen, welche Macht die ungeschwächte preußische Königsgewalt auch für sie mit bedeutete. Sie mußten unter allen Umständen den Kaiser und den Reichskanzler unterstützen, auch wenn sie im Augenblick den Sinn der einen oder anderen Regierungsmaßnahme nicht verstanden. Bismarck hielt es für den gesündesten politischen Zustand, wenn eine große altpreußische konservative Partei im Lande mit einer großen liberalen Partei zusammenwirkte. Es mußte der Regierung überlassen bleiben, wie sie in jedem Einzelfall das Gleichgewicht der Kräfte herstellte. Die Regierung sollte nötigenfalls einmal nach rechts und einmal nach links schlagen, aber danach immer wieder die Versöhnung und Zusammenarbeit der beiden Grundkräfte des Reichs erzielen.
Wie man sieht, beruhte das Funktionieren dieses Systems ausschließlich auf der Persönlichkeit des obersten Regierungschefs. Es mußte ein Kanzler wie Bismarck oder ein König wie Friedrich der Große da sein, um die Diagonale der Kräfte zu ziehen. Fehlte die Führerpersönlichkeit, so fiel alles auseinander. Auch in England beruhte die 1689 stabilisierte Staatsordnung auf dem Kompromiß zwischen grundbesitzender Aristokratie und städtischem Bürgertum. Aber in England war ein organisches Zusammenwirken und Zusammenwachsen beider Klassen erzielt. Beide teilten sich in die Selbstverwaltung des Staats. Auf dem Lande regierte der grundbesitzende Gentleman als Friedensrichter usw., und in der Stadt regierten der Mayor und die Aldermen. Beide Klassen trafen sich dann im Unterhause als Vertreter der städtischen und ländlichen Wahlkreise. Sie respektierten gegenseitig ihre Privilegien, weil sie wußten, daß die Rechte der einen die Rechte der anderen voraussetzten. Sie bildeten gemeinsam die Regierung und wachten gemeinsam über die Aufrechterhaltung der Verfassung. In Deutschland fehlte schon die Grundlage des englischen Systems, nämlich eine ernsthafte Selbstverwaltung, deren Stelle die allmächtige Bürokratie einnahm. Die Allgewalt des Unterhauses erzog zum Zusammenwirken der Stände und Klassen auf diesem Boden, während die Ohnmacht des Reichstags ein positives parlamentarisches Kompromiß zur gemeinsamen Regierung des Reichs ausschloß. Im Bismarckschen Reichstag konnte eine Koalition nur dann positiv etwas leisten, wenn sie unbedingt mit der Regierung zusammenging. Eine oppositionelle Koalition von Parteien und Klassen konnte höchstens den Reichskanzler durch Nadelstiche ärgern.
Unter dem Eindruck der Siege von 1870/71 fand sich das liberale Bürgertum mit der Reichsverfassung Bismarcks ab, und es war bereit, den Kanzler parlamentarisch und moralisch zu stützen. Aber die Krise kam nur zu bald, und sie verschärfte sich dadurch, daß ja die beiden Kräfte, auf deren Zusammenwirken Bismarck das Deutsche Reich gründen wollte, nicht allein dastanden: Neben dem altpreußischen Konservatismus gab es noch den altdeutschen Konservatismus links der Elbe, und neben dem liberalen Bürgertum stand in wachsender Zahl und in wachsendem Klassenbewußtsein das industrielle Proletariat. Wer das Deutsche Reich im Gleichgewicht halten wollte, mußte nicht nur mit zwei, sondern mit vier Faktoren jonglieren, die alle in diesem Rahmen zueinander nicht paßten.
Der altdeutsche Konservatismus hatte bis 1866 seinen Hauptsitz in Wien. Die regierenden Bischöfe des alten Deutschen Reichs hatten im habsburgischen Kaiserhaus ihr natürliches Oberhaupt erblickt, und ebenso die reichsunmittelbare Ritterschaft, die nur dem Kaiser und nicht einem Landesfürsten unterstand. Die Auflösung der alten Reichsverfassung durch Napoleon I. hatte diese beiden reichsunmittelbaren Stände beseitigt. Aber nach wie vor erblickte die katholische Kirche Deutschlands sowohl wie die große Aristokratie am Rhein und in Süddeutschland in Österreich ihre Vormacht und den natürlichen Schützer ihrer Interessen. Das alte Kaiserreich war 1815 in der Form des Deutschen Bundes nur sehr unvollkommen wiederhergestellt worden. Aber im Sinn der alten Reichstradition hielten die mittleren und kleinen Bundesfürsten Preußen für den gegebenen Feind und Österreich für den gegebenen Freund. Denn von einer Steigerung der preußischen Macht erwartete man eine zentralistische Neuordnung Deutschlands, während die Fortexistenz der österreichischen Vorherrschaft auch das Weiterbestehen des deutschen Föderalismus garantierte.
Der deutsche Föderalismus fand seine Anhänger nicht nur bei den Dynastien, Geistlichen und Aristokraten, sondern ebenso bei weiten Schichten der agrarischen und kleinbürgerlichen Bevölkerung, die nicht wollten, daß ihre Steuern nach Berlin gingen und daß ihre gewohnten Regierungs- und Lebensbedingungen durch das preußische Oberkommando gestört wurden. Im Kriege 1866 stand der altdeutsche Konservatismus von Hannover bis München in geschlossener Front mit der Waffe in der Hand gegen Preußen. Die preußische Armee siegte, Österreich wurde aus Deutschland hinausgewiesen, Hannover, Kurhessen und Nassau wurden von Bismarck annektiert. Das liberale Bürgertum bekannte sich überall zu Preußen und zur Reichseinigung. 1870 zwang die liberale und nationale Bewegung die süddeutschen Staaten zur Beteiligung am Kriege gegen Frankreich.
Bismarck suchte bei der Reichsgründung den altdeutschen Konservatismus dadurch unschädlich zu machen, daß er die Dynastien fest an die neue Ordnung der Dinge knüpfte. Um das Haus Wittelsbach zu gewinnen, bewilligte Bismarck die Sonderstellung der bayerischen Armee. Der föderalistische Charakter des Bundesrats ließ den kleinen Dynastien so viel Rechte, wie es unter der Neuordnung der Dinge überhaupt möglich war. Bismarck hatte hier einen vollen Erfolg: Er hatte nach 1871 bei den außerpreußischen Dynastien niemals ernstliche Schwierigkeiten. Bismarck hätte zum Beispiel den Kulturkampf nie führen können, wenn er nicht den König von Bayern und damit die Münchener Regierung auch in dieser kritischen Situation fest auf seiner Seite gehabt hätte3.
