Читать книгу Brictom - Wodans Götterlied. Von keltischer Götterdämmerung 3 - Astrid Rauner - Страница 13
ОглавлениеKimbernzug
„Du musst sie noch ein bisschen länger rösten. Und nicht so viel Rauke dazu nehmen. Sonst schmeckst du das Salz nicht mehr. Mmmh …“ Bevor Rethin weitersprach, setzte er die Schale der Miesmuschel wie einen Löffel an die Lippen und zog das im Lagerfeuer gegarte Fleisch mit den Zähnen herunter.
„Den ganzen Winter habe ich darauf gewartet“, schwärmte er mit halbvollem Mund. „Thórr weiß uns mit seinen scharfen Wellen Appetit auf die Muscheln zu machen. Bei dem Sturm hat sich niemand hinaus an den Strand getraut, um sie zu sammeln. Komm, Fremder …“ Der Kimber fischte den Tontiegel, der eigentlich einem Bronzegießer gehörte und ihnen als improvisierter Kochtopf diente, aus der Feuerglut und schob Aigonn großzügig noch eine Portion Muscheln auf dessen Holzteller. Dieser nickte dankend und versuchte mit vollem Mund und allerlei Gesten den Kimber davon abzuhalten, die Zahl der Schalentiere auf seinem heutigen Speiseplan allzu sehr zu vergrößern.
Zum Glück war Rethin noch nicht aufgefallen, dass Aigonn seit einer gefühlten Ewigkeit auf seiner dritten Muschel herum kaute. Wahrlich, das Salz des Meeres, das den Muscheln anhaftete, war ein Genuss. Es war einer der wenigen Vorzüge, den aus Aigonns Sicht das Leben an den Küsten des reißenden Gottes, des Wellenvaters, bot. Niemals zuvor hatte der Bärenjäger so oft das kostbare, weiße Gewürz genießen können, das man in seiner Heimat mit Gold aufwog und ihnen schon so oft Fleisch selbst in die Winter konserviert hatte.
Seit einigen Tagen aber fehlte Aigonn der rechte Appetit, um die Speisen der Küsten zu genießen. Sein Körper fühlte sich schlaff an und fror trotz der Hitze, die Tiuhild immer wieder auf seiner Stirn spürte. Wenn ihn einer der häufigen Hustenanfälle schüttelte, rasselte es seit jenem Opferritual für die Kimbern wieder in seinen Lungen. Fast schien es, als fordere Lugus für jede Vision, die er dem unerfahrenen Seher schenkte, einen Funken seiner Lebenskraft als Gegenleistung. Oder lag es daran, dass Wode ihm diesmal die Antworten gegeben hatte?
Rethin bemerkte diesen Umstand nicht oder er versuchte, es geschickt zu überspielen. Der Kimber hockte vor ihm auf seinem zusammengefalteten Mantel im abgeweideten Gras. Aigonn, der es sich mit einigen Fellen auf der Ladefläche eines kleinen Karren gemütlich gemacht hatte, überragte den jungen Mann aus seiner Position um mehr als eine Haupteshöhe, was sich unter Fremden – als die Aigonn sich und Rethin empfand – nur die Ranghöheren erlauben durften. Rethin hatte ihm jedoch schulterzuckend den exponierten Platz überlassen und stattdessen zwischen ihnen das Herdfeuer entzündet, um seinem Gast – als der Aigonn scheinbar noch immer von Rethin verstanden wurde – auf eine Portion Muscheln einzuladen. Es war eine nette Abwechslung, um ihre Wartezeit mit Inhalt zu füllen.
Seit beinahe fünf Tagen lagerten die Kimbern auf einer Weidefläche zwischen einem kleinen Bauerngehöft und der Weite des lichten Waldes. Der nach Süden führende Handelsweg, über den der Zug aus Reisenden Rethins Dorf verlassen hatte, gabelte sich hier von West nach Ost, weshalb man diesen Ort als Treffpunkt ausgewählt hatte, um einen anderen Trupp Flüchtender zu treffen, die von Süden her zu Rethins Leuten stoßen wollten.
