Читать книгу Brictom - Wodans Götterlied. Von keltischer Götterdämmerung 3 - Astrid Rauner - Страница 10

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Das Blut der Opfertiere

„Niemals!“ Aigonn biss sich auf die Lippen. Er schüttelte den Kopf, um einem gestaltlosen Gegenüber wieder und wieder zu verdeutlichen, womit Tiuhild sich nicht abfinden wollte. Die war vor wenigen Augenblicken schon zornig neben ihm aufgesprungen und umschritt nun zum dritten Mal den am Boden kauernden Bärenjäger. „Aigonn!“

„Ich kann das nicht tun!“, fiel er seiner Gefährtin ins Wort. „Tiuhild, ich habe das nie gelernt! Ein falscher Handgriff und diese Leute da draußen werden uns beiden den Kopf von den Schultern schlagen!“

„AIGONN!“ Widerwillig hob der Seher das Kinn. Tiuhild stand vor ihm, so nah, dass ihr Duft nach Fell und Leder, nach Tannen und Harz wie ein Hauch von Winter zu ihm hinüber wehte. Die Arme vor der Brust verschränkt hatte die junge Frau sich zu voller Größe aufgerichtet. Dennoch berührte ihr Kopf nicht die niedrigen Dachbalken an der Südwand des Langhauses, in dessen Schatten Aigonn sich seit dem Morgen schon zu verstecken suchte. Die Unerbittlichkeit, die ihre Miene versteinerte, ließ ihre Erscheinung wachsen, dass Aigonn seinen Rücken noch enger gegen die Lehmwand drücken wollte. Niemand hielt eine Lösung für ihn bereit! Die Götter hatten von einem Moment auf den anderen darüber entschieden, sein Schicksal auf eine Messerschneide zu führen. Und was tat Tiuhild, seine einzige Gefährtin in diesem feindlichen, fremden Land? Sie beschimpfte ihn! Offensichtlich war sie damit auch noch nicht am Ende: „Du willst uns nicht helfen, nicht wahr? Du hoffst, dass die Götter noch eine Welle über dieses Land hereinbrechen lassen und all deine Sorgen davon waschen!“

„Ich würde sie nicht davon abhalten, wenn sie es tun wollten!“ „Verflucht, Aigonn!“

Der junge Mann holte tief Luft.

„Du musst tun, wofür du geboren wurdest, nichts anderes! Die Götter haben dir das Sehen geschenkt und genau das sollst du für diese Menschen tun! Gib ihnen ein Zeichen, eine Idee, irgendetwas! Diese Leute haben alles verloren. Sie werden jeden Krumen heiligen, den du ihnen hinwirfst!“

„Ich soll über das Leben von Dutzenden entscheiden, Hilda! Dutzenden!“ Aigonn hätte schreien wollen. Alles in ihm wollte Tiuhild seine Verzweiflung entgegenwerfen, aber er wusste, man würde ihn hören. Die Maske seiner Gelassenheit, die er den anderen Einwohnern des Dorfes hatte vorspielen können, war das einzige Hilfsmittel, das ihnen noch eine Rettung aus der Miesere verheißen konnte, in die Rethin sie gebracht hatte. Jedes Verständnis, jedes Schuldgefühl, das Aigonn ihrem hilfsbereiten und freigiebigen Gastgeber gegenüber empfunden hatte, war seit jenem Abend der Versammlung vor zwei Tagen verpufft. Tiuhild hatte seitdem mehrfach das Wort für den Kimber ergriffen und damit nur erreicht, dass Aigonn sie am liebsten zusammen mit diesem verfluchen wollte.

Die junge Frau hatte an Aigonns Verständnis für die Leute aus dem Dorf appelliert. Obgleich der junge Mann sich noch immer mit der eigentümlichen Sprache dieser Nordländer, die weder jener Skandias noch dem Dialekt seiner Heimat wahrlich glich, schwertat, hatte er verstanden, was deren größte Sorge darstellte. Die Götter ihres Landes waren ihnen nicht mehr gewogen. Viele Siedlungen hegten schon seit Jahren den Gedanken, die rauen Küstenländer hinter sich zu lassen, um weiter im Süden fruchtbarere und Hoffnung verheißende Erde vorzufinden. Mit den Händlern, die den Bernstein eintauschten, waren die Geschichten von den reichen Völkern des Südens zu ihnen gekommen.