So leicht wie die west- und süddeutschen Dynastien waren aber die altkonservativ gestimmten Volksschichten für das neue »evangelische Kaisertum« nicht zu gewinnen. Die katholische Geistlichkeit, der Hochadel, breite Massen von Bauern und Handwerkern in Süd- und Westdeutschland schlossen sich zu einer mächtigen Abwehrfront zusammen: Das Zentrum trat als die katholische Partei Deutschlands auf. Trotzdem war der Kulturkampf im Grunde keine konfessionelle Angelegenheit. Die protestantischen Landwirte Hannovers, soweit sie die Sonderexistenz des alten Welfenkönigreichs zurückgewinnen wollten, standen an der Seite des Zentrums. Auf der anderen Seite war das katholische Bürgertum in den Städten des Rheins und des Südens Bismarckisch gesinnt. Aber der katholische nationalliberale Wähler in München oder in Köln trat deshalb noch lange nicht aus seiner Kirche aus. Die Eigenart des Zentrums verkörperte sich in der Kulturkampfzeit in Windthorst, dem Katholiken und früheren Minister des Königs von Hannover.
Neben den Welfen gewann das Zentrum noch zwei Mitkämpfer, die der Regierung Bismarcks besonders unangenehm waren. Die Verteidigung des Katholizismus gegen die protestantisch orientierte Staatsgewalt brachte ein Bündnis zwischen Zentrum und Polen. Ferner hatte die katholische Kirche Deutschlands schon seit einem Menschenalter begonnen, die in ihren Bereich gehörigen Industriearbeiter zusammenzufassen. In Deutschland ist eine selbständige Arbeiterbewegung parallel von zwei Seiten her geschaffen worden. Neben der marxistischen Bewegung steht die katholische. Es ist zweifelhaft, ob in den siebziger Jahren den herrschenden Klassen Deutschlands die sozialdemokratische Arbeiterbewegung in Berlin und Sachsen viel unangenehmer war als die katholische Arbeiterbewegung in Oberschlesien4 und am Rhein. In Oberschlesien prägte sich der Klassengegensatz besonders scharf aus, wo der polnisch-katholische Bergmann dem deutsch-protestantischen Werksdirektor gegenüberstand.
Das Zentrum war in seinem sozialen Charakter schon in der Kulturkampfzeit überaus buntscheckig. Aber alle Schichten, die es vereinte, waren damals ihrem Wesen nach antibürgerlich: Der Priester und der Aristokrat, der Bauer und der Arbeiter hatten insgesamt kein Interesse, die bürgerliche kapitalistische Entwicklung in den Städten zu fördern, und sie alle waren gegen den preußischen, militärischen und autokratischen Zentralismus. So war das Zentrum der gegebene Anti-Bismarckblock. Alle Grundgedanken des Bismarckschen Reichs wurden vom Zentrum verneint. Es sollte ein Verhängnis für das Bismarckische Kaiserreich werden, daß der deutsche Altkonservatismus sich nach 1866 nicht als wunderliche Laune auf einige rheinische Adelsschlösser, auf Nonnenklöster und kleine Höfe beschränkte, sondern daß wuchtige breite Volksschichten in den christlichen Bauernvereinen und den christlichen Gewerkschaften sich der katholischen föderalistischen Bewegung anschlossen. Das Bismarcksche Reich erhielt so, neben dem nie ausgeglichenen Konflikt zwischen Preußentum und Bürgertum, eine weitere schwere Belastung.
Bismarcks Kulturkampf war die Fortsetzung des Krieges von 1866 mit neuen Mitteln. Bismarck gab sich darüber keiner Täuschung hin. Einige Jahre fürchtete er, daß Deutschland einen Revanchekrieg mit dem klerikalen Frankreich und mit den Habsburgern zu führen haben würde. Dabei würde die geistliche Leitung des Angriffs gegen Deutschland beim päpstlichen Stuhl in Rom liegen, und das Zentrum, die Polen und die Weifen in Deutschland würden als Verbündete des Wiener und Pariser Revanchestrebens auftreten5. Bismarcks Verdacht, daß die Führer des Zentrums damals irgendwelche landesverräterische Pläne hegten, war völlig unbegründet. Aber es ist klar, daß ein unglücklicher Ausgang eines Krieges gegen Österreich und Frankreich eine föderalistische Neugestaltung Deutschlands und die Rückgängigmachung der Ergebnisse von 1866 und 1870/71 gebracht hätte.
Der Kulturkampf brachte eine so weitgehende Annäherung zwischen Bismarck und den Liberalen wie niemals zuvor oder danach. Das liberale Bürgertum stürzte sich mit Begeisterung in den Kampf. Zunächst weil der Antiklerikalismus seiner Ideologie völlig entsprach. Dann aber vor allem, weil der Kulturkampf die Gelegenheit zu bieten schien, das parlamentarische System und die Herrschaft der Liberalen doch zu verwirklichen6. Für das Bürgertum schien jetzt die Situation gekommen, um das nachzuholen, was man 1871 bei der Reichsgründung und der Festlegung der Reichsverfassung versäumt hatte.
Ein Teil des preußischen Adels wurde über die Entwicklung bestürzt. Man hatte in diesen Kreisen den Kurs Bismarcks seit 1866 nicht ganz begriffen. Bismarck schien alles zu tun, um das Städtertum auf Kosten des Landes hochzubringen: Der Milliardensegen der französischen Kriegsentschädigung sei von »Juden« und anderen Börsianern verschlungen worden. Das Gründer- und Schiebertum mache sich breit, während der solide Landwirt und Handwerker in seinem Einkommen zurückging. Sollte so das Deutsche Reich aussehen, das von Preußens Heer auf den Schlachtfeldern von Metz und Sedan geschaffen worden war? Nun zerstörte Bismarck auch noch die geistliche und sittliche. Autorität der Kirche. Er behaupte zwar, daß der Kampf nur gegen den Katholizismus ging. Aber die Kulturkampfgesetze mit ihrer Verweltlichung der Schule und mit der Zivilehe träfen die evangelische Weltanschauung genau so schwer. Die Ära Falk bringe die Herrschaft des liberalen Unglaubens über Preußen. Bismarck sei jetzt durch seinen falschen Kurs gezwungen, sich demselben parlamentarischen System in die Arme zu werfen, das er in der Konfliktszeit niedergezwungen hatte. Unter diesen Umständen müßten alle ehrlichen altpreußisch gesinnten Männer in Opposition gegen Bismarck treten. Der Kulturkampf müsse beendet werden. Die evangelischen und katholischen Christen Deutschlands müßten sich statt dessen zusammenschließen, um gemeinsam gegen Liberalismus, Unglauben und Schiebertum Front zu machen. Der begabteste Vorkämpfer der konservativen Opposition gegen Bismarck, der Hofprediger Stöcker, ging noch einen Schritt weiter: Wenn in den Großstädten das Industrieproletariat vom Kapitalismus und vom »Judentum« bedrückt wurde, war es da nicht die Pflicht des preußischen Königtums wie der evangelischen Kirche, diesen Armen zu Hilfe zu kommen, ihre berechtigten Forderungen zu erfüllen und sie so der sozialdemokratischen staatsfeindlichen Agitation zu entziehen?