Der Fürst des kleinen Dorfes hatte seinen Entschluss verwirklicht. Elf Familien hatten alles Hab und Gut, das sie mit Karren bewegen konnten, verladen und in Bewegung gebracht. Immerhin hatten sie vier Tage nahezu ohne Pause reisen können, bis das erste Lager aufzuschlagen gewesen war. Die Ochsen und Ponys, die die Wagen zogen, weideten nun verstreut zwischen den lagernden Menschen, Kinder und Hunde tollten um den Hausrat herum. Jeder der konnte, hatte sich kleine Zelte hergerichtet. Essensreste und Exkremente ließ jeder dort zurück, wo er sich ungestört fühlte. Da sich aber nach spätestens tausend Fuß nördlich des Weges der Waldboden in Schlick verwandelte, lag bereits nach fünf Tagen über der Gruppe Reisender der Geruch einer Belagerung.
Aigonn erschien dieser Umstand noch immer wunderlich. Zeit seines Lebens hatte er viele Menschen kennengelernt, die ihre Häuser verlassen und sich neue Plätze zum Bau eines Gehöftes gesucht hatten, wenn die Geister des Bodens die Ernte verweigerten. Das war ganz normal. Man bestellte seine Äcker so lange, bis die Ernte ausblieb oder die Stützbalken der Häuser verfaulten, um einige Dutzend oder auch hundert Fuß weiter ein neues Haus mit Acker zu errichten. Die Siedlungen wanderten dabei im Laufe der Generationen langsam im Kreis um ein Heiligtum, einen Versammlungsplatz oder den Ruheort der toten Ahnen, wenn keine mächtige Wallanlage es einfriedete.
Hier im Norden schien man es kaum anders zu handhaben, vielleicht legten die Bewohner der Dörfer beim Umsiedeln etwas weitere Strecken zurück. Aber dies, was hier geschah, war nicht die Suche nach einem neuen Siedlungsplatz zehn Meilen weiter südlich. Rhaldar, der Schwiegersohn des Fischers, der sich Tiuhild als Sklavin gehalten hatte, hatte bereits angedeutet, die Geister des Landes hielten seinen Bewohnern ihren Segen vor. Diese Menschen wollten ihre Heimat, das Meer, die Küstenländer, zurücklassen! Ihr Ziel lag weit im Süden, mystische Länder aus den Erzählungen der Händler, von denen niemand wirklich zu wissen schien, wo genau sie lagen. Daher stritt man sich seit Tagen über den Verlauf der Route, die zu nehmen war, und hatte in der vergangenen Nacht die hitzige Auseinandersetzung zu vertagen versucht, bis der Anführer der bereits erwarteten Kimberntruppe eingetroffen war. Doch nur ein Teil der Diskutierenden war damit zufriedengestellt.
Aigonn graute vor diesem Moment, denn er hatte mehr als einmal das Wort Spamathr fallen hören und fürchtete um das Leben einer neuen Ziege. Tiuhild hatte ihm seine Sorgen zu nehmen versucht und vertrieb sich die Wartezeit mit Jagen oder dem Trainieren ihrer eingerosteten Fertigkeiten an der Lanze. An diesem Morgen hatte sie ihren Gefährten besonders früh zurückgelassen und war in die Wälder gelaufen, sodass Aigonn sie alsbald erwartete und mit tief gerunzelter Stirn die Gruppe Männer beobachtete, die sich nun schon am dritten Tag in Folge am Rand ihres Lagers trafen und einen erneuten Streit über den Verlauf ihrer Reise zu vermeiden ersuchten.