Aigonn kannte diese schönen Legenden selber vom Hörensagen. Länder, in welchen der Winter sich mild zeigte und keinen Hunger brachte: die Heimat des roten Rebensaftes, von welchem Rowilan vor Jahren einmal einige wenige Krüge geschenkt worden waren. In den Ohren der ausgehungerten Familien verdampfte jede dieser Geschichten zischend wie ein Tropfen auf dem Glühen ihrer Sehnsüchte. Zu viel Tod hatte die alte Heimat für sie bereitgehalten. Die schlimme Sturmflut des Frühjahrs hatte für viele Sippen den letzten Ausschlag gegeben. Sie wollten fort, Länder bereisen, die sie noch nie gesehen hatten. Keiner von ihnen wusste, welcher Weg in die Fremde wahrlich Glück für sie bereithielt.

Und Aigonn, ausgerechnet Aigonn, war durch Rethin auserwählt worden, ihnen zu dieser wichtigsten aller Fragen die Antwort zu liefern.

Der Gedanke allein trieb Aigonn Schweißperlen auf die Stirn. Offensichtlich war der Schamane der umliegenden Dörfer bei dem Unwetter ums Leben gekommen und fehlte schmerzlich als Ratgeber in den Streitereien, um das Wann, Wohin und Überhaupt hinsichtlich der Reise. Auf eine gewisse Weise konnte Aigonn völlig nachvollziehen, warum Rethin vorgeschlagen hatte, Aigonn möge die Götter um Rat fragen. Gleich, wie viel Mühe er sich gegeben hatte, seine Sehergabe zu verbergen, diese Leute hatten ihn dennoch durchschaut. Woher sollten sie auch ahnen, dass er – Mann, der er war, und kein Junge mehr – bis auf die wenigen Monate in Dauthingas und Rowilans Obhut nie gelernt hatte, wie man die Götter in einem Ritual anrief, um tatsächlich von ihnen einen Funken der Zukunft gezeigt zu bekommen. Aigonn konnte nicht von sich behaupten, er hätte nicht versucht, Rethin die Wahrheit zu sagen. Letzterer hatte ihm jedoch unmissverständlich klargemacht, wie sehr Tiuhild Furcht und Misstrauen in den Bewohnern des Dorfes geweckt hatte. Sein Ablehnen in dieser Angelegenheit wäre ihrer eigenen Sicherheit kaum förderlich gewesen.

Aigonn war daher mit der furchtbaren Gewissheit allein geblieben, dass ihm keine reelle Wahl blieb. Er konnte versuchen, die Götter um Rat und Hilfe zu bitten. Versuchen, das, was die Götter ihm zeigten, zu deuten. Oder eine göttliche Antwort erfinden, falls die Unsterblichen ihm die Auskunft verwehrten und – egal auf welche Weise – möglicherweise hunderte, tausende, er hatte keine Vorstellung, wie viele Menschen es wirklich waren, in ihr Verderben zu schicken. Andernfalls konnte er mit Hilda so schnell wie möglich das Weite suchen in der Hoffnung, nicht von zorn- und angsterfüllten Menschen gejagt zu werden, als Diebe und getragen von seinem Körper, der ihm zuletzt immer häufiger den Dienst versagte.

Rethin hatte ihm zu allem Übel kurz umrissen, welche Art Ritual er ausführen sollte. Soeben wurde es vorbereitet. Aigonn war sich darüber im Klaren, dass alle, jeder einzelne dieser Fremden, zugegen sein würden, um sein Wort zu erwarten. Draußen, vor Rethins Langhaus, waren bereits immer öfter angespannte Stimmen zu hören. Vor seinem geistigen Auge sah Aigonn die Fremden mysteriöse Gegenstände und wilde Tiere umhertragen. Wären Tiuhild und Aigonn in dem großen Gebäude nicht allein, der junge Mann hätte wohl längst den Verstand verloren.

„Du wirst jetzt tun, was wir diesen Menschen schulden!“, nahm Tiuhild ungnädig ihre Diskussion wieder auf. „Gib ihnen das Wort der Götter! Du bist ein Seher! IRGENDETWAS wirst du sehen, solange niemand dir das Auge aussticht. Glaubst du wirklich, diese Leute wollen eine Wegbeschreibung von dir? Sie sind sich uneins! Ihr Fürst hat längst entschieden, welchen Weg er für den besten hält. Dein Wort braucht er nur, um seine Leute auf seine Seite zu ziehen!“

