Читать книгу Brictom - Wodans Götterlied. Von keltischer Götterdämmerung 3 - Astrid Rauner - Страница 8
ОглавлениеBlutige Saat
Der Winter war vorüber! Endlich hielten der Gott Belenus und sein Bruder Lugus die Sonnenscheibe lange genug am Himmel, dass sie dort dieselbe Zeit verbrachte, wie Dunkelheit über die Menschen herrschte. Die Tage wurden länger, die Aussaat des ersten Getreides stand an. Überall im Stammesgebiet der Eichenleute waren Bauern und ihre Familien mit den Schamanen an die Ränder der Felder gekommen. Sie opferten den Göttern, weihten die Mutter Erde, die große Göttin Tamfana, auf dass sie ihre Bitten in wenigen Monaten in eine gute Ernte verwandeln würde.
Das größte Fest wurde zu Fuße der Eichenfeste abgehalten. Die Auböden der Rur waren fruchtbar, standen jedoch durch den starken Regen des Winters zu großen Teilen unter Wasser. Lediglich die höchstgelegensten Felder unmittelbar vor den Wallanlagen der Siedlung standen für die Fruchtbarkeitsrituale zur Verfügung. Entsprechend dicht drängten sich dort die Bewohner der Siedlung. Kaum einer von ihnen wollte es sich nehmen lassen, mit ihren Schamanen den Frühling zu feiern, die Vereinigung von Erde und Korn, von Mutter Erde und dem Donnerer, der mit seinem Samen, dem Regen, Fruchtbarkeit schenkte, auf dass sie reiche Früchte tragen sollte.
Barnas, der Eichenfürst, hatte diesen Tag vielleicht mehr als alle anderen herbeigesehnt. In seinen etwas über dreißig Lebensjahren war ihm kein Winter so lang und dunkel erschienen wie der zurückliegende. Die Zukunft schien einen drohenden Schatten über die Welt gelegt zu haben, einer Decke gleich, die man sich erst über den Kopf und dann im Taumel des Schlafes nicht wieder hinunterziehen konnte. Der Frühling war wie eine Erlösung in ihre Länder gekommen. Es spielte gar keine Rolle, dass die Sonne nur für wenige Augenblicke hinter den Regenwolken hervor sah. Barnas wollte das Licht feiern, das Leben, den Neubeginn!
Im Sinnbild des Sonnenvaters Belenus hatte er nur für diesen Festtag seinen Streitwagen herrichten lassen. Dies war wirklich etwas Besonderes. Wie der Lichtgott mit seinem Wagen die Sonnenscheibe über den Himmel zog, wollte er auf seinem irdischen Gefährt den Prozessionszug anführen. Seine beiden Streitrösser, kleine, blonde, stämmige Tiere mit dunkler Mähne, hatte er über ein halbes Jahr nicht mehr vor den Streitwagen gespannt. Sie schienen eine Schlacht zu erwarten, derart unruhig und ungestüm tänzelten sie vor dem Wagen hin und her und brachten diesen in ein Tempo, das manchem Zuschauer den Atem stocken ließ. Barnas aber saugte den Moment ein und verwandelte ihn in pure Euphorie. Seinen Kriegern voraus war er aus der Eichenfeste gesprengt, fuhr nun parallel zu den Äckern vor der Menschenmenge vorüber, die sich dort versammelt hatte und glaubte, zum ersten Mal seit Monaten wieder völlig frei atmen zu können.
Der kleine Fürstensohn, Setillius, stand vor seinem Vater und ragte gerade mit dem Kopf über die Kante des Streitwagens hinweg. Barnas hielt den Zwölfjährigen halb im Arm, während er die Zügel lenkte, damit dieser nicht das Gleichgewicht verlor. Dies war seine erste Fahrt, die er mit großer Ehrfurcht begonnen hatte. Dem Jungen war das rasende Tempo anfangs gar nicht geheuer gewesen. Nun aber strahlte und lachte er und warf zur rechten Seite dann und wann eine Hand voll Münzen in die jubelnde Menge. Barnas hatte im vergangen Winter zum ersten Mal Münzen mit seinem eigenen Emblem gießen lassen. Schon lange hatte er neiderfüllt die kunstvoll verzierten Gold- und Silberstücke anderer Fürsten betrachtet, die ihm die Händler aus dem Süden als Zahlungsmittel anboten. Daher war es nun Zeit, Münzen mit seinem eigenen Gesicht unter das Volk zu bringen. Er besaß wahrlich genügend Reichtum, dass er die paar dutzend Bronzemünzen verschmerzen konnte. Sie waren immerhin nur ihr Gewicht an Edelmetall wert.