Allmählich aber wurde das Lager unruhig. Die Boten, die den erwarteten Stammesverbündeten entgegen geritten kamen, hatten berichtet, dass diese unerwartet langsam vorankamen. Wohl waren sie später aufgebrochen. Das gemeinsame Zusammentreffen verzögerte sich dadurch, was allen Anwesenden bereits jetzt schon an den Nerven zehrte. Ihr kleines Lager war eine Viehweide, eingekesselt vom nebelverhangenen Moorwald des kargen Küstenlandes. Das kleine Bauerngehöft am Rande der Insel aus Trockenland war der einzige Weiler gut fünf Meilen von der nächsten Siedlung entfernt und beherbergte einen ergrauten Bauer, der das Land unter den Füßen der Lagernden als sein Eigentum beanspruchte. Schweigend und mit Sorgenfalten um die Augen huschte er Tag für Tag zwischen den Familien hindurch, versuchte seine acht Rinder in den nahen Moorwald auf die verbliebenen Weideflächen zu treiben, die das Vieh der Lagernden noch nicht abgegrast hatten. Er wich dabei den begehrlichen Blicken der ausgezehrten Gestalten aus, die ihrem Fürst in ein neues Leben folgen wollten.
Der Winter hatte alle Anwesenden gezeichnet. Die Tiere, die die Reisenden in den Süden begleiten sollten, waren abgemagert. Plündernde Banditen hatten dazu immer wieder Rethins Dorf heimgesucht, wie der blonde Kimber Aigonn erzählt hatte, und gerade zwei außerhalb siedelnden Bauersfamilien schweren Schaden zugefügt. Die anfängliche Euphorie, die die gut hundertzwanzig Kimbern zu schnellem Aufbruch getrieben hatte, begann in Beklommenheit umzuschlagen. Die wenigsten schienen eine Vorstellung von dem zu haben, was vor ihnen lag. Sie wollten nur fort, das Leid zurücklassen, das in den letzten Wintern über sie gekommen war. Die wenigsten dachten daran, sich auf eine Monate währende Reise zu begeben, wie der Fürst schwärmte. Man wollte sich umschauen, Freunde und fern ab siedelnde Sippen treffen. Vielleicht hatte der Hunger, der im vergangenen Winter über die Küste gekommen war, Raum für neue Siedlung geschaffen. Man wusste wenig und klammerte sich an alles, was geblieben war.
An einer Muschel schlürfend, beobachtete Aigonn den Bauern und Landeseigentümer, der gerade seine Rinder zwischen den Moorbirken zurückgelassen hatte. Seine Behausung war ein einfaches Langhaus, das Reetdach sturmgezeichnet und notdürftig mit schiefen Holzplanken geflickt. Sturmböen schienen in jüngster Vergangenheit seine Eingangstür aus dem Eisenschloss geschlagen und dabei eben dieses verbogen zu haben, sodass die Tür nur mit einem Holzriegel verschlossen gehalten wurde. Eben diesen hatten zwei junge Männer soeben beiseite geschoben und lehnten nun im Türeingang, einen dritten beobachtend, der offenbar in der Habe des Bauern kramte.
Unweit des Gehöftes saß der Fürst von Rethins Stamm auf dem Rahmen eines Karrens, ein Bein angelehnt, das andere auf dem Boden stehend, und unterhielt sich mit dem Boten einer anderen Gruppe Kimbern, die offenbar wie die andere Gesandtschaft Gleichgesinnter erwartet wurde, sich aber verspätet hatte.
„He!“, traute sich der ortsansässige Bauer währenddessen einen zögerlichen Einspruch an die drei jungen Krieger, die mittlerweile mit Bechern und Trinkhörnern eine Flüssigkeit – es sah aus wie Bier – aus einem Fass schöpften, das sie aus dem Bauernhaus herausgeschoben hatten. Der dritte war nach einem kurzen Schluck wieder im Schatten des Einganges verschwunden. Aufgeregtes Blöken im Inneren des Langhauses verriet, dass er sich vermutlich in den Stallungen zu schaffen machte, wo noch ein paar Schafe eingepfercht waren.