Aigonn schnaubte. „Und wenn mein Wort ihm nicht passt?“

„Glaubst du nicht, er wird alles tun, um es so zurechtzufalten, wie er es braucht?“ Allmählich verlor Tiuhilds Miene an Härte. Ihre Arme glitten an ihre Seiten zurück, während sie vor Aigonn in die Hocke ging und dem jungen Mann beide Hände auf die Knie legte. Kühl war ihre Berührung, Aigonn schauderte unter ihrem Griff. Für einen Herzschlag brachte der Impuls, die junge Frau an sich zu ziehen und das Gesicht in ihren Haaren zu vergraben, seine Finger zum Zucken. Anstelle dessen blieb er jedoch reglos und wartete ab, bis Tiuhild nachsetzte: „Und sorg dich nicht um das Ritual. Ich habe Rethin reden hören, dass dir jemand aus einer anderen Siedlung dabei assistieren wird. Der Schüler ihres Schamanen, wenn ich mich nicht getäuscht habe. Ihm scheinen sie es nicht zuzutrauen, mit den Göttern selbst zu sprechen, aber er wird die Worte und Handgriffe kennen, die die Leute von dir sehen wollen. Lass ihn die Arbeit tun und rede du nur mit Tiuz. Tiuz hört deine Stimme, er wird auch diesmal zu dir sprechen.“

Aigonn versuchte ein Lächeln, doch außer einem Zucken seines Mundwinkels brachte er nichts zustande. „Ich wünschte, ich hätte deine Zuversicht!“

Auf diesen Kommentar hin schwieg Tiuhild. Aigonn konnte sehen, wie die Entgegnung auf seine Worte ihre Augen für einen Atemzug zum Glänzen brachte. Aber sie blieb stumm. Stille war das einzige, was ihr gerecht wurde. Der junge Mann wusste genau, was ihr Blick ihm zuflüsterte. Sie hatte diese Worte vor Tagen schon einmal zu ihm gesagt und noch immer lagen sie ihm wie ein kalter Schauer auf der Haut, sodass er unwillkürlich die Hände auf die Oberarme legte, um diese warm zu reiben.

Ich hatte für Jahre keine Zuversicht, entgegnete Tiuhild ihm stumm. Die Götter haben sie mir wiedergegeben, als du zu mir kamst. Als sie mir bewiesen haben, dass es dich gibt. Und die Hoffnung, die ich seitdem in mir trage, wird für uns beide reichen.

Das Schaben der Tür brachte den Tag wie ein dunkles Omen ins Haus. Mit zusammengekniffenen Augen sandte Aigonn ein Stoßgebet in den Himmel, aber als er die Lider aufschlug stand im Eingang nur die gedrungene Gestalt eines Jungen. Er mochte fünfzehn Winter erlebt haben, vielleicht auch sechzehn. Trotz allem vermochte er auch unter dem schmutzstarren Fellmantel nicht verbergen, dass bereits ein leichter Buckel seinen Rücken krümmte und ihn vorn übergebeugt auf das ungleiche Paar zulaufen ließ. Knöchelchen und Bernstein, die zu Dutzenden an Lederbändern um seinen Hals hingen, klapperten bei jedem Schritt. Aigonn war sich nicht sicher, ob er ganz leise die Geister singen hörte, die im Stein gefangen waren. Sie würden ihm heute nicht helfen – außer sie trügen diesen Fremden mit all dem drohenden Unheil dieses Tages aufs Meer hinaus.

„Fremder!“, begrüßte dieser Aigonn mit belegter, hoher Stimme. „Sie warten auf dich. Du musst kommen. Das Opfer steht bereit!“

„Was genau muss ich tun?“ Aigonn blickte den Jungen nicht an. Er sollte nicht sehen, wie der Schmerz, die Hilflosigkeit und die Hoffnung aus seinen Augen schrien. Die Schatten hielten keine Antwort für ihn bereit.

Die des Fremden war ihm keine wirkliche Hilfe: „Lass die Götter das Blut des Bocks trinken und höre ihre Worte. Safilla hat Kraut für dich gepflückt und dir den Trank bereitet. Er wird dich führen!“

Das, was ihm kurze Zeit später aus einem Tonbecher entgegen dampfte, roch würzig und bitter. Behutsam setzte Aigonn das Gebräu an die Lippen und schmeckte wenig später die Wiesen, die dem Meer kurz vor der Brandung trotzten. „Mehr! Mehr davon!“ Der Junge drückte Aigonn den Becher mit Nachdruck an den Mund, stupste ihn an, sodass unweigerlich der Trank seinen Rachen hinunterspülte. Kaum, da der bittere Geschmack sich verzogen hatte, schien die Gischt sich auf Aigonns Gesicht zu legen. Ein feines, kühles Bitzeln betäubte seine Wangen, bevor die erste Welle seine Gedanken hinwegspülte.

„Er wird dich führen!“ Plötzlich hielt der Junge eine Schüssel voll bläulicher Paste in den Händen. Mit zwei Fingern zeichnete er ein Halbrund auf Aigonns Stirn und je eines gegenläufig auf jede Wange. Dann fingerte er ein glimmendes Stück Holz aus dem Herdfeuer, legte es auf einen Teller und bedeckte es mit einer Mischung aus getrockneten Blüten und Räucherharz, bis ein Schleier aus betäubendem Rauch die Luft vor Aigonn erfüllte.