Fast bedauerte Barnas den Hornruf, der von der Ostseite des Feldes her die Menschen zusammenrief, denn er bedeutete das Ende seiner Fahrt. Zum Schluss sauste er noch einmal mit halsbrecherischer Geschwindigkeit an der sich ballenden Menge vorüber und brachte den Streitwagen so knapp vor seinem obersten Schamanen Hrebilus zum Stehen, dass er sich von diesem einen warnenden Blick einhandelte.
Hrebilus war in einen prächtigen Mantel aus Hirschfellen gehüllt. Von seinem langen, weißen Zeremonialgewand ragte kaum die kunstvoll mit verschlungenen Pflanzenmustern bestickte Borte hervor. Die ergrauenden Haare hatte er sich mit einem Stirnband aus Birkenrinde zusammengebunden. Neben ihm hielt sein Schüler ein vor Angst blökendes Schaf an einem Seil. Als der höchste Schamane die Hände zum Himmel erhob und die Augen schloss, erstarben um ihn herum alle Gespräche.
„Sonnenvater!“, rief er langsam und klar. „Du bist gestorben. Du bist wiedergeboren. Du bist gewachsen. Dein Licht hat über die Nacht triumphiert!“
Eine andere Schamanin schlug mit einem Schlegel zweimal auf eine lederumspannte Trommel.
„Erdenmutter! Du hast die Saat des vergangenen Jahres empfangen. Du hast uns mit reicher Ernte beschenkt. Du hast im Winter geruht. Du wurdest vom Frühling erweckt!“
Zwei Trommelschläge.
„IHR GROSSEN GÖTTER!“, schrie Hrebilus nun. „Ihr guten Geister dieses Landes. Im Winter habt ihr geruht, habt die Erde mit Regen genährt! Segnet nun unsere Saat! Lasst den Kreislauf von Neuem beginnen, auf dass aus eurem Samen Leben erwächst! Ihr großen Götter! Wir bringen euch dieses Opfer!“
Barnas beobachtete den Tod des Schafes wie im Rausch, sein dampfendes Blut, das die Erde nährte, Hrebilus, der einen Teil davon in einem Becher auffing, es erst über sein Gesicht strich, dann über eine Schale voll Korn tröpfelte, die man ihm hinhielt. Unter Jubel begann Hrebilus an der Seite der Schamanin nun das geweihte Korn in eine Saatreihe auszubringen. Der Schamanenschüler war währenddessen eifrig darum bemüht, das restliche Opferblut zu bewahren. Sämtliche Bauern nämlich drängten sich bereits um ihn, um ihre eigenen Töpfchen voll Saatgut weihen zu lassen. Zuhause würden sie es unter das restliche Korn mischen, damit der Segen der Götter jedes ihrer Felder erreichte.
Der Eichenfürst betrachtete diese ganze Szene wie im Traum. Er erwachte erst daraus, als sein Sohn ungeduldig von einem Fuß auf den anderen tänzelte, der vom Streitwagen aus durch seine geringe Größe nur wenig vom Opfer hatte mit ansehen können.
„Wir wollen feiern!“, eröffnete Barnas daher mit einem Ruf in die Menge. „Ein Festmahl ist in der großen Halle angerichtet! Lasst uns den Frühling begrüßen!“
Seiner Aufforderung folgten die Eichenleute mit Freuden. Wer keinen Sitzplatz in der langen Halle des Fürsten mehr fand, bediente sich an Essen und Bier, um das Gelage auf den Wegen der Siedlung abzuhalten. Barnas hatte ein wertvolles Tier, einen mächtigen Ochsen, schlachten lassen. Vielerseits hatte er damit zunächst Verwunderung geerntet. Die Tag-und- Nacht-Gleiche mochte ein wichtiges Fest sein. Die Sonnenwende aber, die immerhin die Wiedergeburt des Sonnenvaters bedeutete, hatte der Fürst nicht halb so prächtig ausrichten lassen. Gerüchte machten bereits die Runde, Barnas’ Frau sei nach vielen Jahren der Kinderlosigkeit endlich schwanger. Der Eichenfürst hatte nach dem Tod seiner ersten Gemahlin, die es in Setillius’ Kindbett dahingerafft hatte, nämlich keinen weiteren Nachwuchs in dieser Welt mehr willkommen heißen können.