Der Bauer näherte sich dieser Szene nur langsam und unschlüssig. Wie gelähmt schien er abzuwägen, ob er geschehen lassen sollte, dass man sich an seinem Eigentum bediente. Aigonn quälte sich noch immer mit dem Dialekt der Einheimischen dieser Küstenländer, vermochte aber immerhin auszumachen, wie der Bauer einen der Krieger ansprach: „Was tut ihr da? Ich … ich kann euch Bier geben, aber bitte fragt mich zuvor, ihr …“
Bevor einer der Männer Antwort geben konnte, schob sich zwischen ihnen der Dritte ans Tageslicht. Ruppig zog er dabei ein Schaf an einem Strick hinter sich her, das angstvoll blökte und an seiner Fessel zerrte. Im Versuch, das sich wehrende Tier zu bändigen, stieß der Krieger gegen das Bierfass, das sogleich seinen goldenen Inhalt auf die Weide verschüttete. Dem Malheur schenkte der Mann jedoch keinen Blick, sondern zerrte das magere Vieh fluchend auf den Fürsten zu und schimpfte dabei: „Schluss jetzt, ich habe genug von dem ewigen Diskutieren!“
„Was soll das?“, rief der Bauer erschrocken. Der Fürst und seine Männer übergingen seinen Einspruch, als sei er gar nicht anwesend. Allmählich hatten auch die anderen Familien im Lager von ihrem Tagewerk aufgesehen und beobachteten erstaunt die Szene am Bauernhaus.
Zornesröte erhellte das Gesicht des Kriegers, der auf seinen Fürst zustapfte, das Schaf mit einem Tritt wie einen toten Gegenstand vor die Füße seines Anführers stolpern ließ und ihn plötzlich anbrüllte: „Wenn ihr euch nicht einigen könnt, dann fragen wir die Götter eben noch einmal. Irgendeinen Weg wird es geben! Ich werde hier nicht untätig hocken und den Regen abwarten, bis das schlechte Wetter uns noch einen Sommer zum Verweilen an dieser Küste zwingt. Das Land unserer Ahnen ist verflucht. Niemand, der hier bleibt, hat eine Zukunft. Die Götter haben es uns doch sogar durch den Mund des Sehers verkündet!“
Aigonn wurde bei diesem Ausruf eiskalt im Gemüt. Hatte er das gesagt? Was, bei allen Geistern seiner Ahnen, hatte der Fürst aus dem Gestammel während seiner Vision gesponnen? Auch Rethin hatte seine Muscheln niedergelegt und sich bereits von seinem Sitzplatz erhoben. Aigonn war dankbar darum. Die Gestalt des Kimbern schien einen unsichtbaren Schatten auf ihn zu werfen, in dem er sich verstecken wollte. „Bitte nicht“, flüsterte er zu den Göttern und schlug die Augen nieder.
Keinen Augenblick später forderte der Krieger jedoch: „Hier ist das Opfer für die Götter. Der Seher soll noch einmal den Weg erfragen. Wir werden …!“
„Wagt es nicht!“, fiel dem Krieger da der Bauer ins Wort. „Lasst die Finger von meinem Vieh. Das ist mein einziges Mutterschaf!“
„Schweig, alter Mann!“ Der Krieger wandte sich nur kurz und ruckartig dem Bauer zu, seinen Einspruch mit einer Geste wegwischend. Ihm bereits wieder den Rücken zudrehend, wollte er das Wort an den Fürsten richten. Da machte der alte Bauer plötzlich einen Satz nach vorn, rempelte den Krieger mit solcher Wucht gegen die Schulter, dass dieser stolperte und beinahe nach hinten umfiel. „Verschwindet!“, brüllte der Alte nun völlig außer sich. „Diebe seid ihr! Verfluchte Verräter an eurer Heimat!“ Der Bauer riss ein Messer aus seinem Gürtel, sprang dem Taumelnden hinterher und riss ihm das Seil, an das er das Schaf gebunden hatte, aus den Händen. „Verschwindet in die Fremde, wenn ihr das Geschenk eurer Ahnen nicht zu schätzen wisst! Die Götter mögen euch mit Unheil strafen, wenn ihr mir mein letztes Vieh raubt! Verräter, Ver-…“
Die Schmähung starb mit ihrer ersten Silbe. Der Laut blieb dem alten Mann in der Kehle stecken, erstarrte mit seinem ganzen Leib. Der Karren verdeckte Aigonn die Sicht auf das Geschehen, sodass er mit zitternden Knien aufstand. Dann erkannte er, dass aus dem Rücken des Bauern ein Langmesser ragte. Einer der Männer, in der Linken einen gefüllten Becher Bier, packte es am Griff und versetzte dem tödlich Verwundeten im selben Moment einen Tritt, der diesen nach vorne ins Gras umkippte.