Die Welt verlor an Gewicht. Mit beängstigender Geschwindigkeit schien sie Aigonn auf die Beine zu heben, von einem Wind getragen, der dem Unbekannten entgegen wehte. Aigonn wusste, was jetzt geschah. Er kannte dieses Gefühl, das sich als Rumoren in seinen Magen setzte. Angst schnürte ihm die Kehle zu. Aus dem Dunkel seiner Erinnerungen hörte er Aehrels Stimme, die ihm ausweglos den Pfad in die Andere Welt wies, den Weg ohne Wiederkehr.

„Aehrel ist nicht hier“, versuchte Aigonn sich zu beruhigen und auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Die rauchgeschwängerte Luft des Langhauses war auf einmal von leisem Singen erfüllt. Wie aus weiter Ferne summte der Schamanenschüler eine leiernde Melodie, die Aigonn führte, hinaus in den Tag.

Die kalte Meeresluft empfing Aigonn mit erschütternder Klarheit. Lief er? Ja, tatsächlich trugen ihn seine Beine auf den Dorfplatz hinaus. Die Blicke der Umstehenden streiften den Seher nur wie dumpfe Empfindungen. Sein sehendes Auge zuckte und tränte, von der Intensität des Tranks geschärft. Die Worte, die ihn umgaben, verloren an Klang, vervielfachten sich. Menschenstimmen verwandelten sich in ein Raunen, das den Seher mit fremdartiger Vertrautheit locken wollte. In der Wirklichkeit hinter dem Dunstschleier, der sich immer wieder wie ein Wogen vor Aigonns Blick legen wollte, zogen Birken an ihm vorbei. Weiche Heide und buntes Moos trugen seine Füße, bis diese Bohlen unter ihren Sohlen spürten.

„Folge mir!“, flüsterte eine ferne Stimme. Der Schamanenschüler wandte sich kurz zu ihm um, das Gesicht plötzlich ganz nah. Lugus, murmelte Aigonns innere Stimme. Lugus, Tiuz, auf welchen Namen auch immer du an diesem Ort hörst. Diese Menschen brauchen deinen Rat, Tiuz. Ein Rabenschrei durchschnitt die Stille, erst einer, dann ein zweiter. Das blinde Auge folgte den beiden schwarzen Schatten, die über den Himmel zogen und glaubte, sie zu ihm hinabblicken zu sehen. Tief in seinem Geist erklang für Aigonn plötzlich ein Säuseln, der Wind, ganz leise, in seinen Gedanken gefangen. Er trug die tiefe Stimme, die durch seine Gedanken schnitt und die tränenden Augen zum Zucken brachte.

„Nenn den Namen dessen, den du rufst, Seher …“

Fremdartig. Nein, so hatte Lugus’ Stimme nicht geklungen, als der Herr des Himmels im Birkenwald Skandias zu ihm gesprochen hatte. Irgendwo in der Ferne trug der Gesang des Schamanenschülers Aigonn voran, über das Moor. Dutzende und noch mehr Schritte hallten ihm nach, Menschen die ihm folgten, Aigonn nahm sie nur ganz am Rande wahr. Viel zu laut rief wieder der Rabe weit über ihm.

„Wer bist du?“, fragte Aigonn die Stimme in seinen Gedanken.

„Nenn mich bei dem Namen dessen, den du suchst, Seher!“

„Ich suche Antworten, wer bist du? Bist du Wode?“

Eine Böe fuhr auf einmal so heftig in Aigonns Mantel, dass der Seher ins Stolpern geriet. Das Lied seines Führers holperte. Unsicher warf dieser einen Blick zu ihm über die Schulter, während er die letzten Silben seines Gesanges zu einer Pause dehnte. Der kurze Blickkontakt zog Aigonn wie ein Handgriff ein wenig näher an die Wirklichkeit zurück. Und schon bald leitete das gleiche, schiefe Lied ihn weiter über die Bohlen. Hinter ihm tuschelte es nun jedoch. Jeder von ihnen suchte ein Omen in dem, was er tat, wie er sich bewegte. Wenn der Seher stolperte, verhieß dies nichts Gutes. Durch ihre fernen Stimmen hörte Aigonn Wodes leises Lachen, und dieses war ihm sogleich wieder auf unheimliche Weise vertraut. Es wurde zum allzu nahen Echo der vergangenen Sonnenwendnacht.

