Читать книгу Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik - Arthur Rosenberg - Страница 13
II. KAPITEL Verschärfung der inneren Konflikte unter Wilhelm II.
ОглавлениеAm 9. März 1888 starb Kaiser Wilhelm I. Er war ohne Zweifel ein bedeutender Mann. Er verstand das Bismarcksche System vollkommen und hatte die Einsicht, trotz seines starken dynastischen Selbstbewußtseins den Reichskanzler regieren zu lassen. Bis zu seinem neunzigsten Lebensjahr verfolgte er die politischen Vorgänge und bildete sich stets ein selbständiges Urteil. Den ernstesten Konflikt mit Bismarck hatte er 1879, als der Kanzler sich von Rußland abwenden und das Bündnis mit Österreich zur Grundlage seiner Außenpolitik machen wollte. Daß Wilhelm I. um keinen Preis die Verbindung mit Rußland zerreißen wollte, macht seinem politischen Urteil alle Ehre. Die militärischen und altpreußischen Traditionen hatten auf ihn starken Einfluß. Aber er machte doch alle Zugeständnisse an bürgerliche und moderne Verhältnisse, die Bismarck für erforderlich hielt. In Einzeldingen zeigte der alte Herr manche Wunderlichkeit, aber in wesentlichen Fragen ließ er sich durch höfische und familiäre Einflüsterungen niemals beeinflussen.
Durch die Verfassung von 1871 war der deutsche Kaiser der mächtigste Mann der Welt geworden. Seine Macht nach innen und außen war so groß, daß sie Schrecken und Mißtrauen erwecken mußte. Der deutsche Kaiser diente seiner Sache am besten, wenn er möglichst seine ungeheuere Macht nicht merken ließ. In diesem Sinne wirkte die einfache und schlichte Art Wilhelms I. Man empfand ihn nicht als militärischen Gewaltherrscher, sondern als den ersten Beamten des Reichs, und das Ausland vertraute seiner friedlichen Gesinnung. Wilhelm I. hat im Sinne der Politik Bismarcks nicht nur drei Kriege geführt, sondern auch im Innern oft rücksichtslos durchgegriffen. Gerade weil er keine Puppe war, sondern ein Mann mit selbständigem Urteil, trägt er vor der Geschichte die volle Verantwortung für die Härten der Konfliktszeit, des Kulturkampfes und des Sozialistengesetzes. Aber er handelte schweigend und hat niemals seine Gegner durch renommistische Reden bedroht oder verletzt. Unter Wilhelm II. war es umgekehrt. Er legte durch pomphafte und prahlerische Reden die ganze Kaisermacht bloß. Darauf folgten aber keine Handlungen. So machte er sich lächerlich und zerstörte das Prestige, das mit der stärksten Machtstellung der Welt verbunden war. Die kurze Regierung Kaiser Friedrichs brachte keine wesentliche Veränderung. Wenn Friedrich auch als Kronprinz persönlich dem liberalen Bürgertum näherstand als sein Vater, so war er doch ein überzeugter Anhänger des Bismarckschen Systems, und er hätte bei längerer Regierung schwerlich etwas daran geändert.
Am 15. Juni 1888 trat Wilhelm II. seine Regierung an. Staatsrechtlich dauerte seine Regierung von 1888 bis 1918. In Wirklichkeit muß man am Anfang und am Ende je zwei Jahre abziehen. Von 1888 bis 1890 regierte im Namen Wilhelms II. der Fürst Bismarck und von 1916 bis 1918 der General Ludendorff. Die eigentliche Zeit der Selbstherrschaft Wilhelms II. reicht also nur von 1890 bis 1916. Wilhelm II. fühlte sich von Anfang an berufen, selbst die Linie der Reichspolitik zu bestimmen. Da er sich von Bismarck nicht beeinflussen lassen wollte, mußte der Reichskanzler entweder zum Werkzeug des kaiserlichen Willens herabsinken oder aber den Kampf gegen den Kaiser aufnehmen. Bismarck entschied sich für das letztere und ist schnell unterlegen.
Warum war Bismarck nicht imstande, seine Stellung, die er dreißig Jahre lang mit beispiellosem Erfolg behauptet hatte, gegen einen jungen Mann zu verteidigen, der außer dem königlichen Namen nichts aufzuweisen hatte? Warum schickte nicht Bismarck den widerspenstigen Herrscher fort, genau so, wie es ein Jahrtausend zuvor der Reichskanzler Pippin mit dem Merowingerkönig gemacht hatte? Des Rätsels Lösung ergibt sich aus den Verhältnissen der preußischen Armee. Das preußische Offizierskorps hatte zwar dem Fürsten Bismarck unendlich viel zu danken. Aber es fühlte sich nicht dem Kanzler, sondern nur dem König zum Gehorsam verpflichtet. Bismarck hatte sich nie bemüht, auf den militärischen Apparat direkten Einfluß zu gewinnen. Die preußische Armee war ein Staat im Staate und wurde vom König unter Vermittlung des Militärkabinetts und des Generalstabs, ohne Berücksichtigung der zivilen Regierung, geführt. Die Ressorteifersucht der Generäle wachte eifrig darüber, daß bei ihnen kein Zivilist, auch nicht Bismarck, Einfluß erhielt1. Solange Wilhelm I. lebte, war dieser Zustand für Bismarck keine Gefahr. Denn mit Hilfe des königlichen Befehls stand die Armee stets seiner Politik zur Verfügung. Sobald aber ein Herrscher da war, der gegen Bismarck auftrat, hatte er die Armee gegen den Reichskanzler unbedingt hinter sich. Hätte Bismarck die kommandierenden Generäle auf seiner Seite gehabt, so wäre das Kräfteverhältnis anders gewesen. Da hätte er den Kaiser absetzen können. Aber so hatte Wilhelm II. alle reale Macht in seiner Hand.
Diese Entwicklung der Dinge war zwar für Bismarck persönlich sehr unangenehm, aber man kann nicht sagen, daß sie dem Geiste der Reichsverfassung widersprach. Ob der Kaiser den Reichskanzler beherrschte oder umgekehrt, war schließlich gleichgültig. Unerläßlich war nur, daß einer von beiden die starke Regierungsgewalt verkörperte. Wilhelms II. Wille, sein eigener Kanzler zu sein, hätte schon allein über kurz oder lang den Konflikt mit Bismarck gebracht. Aber dazu kamen grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten in der Führung der Innen- und Außenpolitik2.
Es war der Stöcker-Gruppe gelungen, schon in den Jahren vor seiner Thronbesteigung an den Prinzen Wilhelm heranzukommen und ihm ihre Ideen beizubringen. Wilhelm II. war durch das unaufhaltsame Wachsen der Sozialdemokratie ebenfalls erschreckt. Aber er lehnte die Gewaltpläne Bismarcks gegen die Sozialdemokraten ab und wünschte statt dessen eine gesteigerte Sozialpolitik und eine Reichsregierung im Sinne Stöckers. Zu den Führern im Stöcker-Kreise gehörte damals der Generalstabschef Graf Waldersee, der den Krieg mit Frankreich und Rußland für unvermeidlich hielt. Im Sinne Waldersees verwarf Wilhelm II. die Bestrebungen Bismarcks, mit Rußland im Vertragsverhältnis zu bleiben. Statt dessen wollte er, wenigstens in den Anfängen seiner Regierung, im engen Bündnis mit Österreich, vielleicht auch mit England, den Verteidigungskrieg gegen Rußland und Frankreich vorbereiten. Bismarck lehnte innen- und außenpolitisch die Linie Wilhelms II. ab und wurde entlassen.
Wilhelm II. hat sich seit 1890 intensiv mit den Fragen der deutschen Außenpolitik beschäftigt und in allem Wesentlichen ihren Kurs bestimmt. Ebenso hat er wenigstens in den großen Linien die Innenpolitik Deutschlands festgelegt. An Fleiß zur Erledigung der Regierungsgeschäfte fehlte es Wilhelm II. nicht. Aber seine Sachkenntnis war gering, und die nervösen Schwankungen und Störungen, denen er unterworfen war, machten jeden stetigen Kurs unmöglich. Wilhelm II. vertrug zwar in Einzelfragen den Widerspruch seiner Minister, aber er duldete niemand, der konsequent ein bestimmtes System in der Innen- und Außenpolitik verfolgte. Seine eigene Launenhaftigkeit wurde noch durch die vielfachen höfischen Einflüsse gesteigert, denen er ausgesetzt war. So hat Deutschland eigentlich von 1890 bis 1916 überhaupt keine Regierung gehabt, sondern es wurden zufällig und prinzipienlos die laufenden Geschäfte erledigt.
Auch unter Wilhelm II. ist in manchen Ressorts solide Arbeit geleistet worden, was in einzelnen Gesetzeswerken zutage trat. Aber es war niemand da, der die Gesamtsituation Deutschlands erfaßte und auf ein bestimmtes Ziel hinarbeitete. So schuf das System Wilhelms II. ein politisches Chaos. Nur der Zufall, daß Deutschland bis 1914 ein ernsthafter Krieg erspart blieb, hat den Zusammenbruch so lange hinausgeschoben.
Daß die Regierung Wilhelms II. ein solches Unheil über Deutschland brachte, ist aber weniger die persönliche Schuld des Kaisers als die Folge der Verfassung von 1871. In konstitutionellen Monarchien hat die Persönlichkeit des Regenten keine entscheidende Bedeutung. Aber auch absolute Monarchien haben schwere Krisen unter der Regierung von durchaus unzulänglichen Persönlichkeiten überstanden. Man denke an Österreich und Rußland in der napoleonischen Zeit. Kaiser Franz von Österreich und Alexander I. von Rußland waren wirklich keine Männer, die ihrem Staat eine besondere Stütze bieten konnten. Österreichs Situation war 1809 nach der Schlacht bei Wagram ungefähr ebenso hoffnungslos wie die Preußen-Deutschlands im Herbst 1918. Ebenso ernst war die Lage Rußlands 1812, als Napoleon in Moskau stand. Trotzdem bestand damals weder in Österreich noch in Rußland eine Revolutionsstimmung. Auch absolute Monarchien können sehr stabil sein, wenn sie der traditionelle Ausdruck der wirtschaftlich und gesellschaftlich herrschenden Schicht sind.
Der Absolutismus war im alten Österreich, wie im alten Rußland, die Herrschaftsform der dort regierenden Aristokratie. Der Kaiser war zwar formal allmächtig. In Wirklichkeit mußte er die traditionell festgelegte Innen- und Außenpolitik seines Reiches weiterführen. War er nicht imstande, das selbst zu tun, so fanden sich Ratgeber, die ihm als Minister im Sinne der Tradition beistanden. Sabotierte er aber und lähmte er die Staatsgeschäfte durch seine Launen, so wurde er von der Aristokratie abgesetzt, wie Peter III. und Paul von Rußland. Jedoch dachte dort niemand an eine Verfassungsänderung. Sondern an Stelle des alten trat ein neuer »absoluter« Monarch, der, durch das Schicksal seines Vorgängers belehrt, die traditionelle Politik fortsetzte. So war es möglich, daß auch absolute Monarchien jahrhundertelang eine konsequente Politik verfolgten, ohne durch die Person unzulänglicher Herrscher behindert zu werden.
Das Bismarcksche Deutschland war weder ein konstitutioneller Staat noch eine absolute Monarchie mit fester Tradition. Die Kräfte, auf denen das Reich beruhte, hatten keine organische Verbindung. Bismarcks Prinzipien waren nicht im entferntesten den herrschenden Schichten in Fleisch und Blut übergegangen. Der Ausgleich zwischen dem preußischen Militäradel und den übrigen im Reiche wirksamen Kräften lag ausschließlich in der Hand des Regenten. In diesem Sinn war das Reich Bismarcks eine bonapartistische Schöpfung, und sein Wohl und Wehe hing in weitem Umfang von der Person des Herrschers ab, mochte dies nun der regierende Kaiser oder ein regierender Reichskanzler sein. Bismarck hat nach seinem Sturz die Fehler Wilhelms II. rücksichtslos kritisiert. Aber er trägt dennoch für sie die Mitverantwortung. Denn die Verfassung, die das Schicksal Deutschlands in die Hand Wilhelms II. legte, war Bismarcks Werk.