Über dem gesamten Lager bereitete sich binnen Herzschlägen Grabesstille aus. Im ersten Moment schien der Fürst, vor dessen Angesicht sich die grausige Szene abgespielt hatte, nicht fassen zu können, was dieser seiner Krieger getan hatte. Auch der Viehdieb blickte einen Augenblick voll Verwunderung auf den mit dem Gesicht im Gras liegenden Körper, der noch immer im letzten Lebenshauch zuckte. Dann aber, als wäre nichts davon geschehen, packte er wieder das Schaf an seinem Seil, brachte das widerspenstige Tier mit einem Ruck ins Laufen und marschierte strikt damit auf Aigonn zu.
Dieser erwachte nur eine Sekunde später aus seiner Starre. Erschrocken machte er einen Schritt rückwärts, stieß gegen den Karren und geriet darüber aus dem Gleichgewicht, sodass er sich mit einer Hand an der Seitenwand abstützen musste. Gefangen zwischen Holzwand und dem drohend herbeieilenden Krieger blieb keine Zeit für einen erneuten Fluchtversuch. Der Mann, der mit den nächsten beiden Schritten bereits einen Lanzenstich von ihm entfernt stand, empfing ihn mit bebendem Atem. Eine Ader pochte am Hals des Kriegers, der nur wenig älter sein konnte als Rowilan. Dunkelblond, wie viele der Anwesenden in zerlumpten Kleidern. Nur das Schwert, das er in einer Scheide am Gürtel trug, verriet seinen Einfluss und vermutlich gehobenen Stand, mit dessen Autorität er Aigonn nun das verängstigte Tier entgegen schob, gleich danach sein Messer zückte und ihn anspuckte: „Los! Wir brauchen einen Weg! Eine Beschreibung! Los!“
Aigonn stand wie versteinert. Hilfesuchend huschte sein Blick zu Rethin, der jedoch unschlüssig umherschauend auf der Stelle verharrte. Die Götter mussten sich einen Scherz erlauben! Dem Kimber aber, der noch einen Schritt auf Aigonn zumachte, schien ganz und gar nicht nach Spaßen zumute. Die Hand des Bärenjägers zitterte in dem Moment, da er das Messer fasste, so sehr, dass er fürchtete, es fallen zu lassen. Mit Entsetzen in den Augen stand er damit vor dem Schaf, blickte noch einmal ungläubig zu dem Krieger herauf, der aber nur zischte: „Los doch, großer Seher!“
Er ruckte noch einmal am Strick des Schafes, das vor Angst aufblökte. Dann ging Aigonn vor dem Tier auf die Knie. Mit schreckensweiten Augen starrte es ihn an. Aigonn schien es, als bettele es um sein Leben. Aus dem Winkel seines sehenden Auges sah Aigonn einen Schatten vorbeihuschen. Hatte die Seele des Gemordeten endlich seinen Todeskampf überwunden? Schlachtengeruch schien plötzlich über dem Lager zu liegen, der unheilverkündende Hauch im Blut Dahinsiechender. Eine Gewissheit stieg plötzlich in Aigonn auf, die ihm jede Wärme aus den Händen nahm. Die Erinnerung an seine erste Vision huschte als Schleier durch seine Gedanken. Mit Blut würde der Weg dieser Fremden gezeichnet werden. Blut würde das Einzige sein, was sie ernteten.