Während Bismarck, verbündet mit den Liberalen, im heftigsten Kampf mit dem Zentrum lag, wurde er im Rücken von dem Kern des altpreußischen Adels und der evangelischen Pastorenschaft angegriffen. Die konservative Opposition gegen Bismarck war der Ausdruck bornierter Engherzigkeit. Der preußische Adel wollte nicht einsehen, was er dem Werke Bismarcks verdankte und daß seine beispiellose Machtstellung innerhalb der deutschen Nation, wenn überhaupt, so doch nur durch die Methoden Bismarcks zu behaupten war. Der Angriff der Konservativen war der gefährlichste, der für Bismarck denkbar war7. Denn bei andauernder systematischer Feindschaft des konservativen Elements wurde der Ast abgesägt, auf dem Bismarck saß. Noch hielt Wilhelm I. fest zu Bismarck; trotz aller Angriffe der »Kreuzzeitung«. Aber würde der König von Preußen in der Lage sein, auf die Dauer gegen all das zu regieren, was in Preußen an monarchistischen und militärischen Kräften vorhanden war? Sollte der Kampf Bismarcks und des Königs von Preußen gegen Zentrum und Konservative eine Dauereinrichtung werden, so folgten daraus der Parlamentarismus und die Machtübernahme durch das liberale Bürgertum, also die nachträgliche Revanche für die in der Konfliktszeit unterlegene Partei. Trotz der äußerlichen Friedensschlüsse, die später kamen, hat Bismarck das Vertrauen der konsequenten preußischen Konservativen niemals zurückgewonnen. Die Fraktion, von der Bismarck im Jahre 1890 gestürzt wurde, waren die Konservativen und Christlich-Sozialen der Richtung Stöcker. Hier gewinnt man einen Ausblick auf die innere Unhaltbarkeit des Bismarckschen Reichs. Wenn der preußische Militäradel nicht einmal einem Bismarck so viel vertraute, daß er auch nur die bescheidensten Konzessionen an die bürgerlichen Liberalen guthieß, was sollte dann aus dem Deutschen Reich werden? Dann blieb der preußische Adel ein Fremdkörper im politischen Leben Deutschlands, dessen Vorherrschaft beim ersten ernsthaften Anstoß zusammenbrechen mußte.
Die Liberalen erkannten selbstverständlich die Zwangslage, in die Bismarck durch den Kulturkampf geraten war, und suchten sie auszunutzen. Sie verlangten Zugeständnisse, die in der Summe auf ein liberales parlamentarisches Ministerium in Preußen und im Reich herausgekommen wären8. Bismarck mußte sich entscheiden. Er entschied sich, wie nicht anders zu erwarten war, gegen das parlamentarische System und gegen eine Regierung des Bürgertums. Bismarck war aber weit entfernt von der engherzigen Selbstzufriedenheit seiner Epigonen, die alles in Ordnung fanden, solange in Berlin und Potsdam die preußische Garde stand und das Volk auf der Straße dem Schutzmann gehorchte. Bismarck wußte, daß das Reich ohne die freudige freiwillige Mitarbeit und Zustimmung entscheidender Volksschichten nicht bestehen konnte.
Bismarck hatte sich bisher mit den politischen Fraktionen als der Vertretung der einzelnen Volksklassen auseinandergesetzt. Er hatte mit ihnen sämtlich, mit dem Zentrum so gut wie mit den Konservativen und Liberalen, schwer zu kämpfen gehabt, und er hatte nirgends eine konsequente verläßliche Unterstützung gefunden. Wenn er die Politiker ausschaltete und sich statt an die »Kreuzzeitungs«-Redakteure direkt an die Landwirte, statt an die liberalen Rechtsanwälte und Professoren direkt an die Fabrikanten und Handwerker wandte, waren vielleicht bessere Resultate zu erzielen. Mußte nicht ferner eine systematische Regierungspolitik im Sinne der Landwirtschaft auch die katholischen Bauern des Zentrums in eine neue Situation bringen?
Die Formel, mit der Bismarck die Wendung zu den wirtschaftlichen Interessenten vollzog, war die Zollpolitik. Der jung aufstrebenden deutschen Industrie bot Bismarck den Zollschutz, damit sie sich gegen die Allmacht der englischen Konkurrenz durchsetzen könne. Der deutschen Landwirtschaft bot er die Zölle als Schutz gegen die Überschwemmung des deutschen Marktes mit den Agrarprodukten des europäischen Ostens. In dem jungkapitalistischen Deutschland von 1879 stand tatsächlich die Zollfrage ganz anders als in dem Deutschland von 1928, und Bismarck konnte damals sehr gewichtige Argumente für seine Zollpolitik beibringen. Die liberalen Politiker waren gegen die Zölle, zunächst aus einem mechanischen Festhalten an englischen Vorbildern, ferner weil bei ihnen damals der kaufmännische Einfluß stärker war als der industrielle. Bei den Konservativen und beim Zentrum dagegen war der agrarische Einfluß so mächtig, daß er die oppositionellen Stimmungen überwand: Mit den Stimmen dieser beiden Tendenzen gegen die Liberalen brachte Bismarck seine Zollgesetze im Reichstag durch.
Bismarcks Politik nach 1879 führte zu einer außerordentlichen Stärkung der preußischen Konservativen. Sie verwandelten sich aus einer höfisch-aristokratischen Gruppe in eine breite agrarische Interessenpartei. Allmählich verschwindet der liberale Einfluß auf die Bauernschaft. Erst jetzt werden die ostelbischen Landkreise zu festen Hochburgen der Konservativen9. Im Zusammenhang damit verändert der preußische Landtag seinen Charakter. Die erdrückende liberale Mehrheit der Konfliktszeit war nur dadurch möglich geworden, daß die Landwirte vielfach der Führung durch die städtische Intelligenz folgten. Das hörte auf: Der Bauer wählte seine agrarischen Interessenvertreter, das heißt in den evangelischen Kreisen Preußens konservativ. Die Wahlkreiseinteilung des preußischen Landtags bevorzugte das Land vor der Stadt. Das war politisch gleichgültig, solange Land und Stadt im allgemeinen dieselbe politische Richtung vertraten. Es wurde von größter Bedeutung, sobald die Geister sich nach Stadt und Land schieden. Von jetzt ab beherrschte die agrar-konservative Partei den preußischen Landtag10, und die in Preußen herrschende Schicht hatte nun alle drei Faktoren der Gesetzgebung in der Hand: Königtum, Herrenhaus, Landtag. So wird der preußische Staat in allen seinen Teilen das konservative Bollwerk gegen die Ansprüche des Bürgertums und der Arbeiterschaft.