Unter Wilhelm II. verstärkte der preußische Großgrundbesitz seine Verbindung mit den evangelischen Bauernmassen des Reichs: Der »Bund der Landwirte« wurde zu einer politischen Großmacht. Versuche, ein kleinbäuerliches Konkurrenzunternehmen gegen den »Bund der Landwirte« ins Leben zu rufen, hatten keinen nennenswerten Erfolg. Das evangelische Dorf blieb bis zum Weltkrieg unter konservativer Herrschaft, wenn auch ein Teil der Landarbeiter bei der geheimen Reichstagswahl einen »roten« Stimmzettel abgab. Seitdem Bismarcks schwere Hand von ihnen genommen war, konnte niemand mehr die preußischen Konservativen zu Zugeständnissen an Bürger und Arbeiter zwingen. Unbedingt verteidigten sie ihre Privilegien in Armee und Verwaltung. Die Zoll- und Steuerpolitik mußte nach ihren Wünschen gestaltet werden. Als besonders kostbarer konservativer Besitz galt jetzt das preußische Dreiklassenwahlrecht, an dem nicht gerüttelt werden durfte. Wilhelm II. hatte weder die Kraft noch den Willen, irgendwo den preußisch-aristokratischen Einfluß zurückzudrängen. Die preußischen Konservativen waren durchaus nicht mit allen Handlungen des Kaisers einverstanden. Urteilsfähige Konservative hatten ihre Sorgen über manche Züge des persönlichen Regiments und besonders über die kaiserliche Außenpolitik. Aber die Konservativen dachten an keine Verfassungsreform, um die Macht des Kaisers einzuschränken. Sie waren der Ansicht, daß jede Veränderung der Verfassungsverhältnisse ihre Position schwächen würde, und so ließen sie alles beim alten.
Das liberale Bürgertum nahm an wirtschaftlicher Macht unter Wilhelm II. ständig zu. Aber sein parlamentarischer Einfluß ging zurück. Im preußischen Landtag herrschten die Agrarier. Bei den Reichstagswahlen fielen die großstädtischen und industriellen Bezirke in steigendem Maße den Sozialdemokraten zu. Die liberalen Parteien behaupteten mit Mühe und Not eine Anzahl Mandate, vor allem aus kleinstädtischen Bezirken. Eine Parlamentarisierung Deutschlands hätte in erster Linie den Übergang der Macht von den Agrarkonservativen zu den bürgerlichen Liberalen bringen müssen. Aber die Schwäche der Liberalen im Reichstag, wo sie meistens kaum ein Viertel der Sitze hatten, machte den Gedanken der parlamentarischen Regierung damals noch aussichtsloser, als er schon an sich war.
Der Einfluß des Bürgertums auf die Reichspolitik vollzog sich infolgedessen gar nicht durch das Parlament, sondern durch persönliche Bearbeitung des Kaisers. Wilhelm II. war persönlich zu den Führern von Industrie und Handel sehr entgegenkommend. Er zog sie an seinen Hof und gab ihnen Adel und Titel. Wenn eine große Firma in geschickter Weise ihre Auslandsinteressen beim Kaiser vertrat, konnte sie alles erreichen. Wilhelm II. war jederzeit bereit, die Autorität des Reichs für das Geschäft einer jeden großen Firma einzusetzen. Das bekannteste Beispiel ist die Beeinflussung der Reichspolitik durch das Bagdadbahn-Geschäft der Deutschen Bank. Wilhelm II. war hier wie auf allen Gebieten völlig planlos. Das Verhängnis für das Reich, das aus solchen Einzelunternehmungen und entsprechenden politischen Aktionen hervorgehen konnte, bedachte er nicht.
Der persönliche Einfluß, den Männer wie Ballin beim Kaiser hatten, konnte aber die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß das Bürgertum als Klasse in der deutschen Politik keine Macht hatte. Deutschland wurde unter Wilhelm II. konservativ-agrarisch regiert, und das Bürgertum stand daneben. Die nationalliberalen Industriellen bewahrten freilich die aus der Bismarck-Zeit ererbte Loyalität. Um 1890 hatte es so ausgesehen, als beabsichtige der Kaiser einen entschlossenen sozialpolitischen Kurs auch gegen die Industrie. Aber als Wilhelm II. sah, daß er mit seinen Reden und mit kleinen Geschenken die Sozialdemokraten nicht gewinnen konnte, schlug seine Stimmung rasch um. Es wurde unter Wilhelm II. nicht mehr Sozialpolitik getrieben, als die Industrie ertrug. So blieben die Nationalliberalen eine feste Stütze der Regierung im Reichstag. Sie traten für die Flotten- und Kolonialpolitik ein und bildeten zusammen mit Konservativen und Zentrum die Mehrheit für die Schutzzölle. Die Fabrikanten sahen in der starken Regierungsgewalt einen willkommenen Schutz gegen die Arbeiter. Die »freisinnige« Kaufmannschaft hatte keine so scharfe Kampfstellung gegen die Arbeiter, und sie lehnte nach wie vor die Schutzzölle ab. Trotzdem war der Oppositionswille der »Freisinnigen« im Reichstag gering, und wenn die Regierung sich darum bemühte, konnte sie auch die freisinnigen Stimmen haben, zumal nach dem Tode Eugen Richters.
Trotzdem wäre es verfehlt, die Stimmung des deutschen Bürgertums in der wilhelminischen Zeit nur nach der Haltung der liberalen Parlamentarier zu beurteilen. Zwar war das Bürgertum im ganzen durchaus verfassungstreu, und niemand strebte eine gewaltsame Umwälzung an. Es wirkte sich immer noch aus, wie in der Bismarck-Zeit der politische Machtwille des Bürgertums gebrochen worden war. Aber die Mißstimmung über das herrschende System trat doch bei den verschiedensten Gelegenheiten zutage.
In den Jahren 1890 bis 95 häuften sich die Huldigungen für Bismarck, und zwar vor allem aus den Kreisen des Bürgertums und der akademisch gebildeten Schichten. Der preußische Adel hielt sich gegenüber Bismarck viel mehr zurück. Die Bismarck-Begeisterung war vielfach nur der Ausbruch der Reichstreue und nationalen Stimmung. Aber dabei war doch ein starker Unterton bürgerlicher Opposition gegen Wilhelm II. Bismarck selbst suchte die Opposition mit allen Mitteln zu schüren und benutzte dazu ihm nahestehende Zeitungen und Journalisten. Wäre das Parlament damals der wirkliche Ausdruck der Stimmung des Bürgertums gewesen, so wäre eine starke Bismarcksche Oppositionspartei im Reichstag eingezogen. Aber davon war keine Spur. Zwar haben die Nationalliberalen eines hannoverschen Kreises den alten Fürsten Bismarck in den Reichstag gewählt. Er nahm das Mandat an, übte es aber nicht aus. Ebenso erhielt Bismarcks Sohn, Fürst Herbert Bismarck, ein Reichstagsmandat3. Eine organisierte Bismarck-Partei entstand nicht.
Der glänzendste Vertreter der Bismarckschen Gedanken wurde Maximilian Harden, der Herausgeber der »Zukunft«. Er verband die rücksichtslose Kritik an Wilhelm II., seinem Hof und seinen Ratgebern mit dem weltpolitischen Machtwillen des Großbürgertums. So war Harden, ganz im Sinne Bismarcks, zugleich der Todfeind des Kaisers und der Sozialdemokraten. Harden hat sich aus naheliegenden Gründen nicht formell zu einer deutschen Republik bekannt. Aber die ständige ungeheuer erfolgreiche Diskreditierung des Kaisers und seines Freundeskreises mußte allmählich republikanische Stimmungen erzeugen. Man kann sich fragen, wer der Vorläufer der heutigen deutschen Republik in der wilhelminischen Zeit gewesen ist. Den Anspruch darauf hätte in erster Linie Maximilian Harden, in viel geringerem Maße Erzberger, und gar nicht Karl Liebknecht.
Ein wichtiger Träger der bürgerlichen Opposition unter Wilhelm II. war ferner die großstädtische Kaufmannschaft, vor allem in Berlin. Die Mißstimmung über die »Junker«herrschaft in Staat und Heer traf sich mit dem Ärger und Spott über die kulturelle Rückständigkeit des herrschenden Systems. Wilhelms II. lächerlicher Krieg gegen die moderne Kunst, gegen das naturalistische Drama und gegen die Sezession, trieb das Berliner Bürgertum um so entschiedener zu Hauptmann und Liebermann. Dem modernen Bürgertum war die Berliner „Siegesallee“ genauso unerträglich wie der die Stadt kommandierende Polizeipräsident. Die am Hofe Wilhelms II. herrschende protestantische Orthodoxie machte einige Versuche, um im Bunde mit dem Zentrum den Einfluß der Kirche in der Schule zu stärken und die sogenannte »unzüchtige« Literatur und Kunst zu treffen. Der moderne Flügel des Bürgertums leistete solchen Vorstößen entrüsteten Widerstand und ging dabei, wie im Kampfe gegen die »Lex Heinze«, mit den Sozialdemokraten zusammen.
Der großstädtische bürgerliche Oppositionsgeist fand seinen besonderen Ausdruck in Organen wie dem »Berliner Tageblatt« und dem »Simplizissimus«. Diese Kreise strebten eine Reform des Deutschen Reiches etwa im Sinne, englischer Verfassungszustände an. Das Bündnis zwischen dem linken Bürgertum und der Sozialdemokratie beschränkte sich nicht auf das kulturelle Gebiet, wo die junge Schriftstellergeneration im Geiste der »Weber« die soziale Frage behandelte, sondern man glaubte auch politisch zur Niederkämpfung des halbabsolutistischen, aristokratischen Systems ein großes Stück Weges mit der Sozialdemokratie zusammengehen zu können.
Die großstädtische, stark kulturell gefärbte, bürgerliche Opposition kam ebenfalls im Parlament kaum zum Ausdruck. Denn die freisinnigen Reichstagsabgeordneten vertraten meistens mittel- und kleinstädtische Kreise und Stimmungen4. Die freisinnigen Abgeordneten der wilhelminischen Zeit kamen in der Regel aus Niederschlesien, Württemberg, Oldenburg, Danzig, Nordhausen usw., während Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main, München fast nur durch Sozialdemokraten vertreten wurden. Trotzdem übte die große linksliberale Presse einen Druck auf die Freisinnige Partei aus, der mindestens Wahlbündnisse zwischen Sozialdemokraten und Linksliberalen erleichterte. Die Freunde einer solchen Linkskoalition sahen ihr Vorbild in Baden, wo die Landtagswahlen ein Zusammengehen der Liberalen aller Richtungen mit den Sozialdemokraten brachten, wodurch Zentrum und Konservative in die Minderheit gedrängt wurden.
Für sich allein genommen, war die Kraft der linksliberalen Opposition gering, zumal da die Industrie mit der Regierung ging. Die politische Bedeutung der Linksliberalen lag nur in der Möglichkeit des Zusammenwirkens mit der Sozialdemokratie. Wenn das Millionenheer der Sozialdemokraten in einer kritischen Situation auch noch die »öffentliche Meinung« des Bürgertums zur Seite hatte, war die Regierung zwar noch nicht besiegt, aber sie brauchte, um sich halten zu können, das Zentrum.