Ein heidebewachsener Platz am Ende des Bohlenpfades war Ziel der Prozession. Im Schatten der zum Rand hin wachsenden Moorbirken wachte ein Pfahlgott, sein Kopf und die lange Beine nur grob aus einer Eiche geschnitzt, mit leeren Augen über den Ritualplatz. Die aufgerichtete Männlichkeit, die man zwischen seinen Beinen aus dem Holz getrieben hatte, war der einzige Schmuck, den man dem Herrscher dieses Ortes zugedacht hatte. Das Symbol von Manneskraft und Fruchtbarkeit war im Angesicht der ausgehungerten Gestalten, die er hier empfing, jedoch nur Hohn.

Fünf Fuß vielleicht näherte Aigonn sich als Nachfolgender des Schamanenschülers dem Gott an. Der ständige Rauch der Kräuter trieb ihm allmählich die Übelkeit in den Magen. Noch mehr, da er auf einmal Vieh, ein Tier, was auch immer, witterte, ohne ausmachen zu können, wo der Ursprung des Geruches lag. Die Bilder zuckten und schwankten im Randbereich von Aigonns Blickfeld. Wode lachte noch immer.

„Willst du meine Antworten nicht mehr, mutiger Aigonn?“ Wieder eine Böe, als stieße Wode ihm wie ein übermütiger Kamerad mit der Hand gegen die Schulter. „Noch immer hast du nicht gesagt, ob du meinen Preis zahlen willst, mutiger Aigonn!“

„Du hast ihn nicht genannt“, flüsterte der Seher nun und brachte den ohnehin unsicher dreinblickenden Schamanenschüler beim Umrunden der Götterstatue mit der Opferschale zu einem verstörten Aufblicken.

„Erst einmal“, dehnte sich Wodes Stimme in seinem Kopf aus, „… nehme ich Blut.“

Der Schamanenschüler verstummte. Wie von den Göttern herbeigezaubert stand keine drei Fuß vor Aigonn wieder der kleine, stämmige Mann mit dem struppigen Grauhaar. Rethins Fürst, flüsterte Aigonns Geist wie ein Fremder. Der alte Mann war ebenso gekleidet, wie Aigonn ihn alle Tage über beobachtete hatte. Nur eine schwere, goldene Kette, mit allerlei Anhängern aus Perlen, Bernstein und Talismanen versehen, unterstrich die Bedeutung dieses Tages für die Anwesenden. Er blickte ernst und mit Misstrauen zu dem fremden Seher vor ihm, der dastand wie ein Angeklagter auf seiner Gerichtsverhandlung. In der rechten Hand hielt der Fürst ein Nesselseil, das am anderen Ende um den Hals eines friedlich grasenden Ziegenbocks gebunden war.

„Ich rufe Thórr“, erscholl die Stimme des Fürsten auf einmal über der versammelten Menschenmenge und brachte deren leise Gespräche zum verstummen. „Ich rufe Tiuz und Nerthus. Ich rufe die Eltern dieser Länder, Wächter über Besitz und Wohlstand, Richter über Leben und Tod. Der Spamathr aus dem fernen Süden ist gekommen, um euch um Rat zu erbitten! Der Spamathr kommt mit Fragen an euch!“

Damit wandte der kleine Mann den Blick vom Himmel hinunter zu Aigonn, der einen Herzschlag zu lange zögerte, bis er begriff, dass es nun an ihm lag zu fragen. Seine Lippen zitterten, bevor er die Augen schloss und murmelte: „Ich bin gekommen, um Antworten zu erbitten. Ich erbitte Antworten für diese Leute!“

„Sprich lauter“, flüsterte der Fürst.

„Ich erbitte Antworten!“, hob Aigonn darauf seine Stimme über die Menge. „Ihr Götter, diese Menschen sind zu euch gekommen, um zu erfahren, ob ein neuer Weg vor ihnen liegt. Euer Segen scheint die alte Heimat ihrer Ahnen verlassen zu haben. Ich frage euch daher, in welche Länder habt ihr die Zukunft dieser Menschen gelegt?“ Aigonn schnappte nach Atem. Die Worte kratzten in seinem Rachen. „Sollen sie die Küsten verlassen, sollen sie eine neue Heimat suchen? WO LIEGT DIE HEIMAT DIESER MENSCHEN?“

Die letzte Frage hatte Aigonn geschrien. Der Wind fuhr unter seinen Mantel wie um ihm neuen Atem zu spenden. Wieder krächzten Raben von fern her. Er konnte spüren, dass Wode ihm viel zu nahe war.

„Ein Leben für deine Antworten, Aigonn“, raunte der Sturmgeist. Ein ängstlicher Fetzen von Aigonns sehendem Sinn hielt Ausschau nach Tiuz oder nach dem Donnerer, der in der Nacht der Sturmflut so vielsagend am Strand auf ihn gewartet hatte. Bis auf die leisen Wesen aber, die gestaltlos und unsichtbar durch den Schlick des Moores zogen, war Aigonn mit dem zornigen Sturmherren und der schweigenden Götterstatue allein.