Auch außerhalb Altpreußens entwickelte der konservative Gedanke in seiner agrarischen Formulierung eine erstaunliche Werbekraft. Die evangelischen Bauernmassen in Hannover und Hessen-Nassau, aber auch in ganz Süddeutschland, trennten sich in steigendem Maße von ihren alten politischen Bindungen. Bis 1918 saßen im deutschen Reichstag, gewählt nach dem allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrecht, in den Parteien des preußischen Feudaladels auch Bauernabgeordnete aus Bayern, Württemberg, Baden und sogar aus Elsaß-Lothringen11.
Bismarcks Zollpolitik führte ferner zu einer tiefgehenden Umwandlung des Zentrums. Dazu trug freilich auch der Friedensschluß zwischen dem Deutschen Reich und der Katholischen Kirche bei. Die Gefahr eines katholischen Blocks, der einen Revanchekrieg gegen das Deutsche Reich unternehmen könnte, war beseitigt: Denn in Frankreich war die klerikal-monarchistische Partei von den Republikanern zurückgedrängt worden, und mit Österreich schloß Bismarck gerade in jenen Jahren das Bündnis, das seitdem die Grundlage seiner Außenpolitik bildete. So war der Kampf zwischen Bismarck und dem Zentrum von seiner außenpolitischen Belastung befreit. Als Nebenzweck des Bundes mit Österreich strebte Bismarck direkt die Versöhnung der katholischen altkonservativen, sogenannten »großdeutschen« Tendenz innerhalb des Deutschen Reichs an. Das Bündnis Deutschlands und Österreichs sollte den alten Deutschen Bund in der Beziehung ersetzen, wo er etwas Wertvolles geboten hatte.
In der Tat hatte Bismarck erreicht, daß das Zentrum sich mit der Existenz des Deutschen Reiches, so wie es war, abfand und sich damit begnügte, im Rahmen der Reichsverfassung die föderalistischen Einrichtungen zu schützen und die katholische Kirche zu verteidigen. Aus der Offensive des Zentrums war eine loyale Defensive geworden. Soweit endete der Kulturkampf mit einem Siege Bismarcks, der nun die Kampfgesetze gegen den Katholizismus abbaute. Darüber hinaus wurde die agrarische Mehrheit des Zentrums zur Helferin der Wirtschaftspolitik der Regierung.
Unter den neuen Verhältnissen wurde das Zentrum zu einem politischen Faktor, der Bismarck in mancher Hinsicht gar nicht unangenehm war. Das Zentrum und die Katholische Kirche trugen dazu bei, breite Schichten städtischer, besonders proletarischer Bevölkerung politisch zu binden, die sonst in den Reihen der Sozialdemokraten oder Linksliberalen gestanden hätten12. Der katholische Hochadel, der seinen Frieden mit dem neuen Deutschen Reich geschlossen hatte, spielte in den Zentrumsfraktionen eine bedeutende Rolle und hatte die natürliche Neigung, mit den preußischen Konservativen zusammenzuarbeiten. Wer politische Fragen nur nach der taktischen Bequemlichkeit des Augenblicks ansah, konnte zu der Losung kommen, durch ein festes parlamentarisches Bündnis zwischen den Konservativen und dem Zentrum die Grundlage des Deutschen Reiches zu sichern. Seit die Konservativen sich in die große evangelische Agrarpartei verwandelt hatten, die auch von städtischen, loyalen, antikapitalistischen und antisemitischen Schichten Zuzug erhielt, war eine ziemlich sichere Reichstagsmehrheit aus Konservativen und Zentrum vorhanden.
Dabei waren die Ansprüche, die das Zentrum stellte, überaus bescheiden: Das Zentrum verlangte weder die Parlamentarisierung noch einen Umbau des altpreußischen Staatssystems. Das Zentrum war zufrieden, wenn manchmal ein aktiver Katholik in Preußen Landrat oder Richter werden konnte. Die Hauptforderungen des Zentrums, keine Umänderung der Verfassung im Sinne einer stärkeren Zentralisierung, kein Kampf gegen die Katholische Kirche und eine gemäßigte Sozialpolitik im Interesse der christlichen Arbeiter, enthielten nichts, was der Regierung und den preußischen Konservativen unangenehm war. Die Konservativen waren daher immer geneigt, das Bündnis mit dem Zentrum jedem Zusammengehen mit den Liberalen vorzuziehen.
Bismarck dagegen hat mit unbedingter Hartnäckigkeit sich geweigert, das Deutsche Reich auf die Koalition mit dem Zentrum aufzubauen13. Bismarck sagte sich, daß zwar die west- und süddeutschen Katholiken genauso gute Deutsche waren wie die Protestanten. Aber während der Landwirt in Pommern und Ostpreußen mit allen seinen Interessen und Neigungen an das Hohenzollern-Kaisertum gebunden war, galt dasselbe vom oberbayerischen Bauern und vom christlichen Bergarbeiter des Ruhrgebiets nicht. Der Zentrumswähler war zwar seit dem Frieden zwischen Staat und Kirche ein völlig loyaler Untertan. Aber er konnte sich in einer schweren Krise deutscher Politik auch mit einer anderen Gestalt des Reiches abfinden, als es die von 1871 war. Deshalb war Bismarck zwar bereit, mit der Katholischen Kirche Frieden zu halten und mit dem Zentrum im Parlament zusammenzuarbeiten. Aber die Existenz des Deutschen Reiches und das Funktionieren seiner Einrichtungen durfte niemals vom Zentrum abhängig sein. Der Kaiser mußte in der Lage sein, auch in schwersten Krisen ohne und gegen das Zentrum zu regieren.
Auf der anderen Seite bedeutete das Regieren mit dem Block der Konservativen und des Zentrums die Ausschaltung des Bürgertums. Ohne die aktive Mitarbeit des gebildeten und besitzenden Bürgertums hielt Bismarck aber das Deutsche Reich für nicht haltbar. Wenn das Bürgertum oppositionell beiseite stand, war der König von Preußen, sobald es ernst wurde, zusammen mit dem Militäradel isoliert. Denn das Bündnis mit dem Zentrum zerbrach nach Bismarcks Überzeugung bei der ersten schweren Belastungsprobe. Die Reichsregierung mußte imstande sein, nötigenfalls übertriebene Ansprüche der Liberalen zurückzuweisen und ohne sie das Notwendige zu tun. Aber eine dauernde Abstoßung des bürgerlichen Liberalismus war für Bismarck undenkbar.
Bismarcks Ziel war vielmehr, an Stelle der alten liberalen Parteien, in denen die Idee der parlamentarischen Regierung zu Hause war, eine neue Bismarcktreue liberale Partei zu scharfen. Sie sollte die Interessen der Industrie vertreten, die Zoll- und Kolonialpolitik fördern und in allen Verfassungsfragen konservativ sein. Diese Umbildung gelang zu einem wesentlichen Teil: In den achtziger Jahren erfolgte die Neugründung der Nationalliberalen, die mit der Nationalliberalen Partei von 1871 kaum mehr als den Namen gemeinsam hatten.