Je stärker unter Wilhelm II. die Sozialdemokratie wuchs, um so mehr steigerte sich die Wichtigkeit des Zentrums als des Züngleins an der Waage. Das galt nicht nur für das Stimmenverhältnis im Reichstag, wo bis 1907 eine stabile Regierungsmehrheit ohne das Zentrum nicht möglich war, sondern noch viel mehr von den Kräfteverhältnissen draußen im Lande. Wenn die Millionenmassen des Zentrums und der Sozialdemokratie, gestützt von den Sympathien des oppositionellen Bürgertums, gemeinsam in den Kampf gegen die Regierung traten, entstand eine revolutionäre Situation. Die Bismarckschen Bedenken, die Existenz des Deutschen Reichs auf das Zentrum aufzubauen, bestanden für Wilhelm II. nicht. So wurde das Zentrum ungefähr von 1895 bis 1906 die Hauptstütze der kaiserlichen Regierung5. Die Zentrumsführer standen in diesen Jahren in enger Fühlung mit dem Reichskanzler. Hohenlohe und Bülow besprachen mit der Zentrumsführung die wichtigsten Gesetzesvorlagen. Man erzählte den Abgeordneten auch einiges von der Außenpolitik.
Trotzdem wäre es ganz falsch, in diesem Verhältnis der führenden Reichstagsfraktion zur Regierung einen Schritt zur Parlamentarisierung Deutschlands zu sehen. Erstens durfte der Reichstag niemals an die Kommandogewalt des Kaisers rühren. Zweitens blieb die Außenpolitik Deutschlands, trotz der gelegentlichen Information der Abgeordneten, völlig in der Hand des Kaisers und des Reichskanzlers. Es ist bezeichnend, daß der Reichstag 1914 von den gesamten diplomatischen Verhandlungen zwischen dem Mord in Sarajewo und den Kriegserklärungen keinerlei Kenntnis erhielt6. Selbst die führenden Abgeordneten wußten nicht mehr als das, was in den Zeitungen stand. Unter solchen Verhältnissen war selbst von einer teilweisen Parlamentarisierung Deutschlands keine Rede.
Der Einfluß des Zentrums im Reichstag war viel größer als das Gewicht der Zentrumswähler im Lande. Das Zentrum hatte damals die katholische Minderheit der Landwirtschaft und die christlich organisierte Minderheit der Industriearbeiter hinter sich. Das Bürgertum war nur spärlich im Zentrum vertreten. Die politische Forderung der Parlamentarisierung Deutschlands bedeutete in Wirklichkeit nicht so sehr die Verschiebung der Macht vom Kaiser zum Reichstag, sondern von der preußischen Aristokratie zum deutschen Bürgertum. Wenn aber das Zentrum in den Jahren von 1895 bis 1906 und nachher von 1909 bis 1914 zusammen mit den Konservativen im Reichstag die Regierungsmehrheit bildete, wurde durch diese im Wesen antibürgerliche Kombination die Parlamentarisierung nur gehindert.
Die führende Gruppe des Zentrums unter Wilhelm II. hat eine Parlamentarisierung Deutschlands gar nicht gewollt. Der Friedensschluß zwischen dem Deutschen Reich und der Katholischen Kirche, der unter Bismarck zustande gekommen war, trug jetzt seine Früchte. Der Kreis hoher katholischer Staatsbeamter, der unter Wilhelm II. das Zentrum führte, war gegenüber den bestehenden Zuständen durchaus konservativ gestimmt. Dieselbe Staatsauffassung hatte zum Teil die hohe katholische Geistlichkeit. In Männern wie den Abgeordneten Spahn und von Hertling und Kardinal Kopp traf sich die nationalkonservative Grundüberzeugung mit der Auffassung, daß das bestehende Deutsche Reich die bestmögliche Situation für den deutschen Katholizismus biete. Wie weit war man da von der Stimmung der Zentrumsführung in der Kulturkampfzeit entfernt!
Die konservative Zentrumsgruppe konnte sich unter Wilhelm II. in normalen Zeiten auf die agrarischen Interessen der Zentrumsanhänger stützen. Aber schon der katholische Bauer Süddeutschlands war auch jetzt, bei aller vaterländischen Gesinnung, durchaus nicht an die Existenz des Hohenzollern-Kaisertums gebunden. Dasselbe galt noch stärker von den christlichen Arbeitern. Unter der Regierung Wilhelms II. war die Sozialdemokratie auch in den katholischen Gegenden in siegreichem Vordringen. Vor Kriegsausbruch war in Städten wie München, Köln, Düsseldorf, Mainz bereits die große Mehrheit der Arbeiter sozialdemokratisch. Stärkeren Widerstand gegen die Sozialdemokratie leisteten der christliche Bergarbeiterverband im Ruhrgebiet sowie die christlichen Arbeiterorganisationen im Bezirk von Mönchengladbach. Seitdem das Zentrum die Mitverantwortung für den agrarkonservativen Kurs der Reichspolitik zu tragen hatte, wurde seine Position unter den Arbeitern immer mehr erschüttert. Die oberschlesischen Bergarbeiter liefen in denselben Jahren meistens zur radikal-polnischen Partei über.
Der scharfe Konkurrenzkampf mit den Sozialdemokraten und den freien Gewerkschaften nötigte die christlichen Organisationen, das Trennende gegenüber den Sozialdemokraten stark zu betonen. Aber der gemeinsame Gegensatz zum Unternehmertum und zur preußischen Staatsgewalt führte den sozialdemokratischen und den christlichen Arbeiter wieder zusammen. Charakteristisch ist es, daß der Kampf gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht, den die Sozialdemokratie führte, bei den christlichen Arbeitern volle Zustimmung fand7. Das Zentrum als Partei war durch das preußische Wahlsystem nicht geschädigt. Mit Hilf e seiner Wähler aus dem ländlichen und städtischen Mittelstand konnte das Zentrum prozentual im preußischen Landtag ebenso stark auftreten wie im Reichstag. Aber die Entrechtung des Arbeiterwählers in der dritten Abteilung empfand der christliche Arbeiter ebenso stark wie der Sozialdemokrat.
Der Oppositionsgeist der christlichen Arbeiter fand seinen Ausdruck in einem linken Flügel der Zentrumspartei, dessen jüngere Führer die Taktik der altkonservativen Parteispitze nicht billigten. Der aktivste und einflußreichste Mann im linken Zentrum wurde Matthias Erzberger. Er hat zwar in entscheidenden Fragen falsch geurteilt und wunderliche Schwankungen in seiner politischen Haltung durchgemacht. Aber Erzberger hatte dabei eine beispiellose Gabe, die Aktualität einer Situation zu empfinden und dann aus der Situation herauszuholen, was nur irgendwie möglich war. Es hätte Erzbergers Art nicht entsprochen, einen konsequenten Kampf auf lange Sicht gegen das preußische System zu führen. Im Gegenteil, er hat manchmal mit dem alten System und gerade mit seinen militärischen leitenden Persönlichkeiten harmonisch zusammengearbeitet. Aber kritische Situationen rissen ihn sofort, daß er dann zu den furchtbarsten Angriffen gegen die herrschende Ordnung befähigt war. Seine ungewöhnliche Aktivität sichert ihm den führenden Platz unter den Männern der deutschen bürgerlichen Revolution. Von dem linken Zentrumsflügel gilt dasselbe wie von der linksbürgerlichen Opposition: An sich bedeutungslos, wurde er ein lebensgefährlicher Feind des alten Systems, sobald er mit der Sozialdemokratie zusammenging.
Die Sozialdemokratie ist unter Wilhelm II. von eineinhalb zu viereinviertel Millionen Wählerstimmen gestiegen8. Zur Zeit des Kriegsausbruchs folgte ein Drittel des deutschen Volkes den Parolen des sozialdemokratischen Parteivorstandes. Seit der Aufhebung des Sozialistengesetzes hat Wilhelm II. es nicht mehr gewagt, die Sozialdemokratie gewaltsam zu unterdrücken. Zwar haben die Gerichte immer wieder sozialdemokratische Führer und Arbeiter wegen Majestätsbeleidigung, Landfriedensbruchs usw. ins Gefängnis geschickt. Aber im ganzen vollzog sich der Ausbau der sozialdemokratischen Organisation ohne Störung durch die Staatsgewalt. Die sozialdemokratischen Vereine und Zeitungen, dazu das mächtige System der freien Gewerkschaften, umspannten ganz Deutschland. So war der sozialdemokratische Parteivorstand die heimliche Gegenregierung und August Bebel auf der Höhe seines Einflusses eine Art von Gegenkaiser. Auf der anderen Seite hielt sich aber die Sozialdemokratie im Rahmen der Gesetze. Seitdem sie durch Aufhebung des Ausnahmegesetzes die politische Bewegungsfreiheit erlangt hatte, wollte sie erst recht nur durch legale Propaganda ihre Anhängerschaft vermehren.
Das war durchaus kein Verzicht auf Revolution und Machtübernahme. Wenn das deutsche Kaisertum und die preußische Regierung sich nicht mehr stark genug fühlten, um ihren Todfeind niederzuwerfen, wäre es eine Dummheit gewesen, wenn die Sozialdemokraten vorzeitig den Entscheidungskampf heraufbeschworen und damit ein neues deutsches Seitenstück zur Kommune-Niederlage geschaffen hätten. Friedrich Engels, der einzige Staatsmann von Format, den die Sozialdemokratie in den neunziger Jahren besaß, hat die Situation in vollkommener Klarheit erfaßt9. Ein Straßenkampf der Arbeiter gegen die intakte preußische Armee wäre bei der modernen Waffentechnik hoffnungslos. Aber wenn die Sozialdemokratie in dem Tempo der Wahlen von 1887, 1890, 1893 weiter wuchs, drang sie in gleichem Umfang in die Armee ein. Auch bei friedlicher Weiterentwicklung der Partei mußte der Moment kommen, in dem es so viele sozialdemokratische Soldaten gab, daß die Truppe nicht mehr gegen die Arbeiter eingesetzt werden konnte. Kam es aber zum Krieg, dann würde Deutschland in derselben Lage sein wie Frankreich 1793. Dann würden auf den Trümmern des alten Systems die Arbeiter die Macht übernehmen, und dann würde das Arbeiter-Deutschland genauso siegreich den Zarismus und seine Verbündeten zurückwerfen, wie damals Frankreich das verbündete monarchische Europa schlug.
Friedrich Engels kommt an politischem Realismus und rücksichtslosem Machtwillen Bismarck gleich. Aber so wenig wie Wilhelm II. und seine Ratgeber im Geiste Bismarcks regierten, ebensowenig waren die Gedanken von Engels Gemeingut der sozialdemokratischen Arbeiterschaft Deutschlands. Die Arbeiter kamen zur Sozialdemokratie in erster Linie, um ihre gedrückte wirtschaftliche Lage zu bessern. In der Tat gelang es unter Wilhelm II. dem zähen Kampf der Gewerkschaften, die Lebenshaltung des deutschen Proletariats zu heben. Was die Regierung an sozialpolitischen Zugeständnissen machte, wurde auch nur durch den Druck der Sozialdemokratie abgerungen. Die Arbeiter verstanden ferner den Zusammenhang zwischen der Macht der Unternehmer und der militärisch-politischen Staatsgewalt. Sie kämpften gegen den preußischen »Militarismus« und gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht. Aber ein ernster politischer Machtwille war doch in den Massen der sozialdemokratischen Arbeiterschaft nicht vorhanden. Das Proletariat ist eben geistig von dem Bürgertum seines Landes viel abhängiger, als man es manchmal zugeben möchte: Der russische revolutionäre Sozialismus des 20. Jahrhunderts hätte sich ohne die hundertjährige revolutionäre Tradition der bürgerlichen russischen Intelligenz nie entfalten können. Wenn die englische Arbeiterschaft heute imstande ist, über alle politischen Fragen so klar und präzis zu urteilen, so dankt sie das dem politischen Vorbild des englischen Bürgertums seit Jahrhunderten.