„Nun mach schon!“, brüllte der Krieger. Aus dem Lager um sie herum war fast kein Laut zu hören, nicht mehr als ein Atmen. „Eine Schale!“, forderte Aigonn tonlos. Sein Mund schien wie ausgetrocknet. Ohne aufzublicken nahm er eine Tonschüssel entgegen, die ihm jemand – wahrscheinlich Rethin – gereicht hatte. Diese schob er unterhalb des Schafskopfes ins Gras. Dann packte er das Messer. Ein Schnitt. Das Tier schrie auf, vor Schreck, vor Schmerz. Blut spritzte über Aigonns Hände. Die Beine des Schafs zitterten, es sprang auf, um einen Schritt weiter ins Gras zu stolpern. Mit Schrecken jedoch bemerkte Aigonn, dass sein Schnitt nicht tödlich war. Langsam blutete das Leben aus dem Körper des Tieres, während dieses sich vor Schmerzen wand.
Aigonn wich die Kraft aus den Knien. Los doch! Bring es zu Ende! Bereite diesem Tier wenigstens ein würdiges Ende! Los!
„Ach, verflucht sollst du sein!“ Bevor Aigonn wusste, wie ihm geschah, riss der Krieger ihm das Messer aus der Hand. Ein schneller Schnitt, ein letztes Blöken, dann hing der schwere Geruch von Blut in der Luft. Der Krieger kniete neben dem ausblutenden Körper des Viehs und blickte abfällig zu dem jungen Seher hinüber, der gegen den Drang ankämpfen musste, nicht eine Portion Muscheln neben den Karren zu brechen. Verachtung lag in den Augen des Kimbern, als er Aigonn unnötigerweise noch einmal aufforderte: „Was ist nun? Was siehst du? Wohin leiten die Götter unseren Weg?“
Fast wäre Aigonn ein Lachen entkommen. Mit zittrigen Knien trat er an die blutgefüllte Schüssel heran, folgte in Gedanken den Schlieren des Blutes, die im Tageslicht schimmerte. Lugus … begann er im Geiste und glaubte, im selben Moment den Gott über sich lachen zu hören. Wieder huschte der Schatten durch den Rand seines Blickfeldes. Diesmal deutlicher, ein dunkler Geist, der sich an die Fersen des Viehdiebes zu heften schien. War er es, der flüsterte? Lagen dort Worte im Wind?
Ich verfluche euch …
Aigonn sah nichts. Keine Vision, keine Erinnerung, er starrte nur in das Blut, gelähmt vor Angst, von der Dunkelheit, die sich über dem Zug heimatloser Menschen ausbreitete. Er wünschte, er könnte ihnen sagen, dass ihr Schicksal schon besiegelt war, dass die Götter ihnen eine Zukunft ohne Glück, ohne Reichtum bescheren würden. Dass das Beste, was sie in der Ferne finden konnten, Hoffnung war. Aigonn aber wusste, diese Worte waren nicht, was der Fremde von ihm verlangte. Die Abschätzigkeit, die Kälte, mit der der Krieger zu ihm herabblickte, verstärkte seine Übelkeit. Niemand hier wollte die Wahrheit hören! Die Visionen waren nur ein Trugbild, eine Farce, um die Leichtgläubigen zu beeindrucken.
Es war absurd, wie diese Fremden mit den heiligen Gaben der Götter spielten. Aigonn aber las aus den Augen des Fremden, dass auch sein Leben in Gefahr geriete, wenn er in diesem Moment nicht sagte, was von ihm verlangt wurde. Daher begann er mit zitternder Stimme. „Die Götter zeigen eine gewundene Straße.“
„Wo?“, fiel ihm der Krieger sogleich ins Wort.