Es blieb freilich ein oppositioneller Rest im Bürgertum: Die Kaufmannschaft, die an der Zollpolitik nicht interessiert war, und solche Männer, die prinzipiell den militärisch-aristokratischen Charakter des Deutschen Reiches ablehnten und die Tradition der Konfliktszeit hochhielten. Diese »Fortschrittspartei«, unter Führung Eugen Richters, war im Lager des liberalen Bürgertums ungefähr dasselbe wie die Stöckergruppe innerhalb der konservativen Gesellschaftskreise. Es waren dies die beiden Tendenzen, die der Bismarckschen Koalition entgegenarbeiteten. Die Stöckerleute wollten die Konservativen von dem Block mit den Liberalen wegführen, und Eugen Richter wollte das Bürgertum von der Unterwerfung unter die »Junker« befreien. In Stöcker wie in Eugen Richter erblickte Bismarck recht eigentlich die Tendenzen, die sein Werk von innen heraus störten. Der Haß, mit dem Bismarck die Kreuzzeitung-Konservativen verfolgte, war ungefähr ebenso erbittert wie seine Feindschaft gegen die Fortschrittler um Eugen Richter.
Es ist begreiflich, daß beide Gruppen der Gegner Bismarcks und seines konservativ-liberalen Kartells auf den dritten Faktor der deutschen Politik, auf das Zentrum, spekulierten. Bei den Konservativen war es die Idee des konservativ-klerikalen Blocks, die als Ersatz für das System Bismarcks vorgeschlagen wurde. Aber auch die liberale Opposition gewöhnte sich daran, im Reichstag mit dem Zentrum zusammen zu stimmen. In den achtziger Jahren konzentrierte sich im Reichstag die Opposition gegen Bismarck um die Namen Windthorst und Richter. Sollte es da nicht möglich sein, auch positiv eine Zusammenarbeit zwischen dem liberalen Bürgertum und der katholischen Partei herzustellen? Das Zentrum hatte doch im Kulturkampf den Druck des herrschenden Systems nur zu schwer gespürt. Konnte es sich nicht auch zum Parlamentarismus bekehren? War nicht auch in Deutschland ein Seitenstück zu dem Ministerium Gladstone14 möglich, das sich auf ein Bündnis der englischen Liberalen mit den katholischen Iren stützte?
Ein deutsches Ministerium Gladstone hätte auch in bestimmten, Bismarck feindlichen Hofkreisen eine Stütze gefunden. Denn die Gegner Bismarcks am Hof hatten teils liberale und teils klerikale Sympathien. Die Idee des deutschen Ministeriums Gladstone ist geschichtlich überaus interessant, denn hier finden wir die ersten Anfänge der Kombination, die dann später zur Mehrheit der Friedensresolution von 1917 und zur Weimarer Koalition von 1919 führte. Aber in den achtziger Jahren waren die Aussichten, aus der Oppositionsfront Windthorst-Richter-Sozialdemokratie ein neues deutsches Regierungssystem zu schaffen, ganz gering. Zwar war von 1881 bis 1886 eine Reichstagsmehrheit für die Opposition vorhanden. Bei einem Thronwechsel war auch vielleicht ein Ministerium denkbar, das mit dieser Reichstagsmehrheit (ohne die Sozialdemokratie) zusammengearbeitet hätte. Aber um daraus ein lebensfähiges neues System zu entwickeln, hätte man erst die Machtstellung des militärischen Adels in Preußen zerschlagen müssen, und das traute sich damals niemand zu.
Deshalb war das Zentrum damals von einer solchen Kombination nicht begeistert, und es zog noch ein friedliches Zusammengehen mit den Konservativen einer solchen revolutionären Aktion vor. Im Bürgertum war ebenfalls seit mehreren Jahrzehnten der politische Machtwille ständig gesunken. Was das deutsche Bürgertum mit aller Geisteskraft und aller Opferwilligkeit von 1848 bis 1866 vergeblich erstrebt hatte, das hatten der König von Preußen und Bismarck mit einigen gewaltigen Schlägen zustande gebracht. Nun sah man seit 1871, wie Bismarck, ohne sich von den Parteipolitikern viel stören zu lassen, das Deutsche Reich ausbaute, wie die Weltgeltung Deutschlands von Jahr zu Jahr ohne neuen Krieg zunahm, wie die Wirtschaftskurve nach oben ging und wie die innerdeutschen Verhältnisse scheinbar ganz stabil wurden. So gewöhnte sich die große Mehrheit des Bürgertums, vor allem die intellektuellen und die akademischen Kreise, daran, dem eigenen politischen Urteil zu mißtrauen. Statt dessen verließ man sich darauf, daß die Regierung in Berlin schon alles richtig machen würde.
Gewiß war es richtig, daß Bismarck und Wilhelm I. als politische Persönlichkeiten mehr bedeuteten und mehr leisteten als Lasker und Eugen Richter. Aber daraus machte man das Dogma von der preußischen Unfehlbarkeit und von Preußens historischer Mission. Ungefähr seit 1880 war politisch dem deutschen Bürgertum das Rückgrat gebrochen. Aber die historische Wahrheit zwingt festzustellen, daß diese Wandlung nicht durch Gewalt und Furcht entstanden ist. Unter welchem polizeilichen Druck stand das deutsche Bürgertum von 1815 bis 1848, und doch blieb es oppositionell und selbstbewußt! Nach 1871 war der physische Druck der Regierung auf das Bürgertum minimal. Was bedeuteten die paar Majestäts- und Bismarck-Beleidigungsprozesse gegenüber den Demagogenverfolgungen des Vormärz! Aber jetzt sah man sich einer ungeheueren politischen Leistung gegenüber, die trotz mancher Schönheitsfehler die nationalen Forderungen des deutschen Bürgertums erfüllte. Vor dieser Leistung brach der Oppositionswille des Bürgertums zusammen. Diese Stimmung war es, die den Bismarckschen Nationalliberalen, weit über die Kreise der industriellen Interessen hinaus, Autorität verschaffte. Darum war die Opposition der Fortschrittler so lahm. Darum war das deutsche Ministerium Gladstone unter Bismarck nur ein Gespenst ohne Realität.
Aber diese Einstellung des deutschen Bürgertums zur kaiserlichen Regierung war für das Reich durchaus kein idealer Zustand. Die geistige Kapitulation des Bürgertums, die gegenüber Bismarck und Wilhelm I. vielleicht noch zu rechtfertigen war, wurde absurd gegenüber Wilhelm II. und Bülow. In einer ernsten Krise mußte eine solche Gesinnung dazu führen, daß alles hypnotisiert nach oben starrte, und wenn die Regierung versagte, tat das Bürgertum aus eigener Initiative auch nichts. Nach 1890 war Bismarck entsetzt über die allgemeine Unterwürfigkeit und den Mangel an ernster Opposition gegen Wilhelm II., abgesehen von der Sozialdemokratie, die prinzipiell dem Reiche Bismarcks feindlich gegenüberstand. Aber Bismarck hätte sich sagen müssen, daß dieser beklagenswerte Zustand die Folge seiner eigenen Erziehung des deutschen Bürgertums war.