Eine ähnliche Tradition des deutschen Bürgertums fehlte. Die Ansätze dazu, die in den Jahren 1848 bis 1871 sich entwickelt hatten, gingen in der Bismarckzeit wieder zugrunde. Es ist kein Zufall, daß die bahnbrechenden Geister der deutschen Sozialdemokratie, Marx und Engels, Lassalle und Wilhelm Liebknecht, ohne die Bewegung von 1848 gar nicht denkbar wären. Im deutschen Kaiserreich lernte der Arbeiter in der Volksschule, im Heer und in der Fabrik zwar Schreiben und Lesen, Technik, Disziplin und Organisation. Aber er gewann nirgends ein politisches Weltbild. Er hatte keine Vorstellung davon, wie sich die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Revolution vollziehen würde, die er ersehnte, und auf welchem Wege man aus der traurigen Gegenwart in die bessere Zukunft kommen könne. Die Bildungsarbeit der Sozialdemokratischen Partei, so Achtbares sie im einzelnen leistete, konnte diese Lücke nicht ausfüllen.
So erfüllte die sozialdemokratischen Massen ein etwas gehobener Zunftgeist: Anhänglichkeit an die Organisation mit starker Opferwilligkeit für sie, der Wille, die eigene wirtschaftliche Lage zu heben, unbedingte Abneigung gegen das herrschende preußische System. Diese Grundstimmung der Massen beherrschte auch die Funktionäre und den Parteivorstand. Man kritisierte das Bestehende und wartete ab; hatte aber keinen politischen Plan für die nächste Zukunft, abgesehen von der Vorbereitung der gerade fälligen Reichstagswahl.
Die offizielle passive Politik des Parteivorstandes wurde von zwei Seiten angegriffen, von den Linksradikalen und von den Revisionisten. Die linksradikale Gruppe um Rosa Luxemburg10 und Franz Mehring erkannte, daß Europa ungeheuren Krisen entgegenging. Sie sah den Weltkrieg kommen und im Zusammenhang mit ihm die Revolutionen. Sie hielt die russische Revolution von 1905 für die Einleitung einer neuen krisenhaften Periode der Geschichte. In dieser Lage könne sich die deutsche Arbeiterschaft nicht auf die Wahlkampagnen beschränken, sondern sie müsse sich auf revolutionäre Kämpfe vorbereiten. Sie müsse sich an die Waffe des Generalstreiks gewöhnen, mit der das russische Proletariat gegen den Zarismus gekämpft habe.
Eine andere Schule von Theoretikern, die Revisionisten um Eduard Bernstein, lehnte gleichfalls das passive Abwarten ab: Es sei eine abenteuerliche Idee, auf den baldigen Zusammenbruch des Kapitalismus zu spekulieren. Die Arbeiterschaft habe auch im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft bedeutende positive Aufgaben. Sie müsse noch stärker und planmäßiger als bisher für wirtschaftliche und politische Reformen kämpfen. Die Sozialdemokratie würde um so mehr erreichen, wenn sie Verbündete innerhalb des Bürgertums gewinnen könne. Im Bunde mit dem linksstehenden oppositionellen Bürgertum könne man die Mehrheit in den deutschen Parlamenten erreichen und das herrschende preußische Militärsystem erschüttern. Die Erkämpfung der bürgerlichen parlamentarischen Demokratie in Deutschland wäre bereits ein großer Erfolg der Arbeiter.
Wenn man heute rückblickend die Kämpfe innerhalb der Sozialdemokratie vor dem Krieg überprüft, so muß man zugeben, daß sowohl die Radikalen wie die Revisionisten in wichtigen Punkten die Entwicklung richtig beurteilt haben. Dagegen schneidet das offizielle Zentrum des Parteivorstandes am schlechtesten ab. Es hat nichts erkannt und nichts vorhergesehen. Es ließ sich vom Kriegsausbruch überraschen und auch während des Krieges von den Ereignissen treiben. Theoretisch wäre ein Block zwischen Radikalen und Revisionisten gegen den Parteivorstand möglich gewesen. Auch Rosa Luxemburg hat niemals die Bedeutung von Reformen für die Arbeiter verkannt, und ein Bündnis mit Teilen des Bürgertums, um zunächst den herrschenden militärischen Feudalismus zu schlagen, entsprach vollkommen der orthodoxen marxistischen Lehre. Die Radikalen hätten also vieles von den praktischen Losungen der Revisionisten übernehmen können.
Aber eine unüberbrückbare Kluft tat sich zwischen beiden Gruppen in der Perspektive auf: Die Revisionisten lehnten die Katastrophenlehre der Radikalen ab. Sie wollten an das unmittelbare Bevorstehen eines Entscheidungskampfes zwischen Kapital und Arbeit nicht glauben. Auf der anderen Seite waren die Radikalen so stark von dem Nahen großer Entscheidungen überzeugt, daß sie die Tageserfolge und taktischen Manöver der Revisionisten als Lächerlichkeit ansahen. So kam es, daß auf den sozialdemokratischen Parteitagen die Kämpfe zwischen Radikalen und Revisionisten ausgefochten wurden, während der Parteivorstand die bequeme Rolle des Schiedsrichters hatte. Die zunftmäßig eingestellte Masse der Mitglieder, und ebenso der Gewerkschaftsapparat, stand hinter dem Parteivorstand.
Die beiden aktiven Gruppen waren unter den geistig selbständigen und theoretisch interessierten Kreisen der Partei stark vertreten. Unter den Radikalen wie den Revisionisten war die Zahl der Intellektuellen erheblich. In den breiten Arbeitermassen war der Anhang der Radikalen ganz gering, die Revisionisten erlangten durch besondere Verhältnisse in den süddeutschen Staaten Einfluß. In Bayern, Württemberg, Baden und Hessen war ein Militäradel preußischer Art, der zugleich die Verwaltung beherrschte, nicht vorhanden. Es standen sich hier ein bäuerlicher Konservatismus und ein bürgerlicher Liberalismus, außer den Arbeitern, gegenüber. Die herrschende Bürokratie war viel mehr mit dem Bürgertum verwachsen als mit dem meist klerikalen Bauerntum. Das galt sogar für die regierenden Dynastien. Besonders das badische großherzogliche Haus hatte altliberale Traditionen, und ebensowenig bestand ein Gegensatz zwischen Bürgertum und Hof in München, Stuttgart und Darmstadt.
Ein bürgerlich gestimmtes Regierungssystem kann sich, wie alle Erfahrungen beweisen, viel leichter mit der Arbeiterschaft verständigen als ein militärisch-aristokratisches. So tief der Gegensatz zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer auch empfunden wird, so wirkt er nie so provokatorisch wie die Kluft zwischen adligem Herrentum und der Volksmasse. Es kommt dabei gar nicht auf den Charakter des einzelnen an: Der einzelne Gutsbesitzer und Offizier kann an Wohlwollen für die arme Bevölkerung einen Fabrikanten leicht übertreffen. Trotzdem ist eine feudale Herrschaft für den Europäer des 20. Jahrhunderts einfach unerträglich, während das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit noch vielfach als naturgemäß empfunden wird.
Aus dieser allgemeinen Situation erklärt sich das mehr gemäßigte Auftreten der süddeutschen Sozialdemokraten. Die Zustimmung zu den Etats der Einzelländer wurde erteilt, und das viel erörterte sozialdemokratische »Hofgängertum« zu den süddeutschen Landesherren begann. Am wichtigsten wurde die Entwicklung in Baden11. Hier wurde die traditionelle liberale Landtagsmehrheit durch das Zentrum bedroht. Da verbündeten sich die Liberalen mit den Sozialdemokraten, um das Zentrum in der Minderheit zu halten. Die großherzogliche Regierung arbeitete mit den Liberalen und Sozialdemokraten ohne wesentliche Hemmung zusammen. Die Sozialdemokraten erlangten einzelne Reformen im Rahmen der Landesgesetzgebung. Sie mußten dann selbstverständlich für den Etat stimmen, an dem sie mitgearbeitet hatten, und sie konnten auch den Großherzog nicht boykottieren. So wurde Baden eine Hochburg des sozialdemokratischen Revisionismus, und der badische »Großblock« der Linken, in dem Nationalliberale, Freisinnige und Sozialdemokraten zusammenwirkten, wurde ein Vorbild für die Opposition gegen Wilhelm II. im ganzen Reich.
Das badische Experiment war die bewußte Durchbrechung des Bismarckschen Systems in einem wichtigen Bundesstaat. Bismarck hatte einen beispiellos sicheren Instinkt für alle Feinde seiner Schöpfung. So erkannte er die Gefahr, die für sein System in dem badischen Liberalismus lag12, obwohl zu Bismarcks Zeit noch kein Mensch an den badischen »Großblock« dachte. Die badische Entwicklung unter Wilhelm II. war zwar durchaus kein Schritt zum Sozialismus in Deutschland, aber es war ein Schlag gegen die herrschende preußische Aristokratie. Der sozialdemokratische Parteivorstand freilich mißbilligte die badische Taktik unter dem Beifall der Parteitagsmehrheiten, einschließlich der Radikalen, die beim Kampfe gegen die badischen »Disziplinbrecher« in erster Reihe standen.
Für das Kaisertum und das herrschende System in Deutschland war es ohne große Bedeutung, ob die Sozialdemokratie etwas aktiver oder passiver war. Die bloße Existenz der sozialdemokratischen Millionenorganisation war die Gefahr. Zwar in Friedenszeiten war die preußische Staatsgewalt immer noch den Sozialdemokraten bei weitem überlegen. Das zeigte sich wieder bei den Straßendemonstrationen, die von der Partei, unter dem Eindruck der russischen Revolution, zur Erzwingung der preußischen Wahlreform organisiert wurden. Die preußische Polizei hielt die Demonstranten überall in Schach. Das Militär brauchte nirgends einzugreifen, und das preußische Wahlrecht blieb das alte. Aber was sollte eines Tages werden, wenn die stolzen preußischen Garderegimenter irgendwo zwischen Metz und Verdun zerschossen wurden und wenn man dann die Arbeitermassen als Landwehrleute und Ersatzreservisten zu den Fahnen rufen mußte? In der ersten ernsten Krise, bei der die kaiserliche Regierung versagte, mußte die Macht der Gegenregierung, dem sozialdemokratischen Parteivorstand, zufallen. Und dann würden sich das linke Zentrum und die liberale Opposition von selbst den Sozialdemokraten anschließen. Bismarck hat nach 1890 immer wieder diese Entwicklung prophezeit13.
Die Regierung hätte zwei Möglichkeiten gehabt, um die Lage zu meistern. Entweder eine brutale Unterdrückung der Sozialdemokraten im Stile Bismarcks. Aber dazu hatte nach 1890 niemand den Mut. Oder eine Politik des Kompromisses, die zunächst dem Bürgertum den Anteil an der Macht erweiterte, und dann von der neuen Grundlage aus eine Verständigung mit den Arbeitern suchte. Wilhelm II. und seine Reichskanzler Caprivi, Hohenlohe und Bülow schlugen keinen der beiden Wege ein, sondern ließen einfach die Dinge laufen. Da stellte der historische Zufall in den Jahren 1906 bis 1908 noch einmal die Schicksalsfrage an das alte System Deutschlands.
Es kam im Jahre 1906 im Reichstag wegen einiger Personalfragen der Kolonialverwaltung zu einem Konflikt zwischen dem Fürsten Bülow und dem Zentrum. Damals stand an der Spitze der Kolonialverwaltung der frühere Berliner Bankdirektor Dernburg. Die Berufung eines liberalen Finanzmannes auf eine hohe Reichsstelle war als Zugeständnis an das Bürgertum empfunden worden. Darum genoß Dernburg bei seinem Streit mit dem Zentrum die Sympathien der Nationalliberalen und der Fortschrittler im Reichstag und aller bürgerlichen liberalen Kreise im Lande. Bei der ganzen Angelegenheit hatte das Zentrum nicht die Absicht, einen prinzipiellen Kampf mit der Regierung zu beginnen. An der Kritik der Kolonialverwaltung war auch Erzberger beteiligt. Aber den Hauptstoß führte der Abgeordnete Roeren, der durchaus der konservativen Führergruppe des Zentrums zuzurechnen war.