„Ich kann nur sehen, dass viele Menschen sie befahren …“
„Die Handelsstraße!“, brüllte der Kimber im gleichen Moment und sprang auf, als hätte Aigonn nur das Offensichtliche ausgesprochen. „Was siehst du noch?“, drängte er ihn darauf. „Welche Waren tragen die Händler bei sich? Ist es Bernstein?“
„Es könnte …“ Aigonn hätte loslachen wollen. Konnte nicht jeder hier sehen, dass er nachsprach, was dieser Kimber ihm in den Mund legte? Die fragenden Blicke zahlreicher Umstehender bestätigten ihm diese Vermutung. Doch zu seinem Entsetzen waren tatsächlich einige unter ihnen, die sogleich aufgeregt zu reden begannen, kaum da er ausgesprochen hatte. Hatten diese Menschen tatsächlich so viel Respekt vor den Dienern der Unsterblichen, dass sie gar nicht merkten, wie der Viehdieb die Visionen aussprach und nicht er selbst?
Der Krieger schien endlich genug gehört zu haben. Auf den Fürsten zueilend, der die ganze Szene stirnrunzelnd mit angesehen hatte, verkündete er: „Da hast du es! Wir müssen über die große Handelsstraße nach Süden! Die Bernsteinhändler, die von den Reichen im Süden erzählen, werden uns auch dahinführen! Du hast die Worte des Sehers gehört!“
Dem Fürsten entkam ein zynisches Lächeln. Mit einem Schatten in den Augen wandte er sich an Aigonn: „Ist das wirklich, was du gesehen hast?“
Der andere Krieger zuckte augenblicklich und wohl tatsächlich ungesehen in seine Richtung, sodass er direkt zusicherte: „Es könnte möglich sein, ich habe …“
Wie lachhaft all dies war! Eine Spielszene für das einfache Volk! Wer sollte das glauben? Einen Herzschlag später wurde Aigonn jedoch die Tragweite seiner Worte bewusst. Obgleich jeder der Anwesenden verstanden hatte, was hier vor sich ging, stellte niemand die Worte des Gottesdieners in Frage. Sie durften es gar nicht! Die Diener der Unsterblichen sprachen mit deren Stimme. Er hatte den Göttern ein Opfer gebracht, auch wenn er wahrscheinlich jeden nötigen Ritus dabei verletzt hatte. Da die Unsterblichen kein Zeichen gegeben hatten, dass sie das Opfer ablehnten, hatte er für sie gesprochen. Sein Wort war Gesetz geworden. Ein wahrer Götterdiener hätte sich diese Szene niemals bieten lassen. Sie halten mich für einen Anführer wie Rowilan. Sie wissen nicht, dass ich keiner bin …
Zu Aigonns Schrecken kam wenig später Bewegung ins Lager. Alle, die ihren Fürsten auffordernd anblickten, eilten los, als dieser verkündete: „Dann soll das Wort der Götter gelten! Schickt einen Boten zu unseren Freunden, wir treffen ihren Reisezug auf dem Weg zur Bernsteinstraße. Wir reisen ab!“
Alle Familien begannen ihre Habe zu packen. Es war schwer zu erahnen, ob Aigonns gespielte Vision oder das Unheil des Mordes, das plötzlich über dem Lager schwebte, sie zum Aufbruch anstachelte. Aigonn erwartete immer noch, dass irgendjemand den Krieger, der dem Bauern das Messer in den Rücken gerammt hatte, zur Rechenschaft ziehen würde. Der Sinn der Gerechtigkeit schien jedoch bereits von der Schuld gedrückt, nichtstuender Mitwisser zu sein. Aigonn wurde beklommen bei dem Gedanken, wie eng diese Menschen ihre Schicksale verknüpft hatten. Ihre Sippen verloren an Bedeutung. Das Land, das sie geformt hatte, würden sie zurücklassen. Ihr gemeinsamer Weg machte sie zu gemeinsamen Schuldigen.