Indessen in der Tagespolitik ging alles so, wie Bismarck es wollte. Bei den Reichstagswahlen von 1887 errang das Bismarcksche Kartell der Konservativen und Nationalliberalen einen großen Erfolg. Bismarck hatte jetzt im preußischen Landtag wie im deutschen Reichstag eine ihm ergebene Mehrheit. Im Lande hatte er neben der großen agrarkonservativen Bewegung die bürgerlichen, regierungstreuen Nationalliberalen. Der Kampf gegen das Zentrum hatte seine Schärfe verloren, und die Gruppe Eugen Richters war in dieser Situation nicht gefährlich. Aber es blieben zwei andere Gefahren für das System Bismarcks: Die extremen Konservativen der Richtung Stöcker hatten sich zwar parteimäßig nicht selbständig gemacht. Sie hatten es nicht verhindern können, daß die offizielle konservative Partei die Kartellpolitik mitmachte. Aber sie blieben unversöhnt, und sie wurden 1888 beim Regierungsantritt Wilhelms II. am Hof eine Großmacht. Zweitens entwickelte die sozialdemokratische Arbeiterbewegung trotz aller Unterdrückungsmaßregeln eine solche Kraft, daß sie das ganze System Bismarcks gefährdete. Der Kampf gegen die Stöckergruppe und gegen die Sozialdemokraten hat in gegenseitiger Wechselwirkung zum Sturze Bismarcks geführt.
Die selbständige Klassenbewegung des deutschen Proletariats verbreitete sich in den siebziger und achtziger Jahren entsprechend der Aufwärtsentwicklung der deutschen Industrie. Die Sozialdemokratie kämpfte damals zunächst gegen die elende wirtschaftliche Situation der Arbeiter und entwickelte daneben das Programm politischer Machtübernahme, die Umwandlung Deutschlands in eine sozialistische Arbeiterrepublik. Bei dem geringen Prozentsatz der Sozialdemokraten innerhalb der deutschen Bevölkerung lag freilich damals das Endziel in weiter Ferne. Die Sozialdemokratie war bis 1887 im Reichstag kaum viel stärker als die polnische Nationalpartei. Putschistische Gewalttätigkeiten vermied die Sozialdemokratie vollkommen. Sie trieb ihre Propaganda im Rahmen der Gesetze. Mit den beiden Attentaten auf Wilhelm I. im Jahre 1878 hatte die Sozialdemokratie nichts zu tun. Die Vorbilder für jene Attentate lieferten die Aktionen der aktiven Anarchisten und der russischen Sozialrevolutionäre. Trotzdem benutzte Bismarck die durch die Attentate erzeugte Stimmung, um die sozialistische Bewegung unter ein Ausnahmegesetz zu stellen.
Eine oppositionelle Klassenbewegung der Arbeiter konnte Bismarck in seinem Reich nicht gebrauchen. Bismarck hatte kein Verständnis für die sozialen Forderungen der Arbeiterschaft. Nicht einmal die Bestrebungen zur Sicherung der Sonntagsruhe und zur Einschränkung der Kinderarbeit in der Industrie fanden seine Billigung15. Wenn auch die Anfänge der deutschen sozialpolitischen Gesetzgebung in seine Herrschaftsperiode fallen, blieb er über den Wert und die Bedeutung solcher Maßregeln skeptisch. Noch viel weniger war Bismarck irgendwelchen Bestrebungen zugeneigt, den Arbeitern politisch ein Betätigungsfeld im Deutschen Reich einzuräumen. Die Struktur des Bismarckschen Reichs ließ einfach nichts anderes zu als die politische Unterdrückung der Arbeiterklasse. Im Bismarckschen System war ja nicht einmal die Frage der politischen Mitarbeit des Bürgertums geklärt! Wenn man aber nicht einmal dem besitzenden Bürgertum die Mitregierung gestatten konnte, was sollte man da mit den politischen Forderungen der Arbeiter anfangen?
Ferner bedeutete eine Politik, die in weitem Umfang den Arbeiterforderungen entgegenkam, einen Kampf gegen die Industrie, und Bismarck war unbedingt abgeneigt, einen solchen Kampf zu führen. Die Industriellen sollten ja Bismarcks Kerntruppe innerhalb des Bürgertums sein. Ihr Einfluß trug die Nationalliberale Partei. Die Industrie abstoßen, bedeutete für Bismarck das Bürgertum abstoßen. Darin sah er die Ersetzung seines bewährten Systems der Kräfte durch christlichsoziale stökkerische Experimente. Die Verstimmung der Arbeiterschaft war für Bismarck gegenüber der Verbitterung des besitzenden Bürgertums durchaus das kleinere Übel: Ohne das Bürgertum konnte man das Deutsche Reich nicht aufrechterhalten. Dagegen hielt Bismarck es absolut für möglich, die politische Arbeiterbewegung mit Gewalt niederzuwerfen.
Bismarck hielt nur eine solche Staatsordnung für vernünftig und dauerhaft, in der die besitzenden Schichten, um die Monarchie geschart, die Macht besaßen. Dagegen müsse die Herrschaft der armen und besitzlosen Massen zum Chaos und zur Auflösung führen. Eine solche »reine Demokratie« habe als notwendige Folge die militärische Gewaltherrschaft eines einzelnen. Aufgabe einer vernünftigen Staatskunst sei es, der Gesellschaft Europas diesen Kreislauf zu ersparen16. Die staatspolitische Anschauung Bismarcks zeigt eine überraschende Ähnlichkeit mit den Theorien des Fürsten Metternich. Nur war Metternich viel mehr wissenschaftlicher Systematiker als Bismarck und deshalb in seinen Methoden viel starrer. Bismarck fürchtete, daß die Ereignisse der Pariser Kommune von 1871 sich in Deutschland wiederholen könnten. Er hatte 1871 mit der bürgerlichen republikanischen Regierung Frankreichs eine Einheitsfront gegen die Kommune gebildet und die Machthaber Frankreichs zur gewaltsamen Niederwerfung der Pariser Arbeiter mit allen Mitteln angetrieben und gefördert. Bismarck hielt genauso wie Metternich eine internationale Solidarität der europäischen Regierungen gegen die »rote Gefahr« für angebracht, wenn er sich auch durch diese Stimmung niemals zu Abenteuern verleiten ließ.