Als das Zentrum mit seinen Personalwünschen nicht durchdrang, lehnte es einen Teil der Geldforderung der Regierung für die Schutztruppe in Südwestafrika ab. Da die Sozialdemokraten sich dem Zentrum anschlossen, fand die Forderung der Regierung im Reichstag keine Mehrheit. In Südwestafrika fanden damals Kämpfe mit aufständischen Eingeborenen statt. Die Regierung erklärte, daß die Truppenstärke, die das Zentrum für Südwestafrika bewilligen wollte, zur Unterdrückung des Aufstandes nicht ausreiche. Wie kam es zu der Zuspitzung des Konflikts zwischen Bülow und dem sonst so befreundeten Zentrum?
Mit ganz unbedeutenden Zugeständnissen hätte Bülow das Zentrum befriedigen können. Aber der hohen Reichsbürokratie war selbst die geringe Bindung an das Parlament, wie sie durch die Stellung des Zentrums im Reichstag sich ergab, nicht erwünscht. So benutzte Bülow die Gelegenheit, um in einer »nationalen« Frage den Kampf mit Zentrum und Sozialdemokraten aufzunehmen. Der Reichstag wurde aufgelöst. Die konservativen Gruppen, die Nationalliberalen und die Fortschrittler vereinigten sich als »Block«, um bei den Wahlen eine Mehrheit ohne das Zentrum zustande zu bringen. Bei den Wahlen 1907 behauptete sich das Zentrum. Die Sozialdemokraten dagegen verloren die Hälfte ihrer Mandate. Die Sozialdemokraten hielten zwar ihre Stimmenzahl von 1903, aber die Gegner zogen aus den politisch Indifferenten solche Verstärkungen, daß die Sozialdemokraten zirka vierzig Mandate einbüßten. Im neuen Reichstag hatten Konservative und Liberale zusammen eine sichere Mehrheit.
Wilhelm II. und Bülow waren durch eine Verkettung günstiger Umstände zur Kartellpolitik Bismarcks von 1887 zurückgekehrt. Bülows Front war sogar noch stärker. Bismarck hatte im liberalen Lager nur die Nationalliberalen auf seiner Seite, während Bülow in seinem Block auch auf die Fortschrittler rechnen konnte. Das gesamte liberale Bürgertum hatte sich der Regierung angeschlossen, nur weil man die Berufung Dernburgs und den Bruch mit dem Zentrum für den Beginn einer neuen Periode deutscher Politik hielt. Es kam jetzt alles darauf an, diese Hoffnung des Bürgertums nicht zu enttäuschen. Aber Bülow, der kein Staatsmann, sondern nur ein geschickter Taktiker war, dachte an keine ernsthafte Umgestaltung der deutschen Verfassung. Da gab das Schicksal dem Fürsten Bülow und seinen Blockparteien noch eine beispiellose Gelegenheit, Deutschland zu reformieren.
Das Jahr 1908 brachte die »Daily-Telegraph«-Affäre14. Wilhelm II. hatte in das genannte englische Blatt ein Interview lanciert, worin er seine Freundschaft für England beteuerte. Der Artikel enthielt, neben vielen anderen Betrachtungen, die folgenden Behauptungen des Kaisers: Die deutsche Flotte werde gar nicht gegen England, sondern gegen Japan gebaut. Als während des Burenkrieges Rußland und Frankreich an Deutschland die geheime Anregung richteten, gemeinsam gegen England vorzugehen, habe Wilhelm II. diesen Vorschlag abgelehnt und die ganze Angelegenheit in einem Brief der Königin Victoria von England mitgeteilt. Ja, als die englische Armee in Südafrika in gefährlicher Lage war, habe er, zusammen mit dem deutschen Generalstab, einen Kriegsplan ausgearbeitet, wie die Buren am besten zu schlagen seien. Der Kriegsplan wäre ebenfalls nach London gegangen und entspreche ungefähr den Operationen, mit denen später Lord Roberts die Buren besiegte. So habe er, Wilhelm II., gehandelt, und dennoch gelte er als Feind Englands.
Bevor Wilhelm II. den Artikel an den »Daily Telegraph« abgehen ließ, schickte er den Text dem Fürsten Bülow mit dem Auftrag, den Artikel durchzusehen und nötigenfalls Änderungen vorzunehmen. Bülow hat, wie er später versicherte, im Drang der Geschäfte den Artikel nicht selbst gelesen, sondern dem Auswärtigen Amt zur Prüfung übersandt. Das Auswärtige Amt schlug einige kleine Änderungen vor, war aber sonst mit der Veröffentlichung einverstanden. In diesem Sinne berichtete Bülow an den Kaiser, und der Artikel erschien mit den Änderungen des Auswärtigen Amtes am 28. Oktober in London.
Es war ein starkes Stück, daß das Auswärtige Amt einer derartig blamablen Veröffentlichung keinen Widerstand entgegensetzte. Das Auswärtige Amt hat nicht einmal die phantastische Geschichte von dem angeblichen Kriegsplan des Kaisers korrigiert, obwohl es nach seinen eigenen Akten dazu imstande gewesen wäre. In Wirklichkeit besaß das Auswärtige Amt eine Abschrift der Aufzeichnung, die Wilhelm II. am 4. Februar 1900 dem Prinzen von Wales, dem späteren König Eduard VII., übersandt hatte. Das waren »22 Aphorismen über den Krieg in Transvaal« aus der Feder Wilhelms II., gänzlich harmlose allgemeine Betrachtungen über die Kriegslage, aus denen der englische Generalstab nicht den mindesten Nutzen ziehen konnte. Es ist auch keine Mitarbeit des deutschen Generalstabs an den »Aphorismen« Wilhelms II. zu erweisen. Wilhelm II. hat also 1908, um seine England-Freundschaft zu beweisen, einen groben Gedächtnisfehler begangen. Der Respekt vor einem kaiserlichen Konzept war damals im Auswärtigen Amt so groß, daß die Beamten ernsthafte Änderungen nicht wagten. Oder waren sie politisch so ahnungslos, daß sie die Tragweite der Veröffentlichung nicht ermessen konnten? Daß Fürst Bülow den Artikel ungelesen weitergab, war eine Leichtfertigkeit; denn er mußte die Eigenart seines Herrn kennen. Die ganze »Daily-Telegraph«-Affäre ist ein klassisches Beispiel für die Art, wie Deutschland unter Wilhelm II. regiert wurde.
Als das Interview veröffentlicht wurde, entstand im deutschen Volke, von den Konservativen bis zu den Sozialdemokraten, eine beispiellose Entrüstung über den Kaiser. Der Mann, der autokratisch die Außenpolitik Deutschlands machte, hatte ohne jeden Grund Japan provoziert. Er hatte allen Mächten die Neigung genommen, an Deutschland irgendeine vertrauliche Mitteilung zu richten, und er rühmte sich endlich, einem kleinen, mit Deutschland befreundeten Volk durch seinen famosen »Kriegsplan« in den Rücken gefallen zu sein. Es zog die schwerste Krise über die deutsche Monarchie herauf, die vor 1918 eingetreten ist. Die Reichstagsdebatte am 10. und 11. November brachte eine Einheitsfront gegen den Kaiser. Fürst Bülow wagte es nicht, den Kaiser zu verteidigen, sondern schloß sich dem Wunsche nach größerer Zurückhaltung des Herrschers an.
Am 17. November hatte Bülow eine Audienz beim Kaiser. Wilhelm II. war über den Kanzler tief erbittert und menschlich mit Recht. Denn er hatte den Unglücksartikel dem Reichskanzler zur Prüfung übersandt und erst veröffentlichen lassen, als Bülow zugestimmt hatte. Damit hatte Bülow die verfassungsmäßige Verantwortung für das »Daily-Telegraph«-Interview. Ob Bülow den Text selbst gelesen hatte oder nicht, war gleichgültig. Trotzdem wagte Wilhelm II. angesichts der Volksstimmung nicht, Bülow zu entlassen. Sondern das Resultat der Unterredung zwischen Kaiser und Kanzler vom 17. November war eine Erklärung im »Reichsanzeiger«, worin Wilhelm II. versicherte, er wolle die »Stetigkeit der Politik des Reiches unter Wahrung der verfassungsmäßigen Verantwortlichkeiten sichern«. Das klang wie ein Verzicht auf das persönliche Regiment.
Jetzt oder nie war die Möglichkeit einer Reform der Bismarckschen Verfassung. Die Außenpolitik des Reichs mußte in die Hand eines dem Reichstag verantwortlichen Reichsaußenministers gelegt und darüber hinaus ein kollegiales, dem Parlament verantwortliches Reichsministerium geschaffen werden. Wenn Bülow und sein Block geschlossen vorgingen, war alles zu erreichen: Der Kaiser war so im Gedränge wie nie einer seiner Vorgänger seit 1848. Aber ohne die Konservativen war damals eine Aktion zur Parlamentarisierung und zur Einschränkung der kaiserlichen Macht nicht möglich. Die Konservativen hätten sich aufraffen müssen, freiwillig einen Teil ihrer Machtpositionen an das Bürgertum abzugeben. Es hätte ein konservativ-liberales Reichsministerium und eine konservativ-liberale preußische Regierung entstehen müssen. Wäre so der Bülow-Block aus einer parlamentarischen, taktischen Kombination zu einer organischen Zusammenfassung der Hauptkräfte des Reichs geworden, so war noch in elfter Stunde der Grundfehler der Bismarckschen Verfassung zu korrigieren.
Englische Konservative haben in ähnlichen Situationen so gehandelt. Die preußischen Konservativen zeigten damals dieselbe Engherzigkeit, mit der sie gegen Bismarck gekämpft hatten. Von ihren historischen Privilegien wollten sie nichts, absolut nichts aufgeben. Der Fortbestand des Bülow-Blocks erfüllte sie mit wachsendem Unbehagen. Schon war die preußische Wahlrechtsfrage wieder aufgetaucht. Jede noch so maßvolle Änderung des preußischen Wahlrechts mußte auf Kosten der Agrarkonservativen gehen. Und wer bürgte dafür, daß die Liberalen nicht immer begehrlicher wurden, wenn sie sich als unentbehrlichen Bestandteil der Regierungsmehrheit empfanden? Die natürliche Stütze der Konservativen im Kampfe gegen die »Demokratie« und für das alte Preußen war aber trotz allem die ungeschwächte Königsmacht. So haben die Konservativen die Kritik Wilhelms II. in der »Daily-Telegraph«-Angelegenheit mit der Versicherung verbunden, daß sie eine Parlamentarisierung Deutschlands nach wie vor ablehnen15.
So verpuffte die gewaltige Volksbewegung gegen den Kaiser ergebnislos. Denn eine Umgestaltung des Bismarckschen Deutschlands auf dem Wege der Reform und Evolution war nur mit den Konservativen möglich. Lehnten die Konservativen jede Verfassungsänderung ab, so blieb nur der Weg der Revolution. 1908 waren die psychologischen und objektiven Voraussetzungen für die Revolution noch nicht da. Aber die Unvermeidlichkeit der deutschen Revolution ist in dem schicksalsschweren Jahre 1908 festgestellt worden, wenn auch damals die Mitlebenden das noch nicht klar sahen.
Die Konservativen sehnten sich aus der gefährlichen Block-Kombination wieder zu dem erprobten Bündnis mit dem Zentrum zurück. Im Zentrum hatte während der ganzen Krise die konservativ gestimmte Führergruppe die Macht behalten. Man war zwar im Wahlkampf 1907 taktisch an die Seite der Sozialdemokraten gedrängt worden. Bei Stichwahlen unterstützten sich die Oppositionsparteien gegen den Regierungsblock. Aber daraus war kein politisches Bündnis zwischen Zentrum und Sozialdemokraten geworden. Die Zentrumsführung wollte sich den Rückweg zur Regierung nicht versperren. Mit Befriedigung sah das Zentrum, wie sich Bülow sowohl mit dem Kaiser wie mit den Konservativen entzweite.