„Ein Leben …“, echote Aigonn Wodes Worte. Und als hätte der Fürst nur darauf gewartet, zog er die sich sträubende Ziege zwischen sich und den Seher und reichte Aigonn ein verziertes Messer mit langer Klinge.

Ein Leben … natürlich … Aigonn nahm die Waffe und ließ den Blick über die stumpf glänzende Klinge gleiten. Ein Schnitt, Blut, das kurze Aufheulen einer Seele. Aigonn hatte es so oft getan, hatte so oft Schafe aus seiner Herde schlachten müssen. Es brauchte nur ein Zustechen und einen kurzen Ruck. Das Tier wusste, was es erwartete. Es schrie und zog plötzlich an seiner Fessel, dass der Fürst es mit beiden Händen festhalten musste. „Mach schon“, zischte er ungehalten. Ohne einen Gedanken stieß Aigonn zu.

Aigonn hörte die Seele schreien, ganz leise nur. Sie streifte seinen Geist wie eine auflodernde Flamme, die erlosch und ihren letzten Rauchfaden in den Himmel stieß. Der junge Seher stand wie erstarrt, gefangen, während der schwere Duft des Räucherwerkes seine Sinne betäubte. Bevor er darüber nachdenken konnte, was nun zu tun war, entwand der Schamanenschüler ihm das Messer, hievte sich die Ziege auf die Arme und trug sie hinüber zu einer länglichen, kleinen Felsplatte, die man zu Fuße des Pfahlgottes vor Generationen niedergelegt hatte. Das Gewicht des leblosen Tieres brachte den jungen Mann fast ins Stolpern. Ungelenk schlitzte und schabte er mit dem Messer durch die Bauchdecke der Ziege, schob Lunge, Magen und Gedärm über das Fell bis er den Fels, seine Arme und den Fuß des Götterbildes voll mit Blut besudelt hatte.

„Dort liegen deine Antworten, mutiger Aigonn“, flüsterte Wode. „Sie wollen, dass du sie aus deinem Opfertier liest.“

In Aigonns Kehle bildete sich ein Kloß. Die Seele der Ziege streunte noch immer durch die Menschenreihen. Er hatte sie getötet, musste sie in die Andere Welt singen. Den Weg allein würde sie nicht finden, da sie nicht gewöhnlich geschlachtet, sondern zum Geschenk an die Götter gemacht worden war. Niemand tat jedoch etwas. Der Fürst trat nur ungeduldig hinter Aigonn von einem Fuß auf den anderen.

„Lies deine Antworten“, lachte Wode leise. Die Blicke aller Umstehenden stachen Aigonn wie feine Nadeln in den Körper. Er wartete immer noch, die Füße schwer wie Blei. Dann, endlich trat er vor. Hatte Rowilan so etwas schon einmal getan? Was sollte er sehen? Der Geruch von Blut schnitt in den betäubenden Dunst der Räucherschale. Übelkeit kroch aus Aigonns Magen herauf. Weil er nicht wusste, was er tun sollte, schloss er das gewöhnliche Auge, suchte mit dem sehenden über das Opfertier. Was er sah, waren die Funken der unruhigen, orientierungslosen Seele, die nun auf ihn zukam und ihm zutraulich um die Hüfte strich.

Ich werde dich gleich heimbringen, warf er ihr zu. Das einzige, was ihm einfiel, oder was er sah. Warum starrte der Schamanenschüler ihn so verwirrt an? Hier gab es nichts. Nur totes Fleisch, das die letzte Wärme des Lebens in den kalten Morgen dampfte. Was sollte er tun? Da scheinbar alle Umstehenden erwarteten, dass er irgendetwas in dem Opfertier finden sollte, trat er noch näher und tastete zögerlich mit der Hand über das weiche Gedärm.

Galle schwappte Aigonn den Rachen empor, ließ sich zum Glück aber wieder nach unten drängen. Wie oft hatte er das schon getan? Schafe geschlachtet, ausgeweidet, zerlegt? Dies heute war anders. Vor ihm lag ein entweihter Kadaver, eine hilflose Seele an seiner Seite. Was hatte Rowilan zum letzten Sonnenwendritual mit den Opfertieren getan? Aigonn erinnerte sich nicht mehr.

„Wode“, wandte er sich wieder an die einzige machtvolle Geistergestalt, die er erspüren konnte und wusste den Sturmgeist sogleich an seiner Seite.