Tatsächlich entsprach dies jedoch nicht der Wahrheit. Die Lust zum Feiern war Barnas aus einer inneren Erleichterung entsprungen. Die Schatten der Vergangenheit sollten endlich mit dem Winter verschwinden. Barnas war wohlhabend genug, auch einen solchen Anlass wie eine Hochzeit zu feiern. Darauf prostete er den Göttern gedanklich zu und leerte seinen Becher. Warmer, kräuterwürziger Honiggeschmack streichelte seine Kehle. Im Gegensatz zu vielen Anwesenden der Feier hatte ihn der Trunk jedoch nicht betrunken gemacht. Barnas stand seit einiger Zeit in Zwietracht mit seinem überempfindlichen Magen. Daher sparte er sich den Alkohol für eine spätere Stunde auf und ließ sich zum Essen ein Gebräu aus Honig und Kräutern servieren, das seiner Meinung nach noch viel besser schmeckte, als der vergorene Met.
Sein Sohn, der sich bisher zum Glück noch nicht groß am Alkohol probierte, fühlte sich geehrt, als einziger in der ganzen Halle aus dem Krug seines Vaters trinken zu dürfen. Er bediente sich daher reichlich an dem von ihm getauften „Fürstentrunk“, damit er auch mit jeder fröhlichen Gesprächsrunde einzeln auf seinen Vater, die Götter oder den schönen Tag anstoßen konnte. Es wurde Zeit, seinen Sohn zu bitten, mit dem kostbaren Getränk – das immerhin wie Met ebenfalls aus Honig bereitet war – etwas sparsamer zu sein. Denn vom letzten Krug, den eine Dienerin gerade erst herbeigebracht hatte, schenkte Barnas sich gerade den ersten Becher ein und leerte das Schankgefäß damit bereits.
Barnas lächelte versonnen. Endlich war der Winter vorüber und würde seine Schatten mit sich nehmen! Der einzige, der ihn nachdenklich stimmte, war Ildos, einer seiner engsten Freunde, der sich wenige Fuß vom Platz des Fürsten entfernt auf einer Bank niedergelassen hatte. Seit Beginn des Gelages rührte der junge Krieger kaum einen Brocken Essen an und starrte stattdessen nur finster in die Halle hinein. Er blickte auch nicht auf, als Barnas sich zu ihm gesellte, sondern fixierte nur misstrauisch einen nicht erkennbaren Punkt am anderen Ende der Halle.
Erst Barnas’ Nachfrage weckte ihn aus seiner Erstarrung. „Ich hatte eigentlich ein Freudenfest ausrichten wollen. Was bereitet dir solche Sorge, dass ich dich damit nicht aufheitern kann?“
„Ach, es …“, begann er zögerlich. „Lass uns das morgen besprechen. Du solltest dich heute an deinem Fest erfreuen, so lange wie du es vorbereitet hast.“
„Wenn es wichtig ist, können wir gern auf der Stelle darüber reden.“
„Nein, wirklich …“, winkte Ildos ab. „Seit dein Bruder Khomal tot ist und du der neue Fürst, sehe ich überall böse Geister und Verräter. Wahrscheinlich sollte ich selbst weniger auf meine düsteren Vermutungen hören!“
„Dann lass mich eine zweite Meinung bilden. Worum geht es?“
„Nun …“, versuchte Ildos sich abermals herauszuwinden. Sein Blick beobachtete noch immer irgendetwas oder irgendjemand auf der anderen Seite des Raumes, wo auch Setillius in einer Gruppe von Kriegern stand. Barnas versuchte seinem Blick zu folgen und setzte dabei den Becher an die Lippen.