Es war Rethin, der Aigonn sachte an der Schulter packte, um ihn zum Aufstehen zu bewegen. Für einen kurzen Moment schien er zu überlegen, das völlig mit Blut besudelte Schaf mit sich zu nehmen. Bevor er aber zulangen konnte, nahm ihm einer der Krieger die Entscheidung ab, indem er den Tierkadaver mit sich schleifte und auf sein Pferd hievte. Das gute Fleisch konnte nicht zurückgelassen werden!
„Komm!“, forderte Rethin den Seher leise auf, während er begann, die Kochstelle zusammen zu räumen. Das Lager machte sich mit einer solchen Geschwindigkeit zur Abreise bereit, dass die beiden Männer bald das Tempo ihrer Arbeit erhöhen mussten.
Sie hatten allerdings noch nicht den halben Karren beladen, als Aigonn hochschreckte: „Ich muss Tiuhild suchen! Sie hat kein Pferd dabei!“ Das Fellbündel, das Aigonn noch in den Händen hielt, ließ er nachlässig auf die Ladefläche des Wagens fallen und zerrte sogleich das bereits verpackte Zaumzeug aus Rethins Karren. Kaum, da er auf das nur mit einem einfachen Halfter gezäumte Pferd seines Gastgebers zueilte, packte ihn plötzlich jemand von hinten an der Schulter.
„Du bleibst hier!“, drohte eine Männerstimme, die Aigonn herumfahren ließ. Der Krieger, der ihm das Schafsopfer eingebrockt hatte, stand mit finsterer Miene hinter ihm. Diesem lag bereits ein Widerspruch auf den Lippen, wenig später aber, traten drei weitere Männer heran, um ihn zu umringen.
Sinnloserweise machte der Bärenjäger noch einen Schritt rückwärts, um einmal mehr gegen den Karren zu rempeln. Er startete einen letzten Versuch: „Meine Gefährtin hat heute Morgen das Lager zur Jagd verlassen. Sie wird uns verpassen, wenn wir abreisen. Ich muss sie suchen!“
„Sie wird uns schon finden“, knurrte der Krieger und im selben Moment traten er und seine Männer noch einen Schritt an Aigonn heran, sodass jeder Ausweg zwangsläufig eine Auseinandersetzung voraussetzte. Zwecklos wollte Aigonn dennoch zu einer weiteren Erwiderung ansetzen, als Rethin sich an ihm vorbeischob, das Zaumzeug nahm und ihm versicherte: „Ich suche sie. Mach dir keine Sorgen!“ Vorsichtig nickte er den vier Kriegern zu, als sichere er sich ab, nicht auch Opfer eines Angriffs zu werden. Dann wechselte er das Zaumzeug seines Pferdes und schwang sich auf den Rücken. Sein Abschied war ein letztes Nicken, bevor er dem Pferd die Hacken in die Seiten rammte und in den Moorwald davon galoppierte.
In jenem Moment, da Rethins Gestalt zwischen den Birken verschwand, fühlte Aigonn sich wie der einsamste Mensch auf dieser Welt. Er war allein mit diesen Narren, über deren Zukunft ein dunkler Schatten hing. Der Fluch des Ermordeten hing über der Weide, er folgte ihnen von ihrem Lagerplatz, heftete sich an die Karren, an die Ochsen, die man davor gespannt hatte. Die vier Krieger eskortierten Aigonn zu ihren Pferden, befahlen einem anderen Bauern, sich Rethins nun vorläufig herrenloser Habe anzunehmen. Dann wiesen sie ihm ein Pferd zu und nahmen den Seher in ihre Mitte, als sie losritten. Niemand wusste so gut wie Aigonn, dass er längst kein geduldeter Gast mehr, sondern nur ein weiteres Mal zum Werkzeug namenloser Machthaber geworden war.