Die beiden Attentate auf Wilhelm I. waren für Bismarck der Beweis, daß auch in Deutschland eine Kommune-Situation heranreifen könne. Er schlug deshalb gegen die Partei los, die sich mit der Pariser Kommune solidarisch erklärt hatte, gegen die Sozialdemokratie. Das Sozialistengesetz Bismarcks hat über Hunderte von Arbeitern und ihre Familien schwerstes Unglück gebracht. Die Vereine und die Presse der deutschen Sozialdemokraten wurden zerstört. Trotzdem erfüllte das Gesetz seinen Zweck nicht: Es annullierte nicht die Mandate der sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten, und es verhinderte nicht die Wahlagitation der Sozialdemokratie. So blieb die sozialdemokratische Partei, auch ohne formelle sozialistische Vereine und Zeitungen, durch den persönlichen Zusammenhalt der Arbeiter in den Betrieben bestehen, und alle drei Jahre bei den Reichstagswahlen trat die Partei wieder an die Öffentlichkeit. So hart das Sozialistengesetz auch viele einzelne traf, war es im ganzen gesehen viel mehr Schikane als Unterdrückung.
Auch in der Verfolgungszeit von 1878 bis 1890 hat die Sozialdemokratie sich von Gewalttätigkeiten streng ferngehalten. Da außerdem ihr Wachstum in mäßigen Grenzen blieb, hielt Bismarck so lange eine Verschärfung des Kampfes gegen die Sozialdemokraten nicht für erforderlich. Erst die Reichstagswahlen von 1890 schufen eine neue Situation: Die sozialistische Stimmenzahl stieg mit einem Ruck von dreiviertel Millionen auf anderthalb Millionen. Damit war das System Bismarcks in seiner Grundlage erschüttert. Zu der Millionenbewegung des Zentrums, die Bismarck nach wie vor als seinem System feindlich betrachtete, kam nun noch das Millionenheer der Sozialdemokraten. Wenn man dazu die Oppositionsgruppen der Polen, Weifen, Elsässer und Dänen rechnete, so hatten sich mitten im Frieden, bei der ausgezeichneten außenpolitischen und wirtschaftlichen Lage des Reichs, vierzig Prozent der Bevölkerung gegen das Reich Bismarcks erklärt. Was sollte dann erst bei einer ernsten Krise werden? Damit war die Reichsschöpfung von 1871 in Frage gestellt, und es begann ein Kampf auf Leben und Tod17.
Von Bismarcks Standpunkt aus war eine solche Beurteilung der Lage von 1890 durchaus logisch und konsequent: Das Kaiserreich von 1871 mußte entweder die politische Arbeiterbewegung zertreten, oder es mußte untergehen. Ein Drittes war nicht möglich. Denn bei jedem Versuch eines Kompromisses kam zunächst das Bürgertum ans Ruder, und damit war die Verfassung von 1871 aus den Angeln gehoben. Mit den christlich-sozialen Methoden Stöckers war selbstverständlich die Arbeiterfrage in Deutschland auch nicht zu lösen. Darin hatte Bismarck ganz recht: Das klassenbewußte sozialistische Proletariat ließ sich mit Bibelsprüchen und ein paar Sozialgesetzen nicht zu treuen Anhängern des preußischen Staatssystems umwandeln. Und die Zentrumsarbeiter standen im Grunde dem herrschenden System Preußen-Deutschlands genauso fremd gegenüber wie die Sozialdemokraten. Wer die Situation von 1890 in allen ihren Konsequenzen durchdenkt, hat damit die historische Notwendigkeit der Revolution von 1918 schon begriffen.
Was Bismarck im einzelnen gegen die Sozialdemokraten getan hätte, wenn er nach 1890 im Amt geblieben wäre, läßt sich heute nicht mehr ausmalen. Er hätte vielleicht das Sozialistengesetz verschärft, um die sozialdemokratischen Wahlstimmen und Mandate zu annullieren18. Zu einer gewaltsamen Erhebung der Arbeiterschaft wäre es auch nach einem solchen Gewaltstreich der Regierung schwerlich gekommen. Für ein paar Jahre hätte Bismarck sich durchsetzen können. Er hätte die Sozialdemokratie von der öffentlichen politischen Tätigkeit verdrängt und dem Zentrum durch den Wegfall der sozialdemokratischen Fraktion die ausschlaggebende Stellung im Reichstag genommen. Auf die Dauer wäre aber damit in Deutschland die Atmosphäre des russischen Zarismus geschaffen und die Revolution nur beschleunigt worden.
Bei der Unfertigkeit der innerpolitischen Zustände Deutschlands und bei den schweren Gefahren, die das Reich von innen bedrohten, war für Bismarck eine unbedingte Friedenspolitik nach 1871 geradezu ein Dogma. Irgendwelche Eroberungswünsche auf dem europäischen Festland hatte Bismarck nach 1871 nicht. Die Annexion weiterer fremdsprachiger Gebiete hielt er für ein Übel. Die Vereinigung Deutschösterreichs mit Deutschland hätte die katholische Minderheit im Reiche derartig gestärkt, daß dadurch das Gleichgewicht, das Bismarck wollte, erschüttert worden wäre. Kolonialen überseeischen Erwerbungen war Bismarck nicht abgeneigt. Koloniale Erwerbungen im weiten Umfang sind ihm ohne Krieg mit einer europäischen Großmacht gelungen. Deutschland fand auf diesem Wege den Widerstand Englands. Bismarck war aber der Ansicht, daß man England zurückdrängen und zu Konzessionen auf überseeischem Gebiet nötigen könne, wenn es sich einer Einheitsfront des europäischen Festlandes gegenübersieht.
Für solche Auseinandersetzungen mit England brauchte Bismarck die Hilfe Frankreichs, ja sogar eines starken Frankreichs19. Bismarck hielt eine weitere Schwächung Frankreichs über das Maß von 1871 hinaus für eine Schädigung deutscher Interessen. Freilich mußte die Ausspielung Frankreichs gegen England mit Vorsicht erfolgen. Bismarck glaubte nicht, daß Frankreich sich in absehbarer Zeit mit dem Verlust Elsaß-Lothringens abfinden würde. Falls Deutschland mit einer anderen Großmacht in Krieg gerate, sei ohne weiteres damit zu rechnen, daß Frankreich den Krieg gegen Deutschland mitmache. Bismarck ließ deshalb die koloniale Auseinandersetzung mit England nie so weit gehen, daß daraus die Gefahr eines Bruchs entstand. Auch wenn Frankreich die diplomatische Aktion Deutschlands gegen England erst mitmachte, war beim Eintreten der Krise damit zu rechnen, daß Frankreich plötzlich auf die andere Seite schwenkte.