„NEIN!“ Plötzlich wurde ihm das Trinkgefäß aus der Hand geschlagen. Klirrend zersprang der Tonbecher auf dem Boden, sodass der Honigtrank in alle Richtungen spritzte. Erschrocken schnellte sein Blick zu Ildos, der neben ihm aufgesprungen war, die Augen vor Entsetzen geweitet. „Er ist vergiftet!“, hauchte dieser, schien seinen eigenen Worten noch nicht trauen zu können. „Ich wusste es! Tegerix! TEGERIX!“, brüllte Ildos nun voller Zorn. Auf der anderen Hallenseite verstummten die Gespräche. Ein Krieger, der dort aufmerksam den Fürsten beobachtet hatte, erstarrte in der Bewegung, bis er sah, wie Ildos auf ihn zeigte: „Barnas! Ich dachte erst, ich täusche mich! Aber ich habe ihn gesehen! Er ist an deinem Krug gewesen und hat etwas hineingeträufelt! Er hat den Trank vergiftet!“
Kaum, da diese Worte ausgesprochen waren, brach Tumult los. Der angesprochene Krieger Tegerix stieß zwei der umstehenden Männer beiseite und ergriff blindlinks die Flucht. Ildos setzte ihm nach, schrie seinen Namen. Andere Männer versuchten den Flüchtenden festzuhalten, den ersten von ihnen streckte dieser jedoch mit einem Messerstich nieder. Barnas stand neben der Bank wie erstarrt, fasste die Szene noch immer nicht völlig, die sich vor ihm abspielte. Plötzlich zerriss der Schrei einer Frau den Lärm der Halle. Nicht irgendeiner, nein, das war seine Gemahlin! Hektisch blickte Barnas sich nach allen Seiten um, konnte sie nicht entdecken.
Da, endlich erkannte er, woher Ildos den Anhaltspunkt für den vergifteten Trank erhalten hatte und es gefror ihm das Blut in den Adern. „SETILLIUS!“ Barnas hörte sich schreien wie einen Fremden. Die schreckliche Gewissheit sickerte wie träge Sommerschwüle in seinen Geist, schien sein Gehör zu verschließen, bis er nichts mehr vernahm außer dem pochenden Blut darin. „Setillius!“ Wie von Sinnen rannte Barnas ans andere Ende der Halle. Ein Kind lag dort auf dem Boden in seinem Erbrochenen. Ein Krieger, der es scheinbar im Zusammenbrechen nicht richtig zu fassen bekommen hatte, hatte zunächst mit seinem Körper für Barnas die Sicht versperrt. Er konnte nicht schnell genug beiseite springen, sodass der Fürst ihn hart mit dem Ellbogen anstieß, um neben seinem röchelnden Sohn auf die Knie zu fallen.
„Nein! Ihr Götter, nein!“, flehte er, fasste den Jungen am Oberkörper. Dessen ganzer Körper wand sich in Krämpfen, während an der heraushängenden Zunge unter Husten wieder und wieder Galle hinablief. Die verdrehten Augen fassten keinen Fixpunkt mehr. Sein Atem ging immer schneller, tiefer, quälender. „Setillius!“, hauchte Barnas den Namen seines Sohnes. Die Gedanken in seinem Kopf kamen zu keinem Zusammenhang mehr. Irgendwo durch das Vakuum, das seinen Geist ausfüllte, hörte er, wie jemand nach einem Heiler brüllte. Doch Barnas wusste, dass es zu spät war. Keine Faser seines Körpers ließ diese Wahrheit in sein Bewusstsein. Tief in seinem Innersten aber wusste er es. Hilflos wollte er die Wange seines Sohnes mit der Hand umfassen, diese aber fand keinen Punkt ihn zu berühren, als würde er den Jungen damit bereits den Boten der Götter entreißen, die ihn in die Andere Welt zogen. Ganz langsam erstarb dessen Würgen zusammen mit dem immer flacher werdenden Atem. Dann erstarrte in seiner Brust das Herz.
Der Moment schien jede Regung in der Halle einzufrieren. Kein Wort fiel, niemand wagte, etwas zu tun. Der aufziehende Wind, der schon den ganzen Tag Gewitterwolken vor sich hergetrieben hatte, schien plötzlich mit der Stimme eines Gottes zwischen den Dachbalken zu heulen. Wie aus einer anderen Welt klangen daher die Schreie, die unablässig von außerhalb der Halle zu hören waren. Barnas erkannte Ildos, dessen Verfolgung scheinbar erfolgreich verlaufen war. Er wusste, dass er zu ihm gehen musste, dass der Mörder seines Sohnes gefasst war.