„Du willst wissen, wo die Zukunft dieser Menschen liegt? Ich kann sie dir zeigen, Aigonn!“

Plötzlich Bilder. Schwimmende Bilder, die Aigonn wie einen Strudel umgaben. Er sah Menschen mit Karren, erst kleine Gruppen, dann hunderte, tausende, ein zerrissener Menschenzug, der Furten durchquerte, Waldpfaden folgte, immer weiter. Dann sah er die Toten. Nur notdürftig errichtete Gräber. Zurückgebliebene, Dahingemeuchelte. Rethins Fürst, einer unter hunderten, ein Schlachtfeld. Aigonn kannte die fremden Krieger nicht, die sich auf gespenstisch kontrollierte Weise wie eine totbringende Wand auf die schreienden Krieger zubewegte. Waffen, die er nur aus Geschichten ferner Händler kannte. Talismane, eine Wolfsfigur, die zwei Kinder säugte. Wo waren sie? Im Hintergrund waren Berge zu sehen, höher als jeder, den er bisher kannte.

„Die Spinnerinnen haben ihre Lebensfäden noch nicht zuende gesponnen“, hallte Wodes Stimme durch das Bildermeer. „Ihr Weg nach Süden wird im Blut ertrinken. Aber dies sind Blutzeiten. Das Alte zerbricht, Aigonn. Du kannst es zerfallen lassen oder versuchen, es mit deinen eigenen Händen niederzureißen.“

Schreie, Lanzen, Krieger und Sterbende. Überall Sterbende. Die Raben waren es, die vom Himmel her das Schicksal jener verkündeten, die unten auf die blutgetränkte Erde niedergegangen waren. Plötzlich sprachen sie mit Rowilans Stimme. Aigonn konnte Rowilan seinen Namen flüstern hören, nur einmal, ganz leise. „Alles kehrt wieder, Aigonn“, raunte sein Schamanenlehrer ihm zu, „das Leben ist ein Rad.“ Die Bilder ertranken im Feuer. Es war ein Feuer, das nur die Schwärze der Asche zurückließ. Und Aigonn mit ihr.

„Sie haben gesagt, dass du deine Sache gut gemacht hast!“

Tiuhild war da. Aigonn spürte ihre fließende Kälte durch jede Dunkelheit. Sie weckte ihn wie kaltes Flusswasser und spülte langsam ein Bild vor seine Augen, das die Schemen einer Langhausdecke annahm.

Aigonns Körper erfüllte bleierne Schwere. Dass sich seine Augenlider heiß wie Glut anfühlten, war beinahe schon eine vertraute Erwartung, die sich bestätigte. Jedem Kraftakt, körperlicher oder geistiger Natur, waren in den vergangenen Monaten Fieberschübe gefolgt. Noch bevor er das erste Wort über die Lippen bringen konnte, schüttelte ihn ein Hustenanfall, dass Tiuhild ihn bei den Schultern fasste.

„Das kann so nicht weitergehen!“ Ihre leisen Worte waren voll Sorge. „Du kannst nicht an jeder Vision beinahe zu Grunde gehen. Falls wir deine Heimat lebend erreichen, muss dein Schamane etwas tun. Und du wirst dich ausruhen. Bis du gesund bist!“

Durch sein Husten entkam Aigonn ein krächzendes Lachen, mit dem endlich auch die Klarheit in seinen Blick wiederkehrte. Jetzt hörte Tiuhild sich schon beinahe wie seine Mutter an! Aber es passte zu dem wohligen Gefühl der Felle unter seinem Körper. Ihm fehlten die Kraft und das Interesse sich umzusehen. Aigonn hatte Rethins Haus ohnehin längst erspürt. Dieser Ort war voller Lachen. Voll von Tatendrang. Kummer und Sterben, die an jedem Siedlungsort begraben lagen, durchdrangen all die glücklichen, leichten Erinnerungen nur wie ein ferner Schatten. Aigonn hätte hier sein ganzes Leben lang liegen und von dem Glück der Fremden zehren können, das das Haus für sie aufbewahrt hatte. Der Aufbruch aber, der wie ein böses Omen aus der Vision nachhallte, wehte mit jeder Windböe durch die Ritzen. Das war nicht gut.

„Was habe ich ihnen gesagt?“, krächzte er schwach.