Ein unbedeutender Anlaß führte 1909 zur Sprengung des Bülow-Blocks. Die Konservativen erklärten sich gegen die Regierungsvorlage einer Erbschaftssteuer. Das Zentrum schloß sich ihnen an. Bülow blieb in der Minderheit, und der Block war zerrissen. Entscheidend für die Haltung von Konservativen und Zentrum war nicht so sehr die Abneigung der Agrarier gegen eine finanzielle Mehrbelastung, sondern maßgebend waren die allgemein politischen Erwägungen, den Bülow-Block zu zerstören. Als seine Reichstagsmehrheit gesprengt war, nahm Bülow den Abschied.
Wilhelm II. sah in dieser Entwicklung einen persönlichen Triumph16. Daß die Reichstagsmehrheit Bülow gestürzt hatte, war für den Kaiser der Beweis, daß das Parlament seine Stellungnahme in der »Daily-Telegraph« -Affäre bereue. Das Volk sei zwar vorübergehend durch Bülow getäuscht und seinem Kaiser entfremdet worden. Aber nun kehre es zum Kaiser zurück. Die Wirkung, die der Volkssturm von 1908 auf Wilhelm II. ausgeübt hatte, war damit ausgelöscht. Der Kaiser kehrte ohne Hemmung zu seinem alten persönlichen System zurück. Bülows Nachfolger wurde ein typischer Bürokrat, Bethmann-Hollweg, von dem nicht zu befürchten war, daß er jemals selbständige Gedanken haben oder die Autorität des Kaisers gefährden würde. Daß ein Bethmann-Hollweg im Juli 1914 deutscher Reichskanzler sein konnte, ist die schwerste Anklage, die sich gegen das alte System richten läßt.
Fürst Bülow erhielt durch seinen Abgang ein Ansehen, das ihm nicht zukam. Er galt nun weiten Kreisen als Vertreter einer modernen deutschen Staatsauffassung, der dem autokratischen Willen Wilhelms II. im Bunde mit dem reaktionären Agrariertum erlegen war. In Wirklichkeit war Bülow in den Kampf mit dem Zentrum aus taktischen Opportunitätsgründen, ohne jeden weiteren politischen Plan, hineingeraten. Ebenso hat Bülow die »Daily-Telegraph«-Angelegenheit selbst mitverschuldet, und nur weil er sich die Kraft nicht zutraute, im November 1908 dem Volkssturm entgegenzutreten, hat er auf den Kaiser gedrückt. Aber die Autorität, mit der Bülow sein Amt verließ, führte noch 1917 dazu, daß eine einflußreiche Strömung ihn als Reichskanzler zur Rettung Deutschlands wünschte.
Die Zerstörung des Bülow-Blocks hat im liberalen Bürgertum eine tiefe Verbitterung erregt. Man sah keine Möglichkeit mehr, die unhaltbaren politischen Verhältnisse Deutschlands zu reformieren. Im Besitze dieser Erkenntnis stieg das Bürgertum zwar nicht auf die Barrikade – das taten ja damals die Sozialdemokraten auch nicht –, aber es wuchs die Neigung der Liberalen, sich mit den Sozialdemokraten gegen das herrschende halbabsolutistische System und gegen die preußischen »Junker« zu verbünden.
Bei den Reichstagswahlen von 1912 schlossen die Sozialdemokraten und die Fortschrittler ein formelles Wahlbündnis. Die Nationalliberalen gingen wieder mit den Fortschrittlern zusammen. Die Sozialdemokraten errangen viereinviertel Millionen Stimmen und 110 Mandate. Was die Liberalen an die Sozialdemokraten verloren, glichen sie größtenteils durch Gewinne auf Kosten der Konservativen und des Zentrums wieder aus. Die veränderte Lage zeigte sich bei der Präsidentenwahl im neuen Reichstag. Das war damals keine bloße parlamentarische Formalität. Denn das Reichstagspräsidium mußte mit dem Kaiser persönlich verkehren. Bei dem Verhältnis, das damals zwischen Wilhelm II. und den Sozialdemokraten bestand, war die Wahl eines Sozialdemokraten in das Reichstagspräsidium eine persönliche Beleidigung des Kaisers.
Dennoch wurde bei der Wahl des 1. Präsidenten der Zentrumsführer Spahn nur mit knapper Mehrheit gewählt. Sein Gegenkandidat Bebel erhielt nicht nur alle fortschrittlichen, sondern auch 20 nationalliberale Stimmen. Und bei der Wahl zum 1. Vizepräsidenten kam der Sozialdemokrat Scheidemann, wieder mit Hilfe eines Teils der Nationalliberalen, durch17. Scheidemann mußte zwar ein paar Wochen später sein Amt niederlegen, weil er sich weigerte, zu Hofe zu gehen. Hätten ihn die Nationalliberalen noch weiter gestützt, so wäre das ein offenes Bekenntnis zur Republik gewesen. So weit war die Entwicklung noch nicht. Aber welche Wandlung hatte sich seit 1890 vollzogen! Wie mußte das deutsche Bürgertum gestimmt sein, wenn sich loyale, patriotische, von der Industrie gewählte Nationalliberale nicht anders helfen konnten, als daß sie für Bebel und Scheidemann eintraten! Aber Wilhelm II., Bethmann-Hollweg und der herrschende preußische Adel wollten von dem, was in Deutschland vor sich ging, nichts sehen und hören. Da kam im Winter 1913/14 eine neue Krise: Eine an sich unbedeutende Angelegenheit wuchs sich zu einem erbitterten Konflikt zwischen der herrschenden Gruppe und dem ganzen übrigen deutschen Volke aus.
In der kleinen elsässischen Garnisonstadt Zabern war es zu Reibungen zwischen der Bevölkerung und einigen jungen Offizieren gekommen. Es folgten Straßenkundgebungen gegen das Militär. Der Oberst des in Zabern liegenden Regiments, von Reuter, war der Meinung, daß die Zivilbehörde seine Untergebenen nicht schütze. Deshalb ließ er einige Dutzend Demonstranten durch Soldaten festnehmen und eine Nacht im Kasernenkeller festhalten. Das war ohne Zweifel ein schwerer Übergriff des Obersten, weil das Militär auf keinen Fall befugt war, Zivilpersonen in Haft zu halten. Der Oberst konnte indessen zu seiner Entschuldigung anführen, daß er in einem Notstand und in gutem Glauben gehandelt habe.
Unter anderen politischen Verhältnissen wären die Zaberner Vorfälle nur als bedauerliches Lokalereignis betrachtet worden. Aber in der politischen Hochspannung von 1913 erregten die Meldungen aus Zabern das deutsche Volk aufs tiefste. Die Massen fühlten sich schutz- und rechtlos gegenüber der Willkür der militärischen Aristokratie. Die Zaberner Gegend ist zufällig der einzige Bezirk Elsaß-Lothringens mit protestantischer Mehrheit. Dort hatte sich die reichstreue Gesinnung in Elsaß-Lothringen zuerst durchgesetzt. Lange Jahre war der Zaberner Wahlkreis, allein im Elsaß, durch einen konservativen Abgeordneten vertreten. Trotzdem hatte die Zaberner Bevölkerung sich eine solche Behandlung gefallen lassen müssen.
Im Reichstag wurde das Militär vom Kriegsminister von Falkenhayn schroff und scharf, vom Reichskanzler von Bethmann-Hollweg in seiner üblichen hilflosen Art verteidigt. Das Haus geriet in eine Erregung gegen das Offizierskorps, die in der ganzen Geschichte des deutschen Reichstags noch nicht dagewesen war. Der Verurteilung der Zaberner Vorfälle durch Sozialdemokraten und Liberale schloß sich das Zentrum an. Die wirksamste Rede gegen das herrschende Militärsystem hielt damals der badische Zentrumsabgeordnete Fehrenbach. Die Konservativen waren völlig isoliert. Mit 293 gegen 54 Stimmen bei 4 Enthaltungen stellte der Reichstag am 4. Dezember 1913 fest, daß er die Haltung der Regierung in der Zabern-Affäre mißbillige.
Die wichtigste politische Lehre aus der Zabern-Angelegenheit war, daß auch die vorsichtige Zentrumsführung mitgerissen wurde, wenn eine große oppositionelle Massenbewegung einsetzte. In wirklich ernsten Situationen hatten die preußischen Konservativen und das herrschende preußische System am Zentrum keine Stütze. Wilhelm II. und Bethmann-Hollweg faßten, ebenso wie das Offizierskorps, den Zabern-Streit als Prestigefrage des herrschenden Systems auf. Das Militär behielt auf der ganzen Linie recht. Oberst von Reuter wurde am 10. Januar 1914 vom Kriegsgericht Straßburg freigesprochen. Die große Mehrheit des Volkes und des Parlaments mußte sich damit abfinden. Ein halbes Jahr später brach der Weltkrieg aus.
Der Krieg überraschte das deutsche Volk in einer innenpolitisch unhaltbaren und untragbaren Situation. Von 1908 bis 1914 hatte sich der Gegensatz zwischen der regierenden Aristokratie und den Massen des Volkes immer mehr zugespitzt. Ereignisse wie die »Daily-Telegraph«-Affäre, die Wahlen von 1912 und der Zabern-Streit bedeuteten zwar noch keine Revolution, aber es waren die typischen Vorgänge einer vorrevolutionären Epoche. Wäre 1914 der Krieg nicht ausgebrochen, so hätten sich die Konflikte zwischen der kaiserlichen Regierung und der großen Mehrheit des deutschen Volkes immer mehr gesteigert, bis zu einer direkt revolutionären Lage. So hat der Kriegsausbruch zunächst die innerpolitische Kluft überbrückt, aber nicht beseitigt. Je länger der Krieg dauerte und je schwieriger er wurde, um so stärker durchbrachen die vorhandenen Gegensätze die Hülle des »Burgfriedens«, bis dann Krieg und Revolution eins wurden.
Bismarck war der Ansicht, daß das Hohenzollern-Kaisertum trotz aller Schwierigkeiten seine innerpolitischen Gegner niederhalten könne, wenn nur der Frieden erhalten blieb. Wilhelm II. war ebenfalls bemüht, den Frieden zu bewahren. Hatte er um 1890 den russisch-französischen Krieg als unvermeidlich angesehen, so neigte er später immer mehr zur Überzeugung, daß es gelingen werde, den Frieden zu erhalten. Aber um den Frieden zu verteidigen, dazu genügt nicht die friedliche Gesinnung, sondern dazu ist vor allem eine entsprechende geschickte Politik erforderlich. Wilhelm II., seine Reichskanzler von Caprivi bis Bethmann-Hollweg und seine nähere Umgebung haben niemals den Krieg gewollt. Aber sie haben durch ungeheure Fehler Deutschland in die Situation hineinmanövriert, die zum Juli 1914 führte.
Innen- und Außenpolitik eines Staates sind voneinander nie zu trennen. Denn beide sind gleichmäßig der Ausdruck der im Staate herrschenden gesellschaftlichen Kräfte. Das innerpolitische Kräfteverhältnis Deutschlands legte die entscheidende Macht in die Hand des Kaisers, auch wenn er zur Diplomatie so wenig befähigt war wie Wilhelm II. Das Planlose und Sprunghafte seines Wesens erregte überall Mißtrauen. Die ausländischen Mächte zweifelten daran, daß es überhaupt möglich sei, mit Deutschland unter Wilhelm II. stabile Politik zu treiben. So wurde das Vertrauen zur deutschen Politik im Ausland, das Wilhelm I. und Bismarck geschaffen hatten, zerstört. Die Neigung Wilhelms II. zu pathetischen und drohenden Worten verstärkte das Mißtrauen, obwohl auf die starken Reden keinerlei Taten folgten.
Wilhelm II. hat sich redlich bemüht, die Beziehungen Deutschlands zu Rußland und zu England zu bessern, und auch gegen Frankreich hatte er keine feindlichen Absichten. Gelegentliche kaiserliche Kraftausdrücke in den berühmten Randbemerkungen zu den Akten darf man nicht zu ernst nehmen. Trotzdem hat Wilhelm II. für Deutschland keine stabile politische Situation schaffen können. Auf Grund der bestehenden Reichsverfassung war aber die Führung der Außenpolitik, außer durch eine Revolution, dem Kaiser nicht zu entreißen!