Mörder.
Barnas regte sich nicht. Er kniete einfach nur da, das Kind in den Händen. Der Fürst erwachte erst aus seiner Erstarrung, als ihm gegenüber seine Frau auf den Boden stürzte, sich in den Handrücken biss, um nicht aufzuschreien. Für einen Herzschlag blickte sie fassungslos auf den Leichnam, das tote Kind. Dann riss sie Barnas den leblosen Jungen aus den Händen, um ihn an ihre Brust zu pressen und schrie und weinte um ihren Stiefsohn, den sie wie ihr eigen Fleisch und Blut geliebt hatte. Barnas ließ sie gewähren. Ohne ein Wort stand er auf und wandte sich um. Die Menschenmenge vor ihm teilte sich wie eine Wasserwoge. An ihrem Ende erblickte Barnas seinen Freund Ildos, der wie ein Besessener auf den Mörder Tegerix einschlug und -trat. Diesem waren längst die Beine zusammengesackt. Zwei Männer umklammerten den Krieger jedoch an den Armen, damit sein Oberkörper weiterhin eine gute Zielscheibe bot.
„Warum?“, spie Ildos wieder und wieder aus. „Warum? Warum hast du das getan? Warum verrätst du uns? Ich habe meine Hand für dich ins Feuer gelegt, ich habe dich verteidigt …!“ Sein Tritt traf den Krieger am Unterkiefer, dass diesem ein Zahn über die Lippe kippte. Die Augen waren Tegerix längst zugeschwollen, doch verlor er ohnehin bereits die Besinnung. Barnas stand hinter Ildos und ließ ihn gewähren. Einen endlosen Moment beobachtete er, wie sein Freund allen Zorn an dem Krieger entließ, bis er ihn endlich am Oberkörper packte, um seinem Prügeln Einhalt zu gebieten. Barnas hatte gesehen, was er sehen musste. Sein Blick schien den Krieger zu durchdringen, als wäre er bereits der Geist eines Toten. Die naheliegende und doch unfassbare Wahrheit bahnte sich ihren Weg durch Barnas’ Geist.
Dieser Mann war kein Intrigant. Er war ein Handlanger. Ein Diener. Durch sein aufgerissenes Hemd hatte Barnas alles gesehen, was er sehen musste. Eine schwarze Tätowierung schimmerte dort in dunklen Bögen zwischen der blutverschmierten Kleidung hervor. Sein Auftraggeber war längst verraten. So offensichtlich war es und ergab doch keinen Sinn.
Daher stellte Barnas, der sich nun vor dem halb Bewusstlosen aufbaute, nicht die Frage nach dem „Wer“, sondern wiederholte nur, was Ildos dem Krieger schon dutzende Male entgegengeworfen hatte: „Warum?“
Um sie herum war es still. So still, dass Barnas es wie Donnerschläge hallen glaubte, als der Todgeweihte aushauchte: „Eure … Herrschaft … lästert die Götter, Barnas! Die Zeit … falschen … Blutes … ist vorüb…!“
Sein letztes Wort erstarb im Krampfen seines Körpers. Kein Schrei kam über seine Lippen. Nur sein Leib zitterte wie der eines schlecht erlegten Tieres, während Barnas langsam, ganz langsam die Messerklinge durch seine Bauchdecke stieß und nach oben zog, bis das Metall am Rippenbogen hängen blieb.
Über sein Gesicht kam keine Regung dabei. Die in ihm erstarrten Gefühle schienen sich am Himmel zu entladen, von wo plötzlich Donner grollte. Regentropfen fielen auf die Erde nieder, erst nur vereinzelt, dann schwollen sie an zu einem Prasseln, das den Boden aufschwemmte. Niemand sah durch den Regen, wie Barnas zu weinen begann.
Das Unwetter weichte die Wege auf. Die Pferde, die auf dem steilen Pfad nur allein, maximal zu zweit nebeneinander geritten werden konnten, gerieten auf der Suche nach Halt immer wieder ins Tänzeln. Ildos sog erschrocken die Luft ein, als Barnas’ Pferd einen gefährlichen Ausfallschritt machte. Dieser aber verzog keine Miene. Sein Gesicht war aus Stein, blickte nur nach vorn durch den Wald, wo sich bereits anhand niedriger Büsche eine Felskante abzeichnete. Sie waren am Ziel.