So vorsichtig war Bismarck, selbst wenn er in kolonialen und überseeischen Fragen gemeinsam mit Frankreich und Rußland gegen England operierte! Eine koloniale Aktion Deutschlands gegen den Willen Englands und Frankreichs durchzufechten, hätte Bismarck für wahnsinnig gehalten. Ohne sich, über die Stimmung des französischen Bürgertums Illusionen hinzugeben, tat Bismarck alles, um die deutschfranzösischen Beziehungen zu verbessern. Er unterstützte in keiner Weise die Pläne eines monarchischen Staatsstreichs in Frankreich. Denn er hielt die bürgerliche Republik in Paris immer noch für friedfertiger als eine klerikale Monarchie oder eine bonapartistische Diktatur. Bismarck förderte alle außenpolitischen Wünsche der französischen Regierung, soweit es nur irgend möglich war, und ganz besonders auf kolonialem Gebiet. Je mehr sich Frankreich in Marokko20 und in China engagierte, um so mehr wurde es von Elsaß-Lothringen und von der Revanche abgelenkt.
Neben Frankreich waren mögliche Gegner Deutschlands zu Lande Rußland und Österreich-Ungarn. Die Hauptaufgabe deutscher Politik bestand nach Bismarck darin, zu verhindern, daß Deutschland isoliert in einen Krieg mit mehreren Großmächten geriet. Das Deutsche Reich war militärisch einem einzelnen Gegner durchaus gewachsen. Aber ein Krieg mit zwei oder gar noch mehr Großmächten mußte eine verzweifelte Lage heraufbeschwören. Die natürliche außenpolitische Anlehnung war ursprünglich für Bismarck die Verständigung mit Rußland. Das war die Fortsetzung der Tradition Preußens vor 1871. Nur dank der russischen Freundschaft hatte Preußen die Kriege mit Österreich und Frankreich überhaupt führen können. Zwischen dem Deutschen Reich und Rußland gab es keine ernsten politischen Differenzen. Dazu kam die Gemeinsamkeit der monarchisch-konservativen Interessen und des Gegensatzes gegen die katholisch-polnische Tendenz. Im Bunde mit Rußland konnte Deutschland einer Revanchekombination Frankreich-Österreich ruhig entgegensehen. Wenn aber Österreich es vorzog, unter die Ereignisse von 1866 den Schlußstrich zu setzen und sich dem konservativen Block Deutschland-Rußland anzuschließen, dann war ein solches Drei-Kaiser-Bündnis die beste Friedensgarantie, die Bismarck sich wünschen konnte.
Indessen zwangen die Erfahrungen von 1875/79 Bismarck dazu, sein Vertrauen zur russischen Stütze stark zu mindern. Die russische Politik, geleitet vom Fürsten Gortschakow, erkannte die Zwangslage, in der das Deutsche Reich sich befand. Fürst Gortschakow verlangte von Bismarck die unbedingte Unterstützung der russischen Eroberungspolitik im Orient bis zum Risiko eines Krieges mit Österreich und England. Weigerte sich aber Deutschland, ein solches Abenteuer mitzumachen, so drohte Rußland ziemlich offen, im Bunde mit Frankreich, ja sogar vielleicht mit Österreich und England, über Deutschland herzufallen. Denn Rußland konnte damals seine traditionellen Orientpläne auf doppelte Art verwirklichen: Entweder durch direkten Krieg gegen seine orientalischen Rivalen, wobei Deutschland ihm den Rücken deckte, oder aber als Führer einer siegreichen europäischen Koalition gegen Deutschland. Im letzteren Fall konnte Rußland als Schiedsrichter Europas für sich die Grenzen auf dem Balkan nach Belieben ziehen. Die ersten Anfänge der Ententekombination liegen in diesen siebziger Jahren, als auf der einen Seite Gortschakow Verbindung mit Frankreich suchte und auf der anderen Seite Gladstone bereit war, die Orientfrage gemeinsam mit Rußland zu lösen.
Um die gefährliche Abhängigkeit von Rußland zu überwinden, machte Bismarck seit 1879 das Bündnis mit Österreich zur Grundlage seiner Politik. Aber Bismarck hütete sich, deshalb den Draht mit Rußland zu zerreißen. Nach kurzer Zeit der Verstimmung zwischen Berlin und Petersburg ergänzte er das Bündnis mit Österreich durch den Rückversicherungsvertrag mit Rußland. Es ist Bismarck gelungen, solange er im Amt war, den Vertrag mit Rußland aufrechtzuerhalten. Das System der zwei Verträge hatte einen einfachen Sinn: Deutschland duldete keinen Angriff Rußlands gegen Österreich, aber es blieb bei einem Angriff Österreichs auf Rußland neutral. Als Gegenleistung verpflichtete sich Rußland, seinerseits Deutschland nicht anzugreifen21.
Bismarck bewahrte sich trotz mancher Zwischenfälle und Störungen die Freundschaft Rußlands dadurch, daß er niemals ein ernsthaftes sachliches Interesse Rußlands schädigte. Die Ansprüche Rußlands auf Vorherrschaft über Bulgarien und über die Dardanellen fanden stets bei Bismarck Unterstützung. Daß die russischen Staatsmänner in der Zeit des Fürsten Alexander Battenberg ihre Autorität über Bulgarien selbst zerstörten und daß sie in der Dardanellenfrage keine Fortschritte machten, war ihre eigene Schuld. Sie konnten deswegen gegen Bismarck keine Vorwürfe richten. Niemals hat Bismarck das deutsch-österreichische Bündnis so ausgelegt, daß Österreich damit auf dem Balkan freie Hand bekam. Serbische und bulgarische Abenteuer konnte Österreich nur auf eigenes Risiko unternehmen, ohne jede Hoffnung, dabei deutsche militärische Hilfe zu erhalten22. Niemals hat Bismarck eine aktive deutsche Politik in der Türkei auch nur in Erwägung gezogen.
Dem Wunsche Italiens, sich an Deutschland und Österreich anzulehnen, kam Bismarck entgegen. Italien suchte Rückendeckung für seine Mittelmeerpolitik gegen Frankreich. Hier wachte Bismarck darüber, daß Deutschland durch den Dreibund in keinen überflüssigen Gegensatz zu den Mittelmeerinteressen Frankreichs kam. Die Leichtigkeit und Geschicklichkeit, mit der Bismarck sein außenpolitisches System beherrschte, kann aber über die Kompliziertheit des Ganzen nicht hinwegtäuschen. Das Lavieren zwischen Österreich und Rußland und dann wieder zwischen Frankreich und England erforderte eine Erfahrung und Gewandtheit, wie sie Bismarcks Nachfolgern nicht mehr eigen waren. Trotz aller Einzelkonflikte hat Bismarck nach 1871 ein außerordentliches Vertrauen zu der Uneigennützigkeit und Friedfertigkeit der deutschen Außenpolitik zu erwecken gewußt. Er genoß dieses Vertrauen nicht nur in Wien und Rom, sondern in hohem Maße am Zarenhof, in London und sogar in Paris. Nur die friedliche und sichere Außenpolitik hat es Bismarck ermöglicht, die innerpolitischen Konflikte in Deutschland von 1871 bis 1890 in seinem Sinne zu lösen und den deutschen Verhältnissen einen Schein von Stabilität zu verleihen.