Die preußische Aristokratie hatte an sich gar keinen Grund zu einer imperialistischen, kriegerischen Politik. Denn der ostpreußische Gutsbesitzer trieb keinen Handel mit China und besaß keine Bergwerke in Marokko. Der tiefste Grund der außenpolitischen Schwierigkeiten Deutschlands war vielmehr die wirtschaftliche Expansionskraft des deutschen Bürgertums und die dadurch erzeugten Verstimmungen der Konkurrenten, vor allem in England. Aber hätte Deutschland eine rein bürgerliche Regierung gehabt, so wie England oder Amerika, so hätte das Bürgertum selbst planmäßig seine Expansion organisiert. Das Bürgertum hätte selbst die Verantwortung für seine politischen Interessen tragen müssen. Es hätte sich überlegt, was erreichbar war und was nicht. Es hätte seine Kräfte nicht zersplittert und sich nicht an allen Enden der Welt zugleich Feinde erweckt.
So aber beeinflußte das Bürgertum unter Wilhelm II. die Außenpolitik nicht planmäßig in politischer Form, sondern die einzelnen im Ausland interessierten Firmen bearbeiteten um die Wette den Kaiser und die Reichsstellen. Der Kaiser und der Reichskanzler hielten es für ihre Pflicht, den Forderungen der Wirtschaft entgegenzukommen. So entstand das Chaos der wilhelminischen Außenpolitik aus zwei Quellen: erstens aus der planlosen und verwirrten Arbeitsweise des Kaisers und zweitens aus dem ebenso planlosen Durcheinander der einzelnen Firmeninteressen.
Wilhelm II. begann seine selbständige Außenpolitik mit der Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages mit Rußland. Die Folge war der Zweibund Rußland-Frankreich, an dessen Vermeidung Bismarck zwanzig Jahre lang erfolgreich gearbeitet hatte. Auch wenn Rußland und Frankreich keinen militärischen Angriff auf Deutschland unternahmen, war seitdem die Lage Deutschlands außerordentlich verschlechtert. Denn die deutsche Politik geriet so in die Abhängigkeit von dem guten Willen Österreichs und Englands. In der Zeit von 1890 bis zum russisch-japanischen Krieg und bis zur ersten russischen Revolution war der Zweibund noch ebensosehr gegen England wie gegen Deutschland gerichtet. Der historische Wettstreit zwischen Rußland und England um die Herrschaft in Asien schien der Entscheidung entgegenzureifen. Zur selben Zeit kämpfte England mit Frankreich um den afrikanischen Kolonialbesitz, ein Gegensatz, der im Faschoda-Streit seinen Höhepunkt fand.
Damals um die Jahrhundertwende war die englische Politik zu einem Bündnis mit Deutschland bereit. Man empfand zwar in England die wachsende Konkurrenz des deutschen Kaufmannes unangenehm. Aber die Gefahr, daß der Zar eines Tages China und Indien erobern und damit der britischen Weltgeltung den Todesstoß versetzen würde, war größer. So entstand Chamberlains Projekt des Bundes Deutschland-England-Japan gegen Rußland-Frankreich. Die Stellung Deutschlands in einem solchen Bunde mit England wäre keine sehr erfreuliche gewesen. Deutschland hätte gezwungen werden können, in einem Weltkrieg an der Seite Englands wesentlich für englische Interessen zu kämpfen, ohne vor plötzlichen Wendungen der englischen Politik sicher zu sein, wie sie sich jederzeit durch einen Ministerwechsel in London maskieren ließen. Immerhin hat auch Bismarck in der letzten Zeit seiner amtlichen Tätigkeit ein Zusammengehen des Dreibundes mit England gegen die russisch-französische Gefahr erwogen. Die Situation Deutschlands im Bunde mit England wäre nicht ideal gewesen, aber doch unendlich besser als die Lage von 1914.
Wilhelm II. und seine Ratgeber lehnten das Bündnis mit England ab. Für eine solche Haltung ließen sich gute Gründe anführen. Aber wenn die deutsche Politik entschlossen war, den wirtschaftlichen und maritimen Wettkampf mit England aufzunehmen, so war nur eine Folgerung möglich: nämlich die Verständigung mit Rußland und Frankreich zur Schaffung eines kontinentalen Blocks gegen die englische Seemacht. Der Bau der deutschen Flotte konnte doch nur den Sinn haben, daß die deutsche Marine, im Bunde mit der französischen, England gewachsen sein sollte. Eine deutsche Flotte zu schaffen, die zugleich gegen England, Frankreich und Rußland kämpfen konnte, war völlig unmöglich. Ein Zusammengehen Deutschlands und Frankreichs wäre trotz Elsaß-Lothringens möglich gewesen, wenn Wilhelm II. im Sinne der Tradition Bismarcks alle kolonialen Pläne Frankreichs unterstützt hätte. So aber fand Frankreich bei seinem wichtigsten Kolonialprojekt, in Marokko, den schärfsten deutschen Widerstand. Um ein paar deutsche Privatinteressen zu fördern, sind die entscheidenden Kombinationen der deutschen Außenpolitik zerstört worden.
Ebenso sinnlos war das Auftreten Wilhelms II. gegen Rußland. Der Kaiser sparte zwar keine persönliche Liebenswürdigkeit gegen den Zaren. Aber wo Rußland außenpolitisch einen Erfolg anstrebte, fand es den deutschen Konkurrenten vor. In der Zeit, als Rußland alle seine Kräfte auf Nordchina konzentrierte, besetzte Deutschland Kiautschou und marschierte die Waldersee-Expedition nach Peking. Als sich Rußland dem Nahen Osten zuwandte, traf es die deutsche Konkurrenz in Persien, und die asiatische Türkei stand im Zeichen der deutschen Bagdad-Bahn. Und als Rußland wieder eine aktive Balkanpolitik einleitete, unterstützte Deutschland mit allen Kräften Österreich, ja darüber hinaus trat Deutschland mit seinen Militärmissionen als selbständiger Faktor in der Türkei auf. Bismarck hatte die Verstimmungen und Konflikte mit Rußland immer dadurch ausgleichen können, daß er niemals ein reales russisches Interesse schädigte. Wilhelm II. störte überall die russische Politik oder trat ihr offen entgegen.
Dabei lag Wilhelm II., Bülow und dem Geheimrat Holstein, der im Auswärtigen Amt die Fäden in der Hand hatte, nichts ferner, als mit Rußland oder Frankreich einen Krieg zu provozieren. Die drei Männer, die in so verhängnisvoller Weise die deutsche Außenpolitik bestimmten, wollten nur Deutschlands sogenannten »Platz an der Sonne« verteidigen. Moralisch hatte Deutschland ohne Zweifel dieselbe Berechtigung, sich in China, Marokko usw. zu betätigen wie die anderen Mächte, aber eine solche Konkurrenzpolitik Deutschlands gegen Frankreich und Rußland hatte doch nur dann einen Sinn, wenn Deutschland auf die englische Rückendeckung rechnen konnte. Andernfalls war es ein leichtfertiges Spiel, das mit der Verständigung Englands, Frankreichs und Rußlands gegen Deutschland enden mußte.
Dabei waren die realen Erfolge der Politik Wilhelm II. gering, weil der Kaiser immer dann nachgab, wenn er seine Ziele nur durch einen Krieg hätte verwirklichen können. Kiautschou blieb die einzige deutsche Erwerbung in China. Aus Marokko ist Deutschland – gegen eine sehr zweifelhafte Entschädigung in Zentralafrika – herausgegangen. In Persien wich Deutschland vor England und Rußland zurück. Trotz der deutschen Militärmission hat Wilhelm II. die Türkei weder im Tripolis- noch im Balkankrieg geschützt. Zum Bagdadbahnunternehmen ließ Deutschland fremde kapitalistische Beteiligungen zu. Aber die nachträglichen deutschen Zugeständnisse konnten den Schaden nicht wieder gutmachen, den die Aktionen Wilhelms II. in Frankreich und Rußland angerichtet hatten.
Die Niederlage Rußlands gegen Japan beseitigte die Gefahr, daß England in Asien von Rußland ausgeschaltet wurde. Auf der anderen Seite trat durch den Marokkokonflikt an Stelle des kolonialen Gegensatzes England-Frankreich der Gegensatz Deutschland-Frankreich. So bot sich für die englische Politik die Situation, um den deutschen Konkurrenten unschädlich zu machen. König Eduard VII. schuf die Entente. Englands Taktik war seitdem vollkommen klar. Es hatte zwar nicht die Absicht, von sich aus Deutschland anzugreifen. Aber England war fest entschlossen, sobald Rußland und Frankreich in einen Krieg mit Deutschland geraten würden, sich am Kriege gegen Deutschland zu beteiligen. In diesem Entschluß der englischen Politik liegt die eigentliche Wurzel des Weltkrieges. Denn wären nicht Rußland und Frankreich der Hilfe Englands unbedingt sicher gewesen, so hätte Rußland nie einen Angriff gegen Deutschland und Österreich gewagt. England war zwar an den Zweibund durch kein formelles Bündnis gebunden, aber es bestanden Erklärungen der englischen Regierung, die für den Ernstfall völlig ausreichten.
Diese Situation mußte in den letzten Jahren vor Beginn des Weltkrieges der deutschen Politik völlig klar sein. Der deutsche Botschafter Fürst Lichnowsky hat in seinen Berichten aus London darüber keinen Zweifel gelassen. In Berlin verkannte man aber den Ernst der Lage. Man glaubte, daß es möglich sei, durch Entgegenkommen in Einzelfragen die englische Regierung von ihrem Kriegswillen abzubringen. Am meisten war der Reichskanzler von Bethmann-Hollweg in solchen Illusionen über England befangen. Die englische Regierung war durchaus bereit, mit Deutschland vorteilhafte Abkommen über Spezialfragen, afrikanische Kolonien, Bagdadbahn usw. abzuschließen. England hätte auch ein Marineabkommen mit Deutschland geschlossen, damit beide Staaten den Neubau ihrer Kriegsflotten einschränkten. Aber all das konnte in der entscheidenden Frage die Ansicht Englands nicht ändern.
Die englischen Staatsmänner wollten es auf keinen Fall zulassen, daß Deutschland in einem Kontinentalkrieg über Frankreich und Rußland Sieger blieb. Denn dann wäre Deutschland der Herr des europäischen Festlandes geworden und so mächtig, daß England in eine überaus gefährdete Lage gekommen wäre. Eine solche Entwicklung wollten die englischen Staatsmänner der beiden großen Parteien verhindern, und darum waren sie fest entschlossen, beim Ausbruch eines Kontinentalkrieges mit Frankreich und Rußland zusammenzugehen18. Man sieht, daß es bei diesen Erwägungen Englands gar nicht auf die Stärke der deutschen Flotte ankam. Die Gefahr für England bestand darin, daß Deutschland eines Tages die Küsten von Petersburg bis Brest beherrschen könnte, aber nicht darin, daß Deutschland ein paar Panzerschiffe mehr hatte. Vom englischen Standpunkt aus war das logisch gedacht, und von »Heuchelei« und »Treulosigkeit« ist dabei keine Spur. Es ist nicht Englands Schuld, daß Wilhelm II. und Bethmann-Hollweg die englische Politik nicht verstanden. Aber ebenso irrtümlich ist die Ansicht, daß der Weltkrieg nicht gekommen wäre, wenn Deutschland seinen Flottenbau eingeschränkt hätte. Freilich hat die Weigerung der deutschen Regierung, das Flottenabkommen mit England zu schließen, stimmungsmäßig stark auf die englische Bevölkerung gewirkt, und so wurde dem Londoner Auswärtigen Amt seine antideutsche Taktik erleichtert. Was folgte für eine einsichtige deutsche Politik aus dieser Grundauffassung Englands? Wenn Deutschland den Frieden erhalten wollte, mußte es jede Verletzung oder Schädigung Frankreichs und Rußlands vermeiden. Seitdem die unglückselige Marokkoangelegenheit aus der Welt geschafft war, gab es wenigstens keinen akuten Konfliktstoff zwischen Deutschland und Frankreich. Aber zur selben Zeit ließ Deutschland sich in der Balkanpolitik in einen schweren Konflikt mit Rußland hineinmanövrieren. Die Bildung der Entente Frankreich-Rußland-England hatte die deutsche Politik in eine hoffnungslose Abhängigkeit von Österreich-Ungarn gedrängt. Bülow und Holstein hatten sich die Theorie zurechtgemacht, daß Deutschland untergehen müsse, wenn sein einziger ernsthafter Verbündeter Österreich-Ungarn einen Krieg verliere. Dieser Theorie schloß sich Wilhelm II. mit einigen Schwankungen und Bethmann-Hollweg aus vollem Herzen an. Man berief sich dabei auf Bismarck, aber man verstand ihn vollkommen falsch.