Unterhalb der Männer schmiegte sich zwischen meterhohe Felswände und das Rurufer eine Talbucht. Sie war gerade groß genug, um Platz für ein mächtiges Gehöft und zwei kleinere Häuser zu bieten, die von wenigen Viehweiden umgeben waren. Der Erdweg, der sie bis hier hergeführt hatte, war vor ihnen zum Teil künstlich verbreitert worden, sodass er der Felswand entlang den Hauptzugang zu dieser Siedlung darstellte. Ganz im Osten flachte der Felsen in den Wald hinein ab, sodass sich dort ein schmaler Trampelpfad gebildet hatte. Barnas zeigte darauf.
„Zehn Männer dort hin. Fünfzehn versperren am Ende des Zuges diesen Weg hier. Der Rest kommt mit mir.“
„Willst du morgen gleich die Versammlung Recht sprechen lassen?“
„Nein.“ Barnas starrte reglos ins Tal. „Es wird keine Verhandlung geben.“
„Aber …“
Der Fürst suchte den Blick seines Freundes. Aus Barnas’ eisernen Augen war nicht abzulesen, was dahinter entzündet worden war. Er konnte sehen, dass Ildos fürchtete, mit welchem Hass Barnas seine Rache nähren würde, ein vernichtendes Feuer, das er kaum mehr zurückhalten konnte.
„Ihr werdet mir keine Gefangenen bringen“, stellte der Fürst fest. „Dort unten gibt es keine Unschuldigen. Ihr werdet mir nur ihre Köpfe bringen, damit ich sie auf Pfählen die Straße entlang vor der Eichenfeste aufreihen kann.“
Bevor Einwände dazu fallen konnten, trat Barnas seinem Pferd die Hacken in die Seiten, sodass es den steilen Pfad ins Tal hinabtänzelte. Der Anblick der sich schnell verteilenden Reiter ließ die Männer und Frauen, die draußen ebenfalls wohl gerade feierlich einen Acker bestellt hatten, von ihrem Tagewerk aufsehen. Krieger traten fragend und mit der Vorsicht drohenden Unheils nur langsam an die Ankömmlinge heran. Der erste von ihnen schien die Gefahr bereits erkannt zu haben. Zu schnell machte er einen Satz in Richtung einer der Pferdeweiden, wollte über das Gatter klettern, da bohrte sich ihm schon ein geworfener Speer in den Rücken. Der darauffolgende Aufschrei einiger Umstehender ließ schließlich den Ältesten der Siedlung aus seiner Wohnstatt, dem großen Haupthaus des Gehöftes, herauseilen. Ihn hatte Barnas erwartet.
Barnas hasste sich dafür. Er hasste sich für die Offensichtlichkeit der Situation, die vor ihm lag. Wie naheliegend die Identität dieses Verräters war, auch wenn seine Motive für ihn noch immer im Dunkeln lagen! Die sonderbaren Geschehnisse der Sonnenwendnacht waren auch zu ihm durchgedrungen. Nachdem Rowilan unerwartet in jener Winternacht auf der Suche nach einem verschwundenen Jungen Barnas’ Männern in die Hände gefallen war, hatte es den Fürsten sehr misstrauisch gestimmt zu erfahren, dass eben der Bärenfürst in Begleitung jener sonderbaren, wiederauferstandenen Frau den Schamanen Germos verstümmelt hatte. Man habe den ehrwürdigen Götterdiener in der Sonnenwendnacht überfallen, hatte es geheißen. Barnas hatte keine Sekunde geglaubt, dass Rowilan wie ein Strauchdieb in der heiligsten Nacht des Jahres Jagd auf einen Eichenschamanen gemacht haben sollte. Misstrauisch war der Fürst der Eichenleute schon lange gewesen, spätestens seit Germos im vergangenen Jahr zur Fürstenwahl der Bärenjäger gereist war.