Tiuhild, die neben seinem Lager auf ihren angewinkelten Beinen saß, schob sich eine Haarsträhne hinter die Ohren. „Genau genommen“, begann sie, „irgendwelches Gemurmel. Du hast von deinem Rowilan am Ende gesprochen, man hat es nicht verstanden. Nicht einmal, wenn man direkt in der ersten Reihe gestanden hat.“ Sie lachte trocken. „Ich vermute, dass der Fürst etwas in der Art geahnt hat. Denn er hat alle Zuschauer auf gehörigem Abstand zum Ritual gehalten. Kurz nachdem du in den Innereien dieser Ziege herumgestochert hast, sind dir die Beine weggesackt. Der Fürst und dieser Schamanenschüler haben sich neben dich gekniet und aus deinem Gebrabbel herausgehört, was sie hören wollten.“

Aigonn schloss tief atmend die Augen. „Das heißt, sie werden ihre Dörfer verlassen?“

„Zwei andere Stämme müssen wohl schon im vergangenen Herbst beschlossen haben, dass sie zum Sommerbeginn abreisen. Man hat den Fürsten dieser Leute hier unter Druck gesetzt. Für ihn war von der ersten Sekunde des Rituals an beschlossen, was die Nachricht deiner Vision sein wird. Da bin ich mir sicher – und nicht nur ich.“

Tiuhild sammelte sich kurz. „Rethin hat das gesagt. Die meisten waren sich sicher, dass der Fürst dieses Ritual nur duldete, um für sich das Unvermeidliche zu verkünden. Doch viele sind verunsichert, weil sie gespürt haben, dass du wirklich etwas gesehen hast. Sie haben gehofft, du würdest ihnen die Wahrheit sagen.“

Aigonn lachte. Es verwandelte zwei Atemzüge in erneutes Husten, aber machte auch damit der Frustration nicht Platz, die mit jedem Mal, da er Tiuhilds Worte in Gedanken vor sich her sprach, größere Dimensionen annahm. Dafür? Dafür hatte er sich Wode ausgeliefert und eine Vision heraufbeschworen? Damit dieser Fürst doch nur seine Variante der Wahrheit berichtete? Aigonn hätte aufspringen und den Täuscher zu sich brüllen wollen. Ebenso gut wusste er aber, dass ihm die Kraft dafür fehlte. Und du willst noch Monate lang gen Süden wandern?, höhnte eine Stimme in seinem Kopf. Du wirst zusammenbrechen wie ein klappriger, alter Gaul. Und ebenso werden sie dich von deinem Leid erlösen und im Moorwald verscharren, weil dein zähes, kraftloses Fleisch nicht einmal mehr für einen Braten taugt …

Schnell wischte er diesen morbiden Vergleich beiseite. Die Bilder der Vision dämmerten jedoch mit kaltem Grauen in seinem Geist und verwandelten sich in das Zerrbild der Versprechen, mit denen der Fürst seine Leute wohl zur Abreise bewegt hatte. „Die Fremde wird ihr Tod sein“, spie Aigonn aus.

„Wir müssen alle sterben.“

„Sie werden kein Glück und keinen Reichtum finden. Nur Krieg. Ihnen stehen fremde Armeen mit Zauberwaffen gegenüber. Ich habe solche Krieger noch nie gesehen.“

„Was für Waffen, Fremder?“ Tiuhild wandte sich um. Im Schatten eines Dachbalkens lehnte Rethin – er allein wusste, wie lange schon. Seine rechte Hand kratzte unablässig über das Holz. „Sind es Geister, die uns bekämpfen werden? Dämonen?“

Aigonn versuchte sich aufzurichten und fühlte sogleich Tiuhilds stützende Hände im Kreuz. „Nein, nur Krieger. Also, das denke ich … Zu Tausenden vereinen sie ihre Kampfkraft und kämpfen wie ein einziger Mann. Ich habe so etwas noch nie gesehen.“

Rethin zog seine Lippen schmal. Was immer er sich dort bereithielt, er sprach es nicht aus, sondern trat nur ein paar Mal auf der Stelle, bis er in den Raum hinauslief. „Ich liebe dieses Land, Fremder. Es hat mich geboren und mir viel Glück geschenkt. Ich weiß trotzdem, dass wir gehen müssen.“

„Warum?“

„Ich weiß es einfach.“ Die Verzagtheit in diesen Worten legte sich Aigonn schwer auf die Seele. Für einen Herzschlag schienen Rethins Gedanken abzudriften, aber dann ballte er die Hand zur Faust und sprach aus – mehr zu sich selbst als zu allen Anwesenden: „Wenn ich das hier aufgebe, tue ich es nicht, um den schnellen Tod zu finden. Ich will alt werden, Fremder, verstehst du das? Ich will endlich Kinder zeugen und sie groß werden sehen. Dafür gibt es einen Platz, irgendwo in diesem Land!“ Mit diesen Worten wandte er sich um, duckte sich unter dem Türsturz weg und verschwand im trüben Nachmittag.

Brictom - Wodans Götterlied. Von keltischer Götterdämmerung 3

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