Zunächst hätte Bismarck sich nie in eine Lage hineinmanövrieren lassen, in der Deutschland von der Gnade der Wiener Staatsmänner abhängig war. Ferner hatte Bismarck das Bündnis mit Österreich niemals so ausgelegt, daß die deutsche Armee für jedes Balkanabenteuer Österreich zur Verfügung stehen müsse. Auch Bismarck hielt die Existenz Österreich-Ungarns für eine Notwendigkeit für das Deutsche Reich. Aber daraus folgte noch lange nicht, daß Deutschland unbedingt sich an einem russisch-österreichischen Krieg beteiligen mußte. Bismarck hat immer wieder auf das entschiedenste betont, daß Deutschland neutral bleiben würde, wenn Österreich einen solchen Krieg provozierte. In der Tat war Deutschland immer noch mächtig genug, um dann beim Friedenskongreß die Existenz Österreichs zu verteidigen. Wilhelm II. und seine Ratgeber legten dagegen den Dreibundvertrag so aus, daß die Wiener Politiker einfach die deutsche Armee unter ihre Aktiva einkalkulieren konnten.
Das zeigte sich verhängnisvoll in der bosnischen Annexionskrise. Der sehr kluge und energische Leiter der österreichischen Außenpolitik, Aehrenthal, nahm die jungtürkische Revolution zum Anlaß, um die Annexion der beiden türkischen Provinzen Bosnien und Herzegowina auszusprechen, die Österreich seit dem Berliner Kongreß besetzt hielt. Aehrenthal war formal gegenüber Rußland im Recht. Denn Rußland hatte schon in der Zeit des Berliner Kongresses in geheimen Abmachungen die beiden Provinzen Österreich überlassen und auf einen Einspruch gegen eine Annexion von Bosnien-Herzegowina verzichtet. Inzwischen war aber Serbien aus der Vormundschaft Österreichs in die Klientel Rußlands übergegangen. Das serbische Volk verlangte die nationale Einigung mit seinen Stammesbrüdern in Bosnien, und Rußland unterstützte im Rahmen seiner Balkanpolitik die serbischen Ansprüche. So erwuchs aus der Annexion Bosniens ein schwerer Konflikt zwischen Österreich und Rußland.
Aehrenthal spielte kühl und geschickt. Er wußte, daß er auf Deutschland unbedingt rechnen konnte und daß Rußland damals militärisch nicht kriegsfähig war. Wien machte keine Zugeständnisse, und Deutschland ließ sich verleiten, in Petersburg eine Erklärung abzugeben, worin es sich restlos den Standpunkt Österreichs zu eigen machte und die Verantwortung für ein Scheitern der Verhandlungen Rußland zuschob19. Man hat sich darüber gestritten, ob die in höflichster Form gehaltene Mitteilung Deutschlands in Petersburg ein »Ultimatum« gewesen sei oder nicht. Das ist ganz gleichgültig. Wesentlich war, daß Rußland nunmehr bestimmt wußte, es würde – im Falle eines Krieges wegen Bosniens – Deutschland an der Seite Österreichs zum Feinde haben. Schon damals hätte Rußland bei einem Kriege unbedingt auf die Hilfe Frankreichs und Englands rechnen können. Aber die russische Regierung fühlte sich militärisch noch rückständig und gab nach. Deutschland und Österreich hatten diplomatisch gesiegt. Die Entente war vor den Mittelmächten zurückgewichen. Aber um welchen Preis!
Die Haltung Wilhelms II. und seiner Minister in der bosnischen Krise war ein unverzeihlicher Fehler. Von jetzt ab war die russische Regierung überzeugt, daß sie in den Balkanfragen Deutschland immer auf seiten Österreichs finden würde. Rußland war entschlossen, ein zweites Mal nicht nachzugeben, seine Rüstung zu verstärken und bei dem nächsten Balkankonflikt in den Krieg zu gehen. Bethmann-Hollweg aber wiegte sich in der weiteren Illusion, daß Rußland immer nachgeben werde, wenn Deutschland energisch auftrete, und daß so der Friede zu erhalten sei. Das Verhängnis war nicht mehr aufzuhalten.
Es kam der Tag von Sarajewo, die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand durch serbische Verschwörer. Wilhelm II. und Bethmann-Hollweg waren überzeugt, daß jetzt wieder die Existenz Österreichs auf dem Spiele stehe. Könne Österreich sich in Serbien keine Genugtuung verschaffen, so würden sich die slawischen Provinzen von der Habsburger Monarchie loslösen. Das Interesse Deutschlands erfordere die Rettung Österreich-Ungarns als einer bündnisfähigen Großmacht. So gab Deutschland der Wiener Regierung bei ihrem Vorgehen gegen Serbien volle Rückendeckung. Wilhelm II. und Bethmann-Hollweg rechneten schlimmstenfalls mit einem lokalen Krieg zwischen Österreich-Ungarn und Serbien. Man glaubte nicht, daß Rußland sich der berechtigten Aktion Österreichs entgegenwerfen werde. Noch weniger glaubte man, daß England bei einem solchen Anlaß an der Seite Rußlands Krieg führen könnte. So ist die deutsche Regierung unfähig, ahnungslos und hilflos in den Weltkrieg hineingestolpert.
Es kann gar keine Rede davon sein, daß Wilhelm II. oder Bethmann-Hollweg bewußt auf den Weltkrieg hingearbeitet haben. Hätte Wilhelm II. einen Krieg gewollt, um die Herrschaft in Europa zu gewinnen, so hätte er während des russisch-japanischen Krieges oder während der ersten russischen Revolution Frankreich angegriffen. Damals war Rußland militärisch ohnmächtig, und Deutschland hätte wahrscheinlich über das isolierte Frankreich gesiegt. Die friedfertige Haltung der deutschen Regierung um 1905 genügt eigentlich, um die Kriegsschuldfrage eindeutig zu beantworten.
Wilhelm II. war, von allen anderen Argumenten abgesehen, viel zu nervös und innerlich zu unsicher, um sich die grauenhafte Last eines von ihm militärisch und politisch zu leitenden Weltkrieges zu wünschen. Ebensowenig war der stets von Sorgen und Verantwortungen gequälte Bethmann-Hollweg der Mann, einen Krieg heraufzubeschwören. Der im Juli 1914 amtierende Staatssekretär des Auswärtigen von Jagow hatte vom ersten Tage des Krieges an den Wunsch, ihn so schnell wie möglich wieder zu beenden20. Auch eine kriegslustige Militärpartei ist 1914 am Hofe Wilhelms II. nicht nachzuweisen. Der Generalstabschef von Moltke war körperlich schwer krank und fühlte sich der Armeeführung nicht gewachsen. Wie sollte er zum Kriege getrieben haben? Der Kriegsminister von Falkenhayn war ein Militär, der in den Grenzen seines Ressorts blieb, ohne den Ehrgeiz, sich in politische Fragen einzumengen. Der Staatssekretär der Marine, von Tirpitz, war in den entscheidenden Juliwochen 1914 von Berlin abwesend und hat die Art der Kriegseröffnung scharf mißbilligt. Endlich waren die beim Kaiser einflußreichen Chefs des Militär-, Zivil- und Marinekabinetts von Lyncker, von Valentini und von Müller sämtlich als »Flaumacher« verrufen21. Sie sind deshalb im Laufe des Krieges von der Obersten Heeresleitung, von den Anhängern des unbeschränkten U-Boot-Krieges und vom Kronprinzen heftig bekämpft worden.
Die Männer, die 1914 Deutschland regierten, sind von der moralischen Kriegsschuld freizusprechen, aber um so schärfer muß die politische Unfähigkeit Wilhelms II. und Bethmann-Hollwegs betont werden. Es war ein unerhörter Fehler und im Widerspruch zu allen Traditionen Bismarcks, daß Deutschland den Österreichern bei der Aktion gegen Serbien den Rücken deckte. Als Serbien das Ultimatum Österreichs ablehnte, erklärte Österreich-Ungarn an Serbien den Krieg. Darauf mobilisierte Rußland, trotz der Warnung Deutschlands, seine Armee. Politisch hätte Deutschland alles Interesse gehabt, die Verantwortung für den Angriff Rußland zu überlassen. Statt dessen wurde die Frage in Berlin rein militärtechnisch behandelt.
Der deutsche Generalstab sah dem Zweifronten-Krieg mit schweren Sorgen entgegen. Das französische Heer war an Zahl und an technischen Hilfsmitteln dem deutschen ungefähr gewachsen. Das russische Heer war an Zahl dem deutschen bei weitem überlegen und durch die Tätigkeit des Kriegsministers Suchomlinow mit allem Nötigen versehen. Dagegen war die Armee Österreich-Ungarns an Zahl der ausgebildeten Mannschaften und an moderner Artillerie so schwach, daß sie nur einen Bruchteil des russischen Heeres binden konnte. Von Italien war keine Hilfe zu erwarten. So mußte Deutschland mit einem Zweifronten-Krieg gegen große Übermacht rechnen.
Der deutsche Generalstab glaubte den Krieg nur mit Hilfe des Planes gewinnen zu können, den der frühere Generalstabschef Graf Schlieffen ausgearbeitet hatte. Der Plan sah vor, daß die gesamte Macht Deutschlands bis auf einige Divisionen im Westen eingesetzt wurde, um in wenigen Wochen Frankreich niederzurennen. Danach sollte die deutsche Hauptarmee gegen Rußland antreten. Der Schlieffensche Plan zeigt am besten, wie außerordentlich ernst der Generalstab die Lage Deutschlands beurteilte. Denn der Plan setzte zu seinem Gelingen voraus, daß Deutschland den gleichstarken und gleichwertigen französischen Gegner innerhalb weniger Wochen vernichtete. Ob und wie das möglich sein sollte, konnte mit gutem Gewissen niemand sagen. Ein Generalstab, dem eine solche verzweifelte Aufgabe zur Lösung zufällt, treibt nicht zum Kriege.
Um den Schlieffenschen Plan, der nach Ansicht des Generalstabs allein eine Rettungsaussicht bot, anzuwenden, war aber sofortiger Kriegsbeginn im Westen und im Osten nötig, sobald die russische Mobilmachung die Unvermeidlichkeit des Krieges gezeigt hatte. Rein militärtechnisch war das unbedingt richtig. Aber die politische Leitung hätte trotzdem die Verantwortung auf sich nehmen müssen, den Gegner angreifen zu lassen. Bethmann-Hollweg und Wilhelm II. hatten den Mut zu dieser politischen Verantwortung nicht, und so erklärten sie an Rußland und Frankreich den Krieg. Ohne Zweifel wäre auch ohne die deutsche Kriegserklärung der Krieg durch den russischen Angriff auf Österreich eingeleitet worden. Aber die politische Situation Deutschlands wurde durch die Kriegserklärung von Anfang an verdorben. Als Deutschland dann noch in Ausführung des Schlieffenschen Plans die Neutralität Belgiens verletzte, hatte die englische Regierung den bequemsten Vorwand zur Beteiligung am Kriege an der Seite Rußlands und Frankreichs. So war das deutsche Kaisertum in den Krieg geraten, an dessen unglücklichem Ende nach Bismarcks Urteil die sozialistische Republik stand22.