Heute wollte Barnas sich geißeln, jeden seiner Finger einzeln abschneiden dafür, dass er Germos nach einem wenig sagenden Gespräch zu Jahresbeginn in seine Siedlung hatte zurückkehren lassen. Schon damals hatte der Fürst befürchtet, man habe ihn belogen. Heute wusste er es. Heute war es zu spät.
Der alte Schamane Germos machte sich diesmal nicht die Mühe, ein falsches Spiel zu beginnen. Er trug noch sein helles Festtagsgewand, mit dem er vermutlich die Rituale begangen hatte. Den Stummel der Hand, die diese Wiedergängerin ihm angeblich abgeschlagen hatte, hielt er in ein rotes Tuch gewickelt. Barnas suchte den Blick seiner halbblinden Augen und er ließ nicht mehr von ihm, während er aus dem Sattel seines Pferdes rutschte. Die verschlungenen Tätowierungen im Gesicht des Schamanen schienen dieses zum Verschwimmen zu bringen. Es waren die gleichen wie jene, die Setillius’ Mörder auf der Brust getragen hatte.
„Kommst du, um mich einem Richter vorzuführen?“, ließ Germos mit seiner Begrüßung die nutzlose Deckung fallen. Er wartete, bis Barnas mit steinernem Gesicht zu ihm vorgetreten war.
„Es wird keine Verhandlung geben“, wiederholte dieser seine Worte. „Ich werde dich töten, Germos“, flüsterte er. „Das weißt du. Und ich werde dafür sorgen, dass deine verworrenen Pläne, die dich dazu gebracht haben, mein Kind zu ermorden, zuvor allen zuteil werden.“
Durch Germos’ Gesicht zuckte ein Lächeln. „Ein Jammer, dass es nur den Jungen getroffen hat!“
Barnas’ Hand schnellte vor an Germos’ Kehle. Der alte Schamane stolperte einen Schritt rückwärts. Die junge Frau, die reglos an seiner Seite ausgeharrt hatte, wollte ihm zur Hilfe springen. Im gleichen Moment aber zuckte einer von Barnas’ Kriegern mit dem Schwert in ihre Richtung und ließ sie in der Bewegung erstarren.
„Du hast uns verraten“, presste Barnas hervor. Der Zorn ließ ihn Germos beinahe die Kehle zerdrücken. Er wollte diesen Mann leiden sehen. Er wollte sehen, wie die Krähen seine Augen aus den Höhlen pickten, nachdem er seinen alten, verbrauchten Körper geschlachtet hatte. Dieser Mann war ein Feigling, ein Verräter. Jeden anderen Mann hätte ein gnädigerer Tod erwartet, hätte er nur versucht, Barnas nach dem Leben zu trachten. Dieser Mann aber hatte seinen Sohn getötet. Sein eigenes Kind war vergiftet worden von diesem Bastard. Und er würde leiden dafür!
Seine Worte waren kaum zu vernehmen, als Germos röchelte und Barnas seinen Griff ein wenig lockerte: „Dein Blut ist vergiftet. Deine Herrschaft lästert die Götter.“
„Du redest irr, alter Mann!“, spuckte der Fürst aus. „Khomal und ich sind die Söhne einer der ältesten und mächtigsten Sippen unseres Stammes. Meinem Erben war es bestimmt, die Ahnreihe fortzusetzen …“
„Wer …“, krächzte Germos. „Wer hat deinen Vater denn zum Fürsten eurer Sippe gemacht? Die Götter waren es nicht! Ihr seid die Günstlinge dieses wahnsinnigen Fremdlings, den ihr Moorsänger nanntet. Seine Existenz war verflucht, als er diese Länder betreten hat, und alles, was er getan hat, war es nach ihm. Er hat sich des wahren Fürstenerben entledigt und deinem Vater an seiner Stelle zur Macht verholfen. Die Götter haben eure Herrschaft niemals gewollt und deswegen wirst du …“
Das wenige Licht, das in Germos’ Augen verblieben war, erstarb schnell. Viel zu schnell. Barnas wusste nicht, wer seine Hände führte, wann er den Dolch, den goldenen Fürstendolch, der niemals mit Blut befleckt werden durfte, durch Germos’ Hals stieß. Er schrie auf darüber, dass seine eigene Raserei ihm die Befriedigung der langsamen Rache genommen hatte. Die Worte aber, die er danach an seine Männer richtete, sprach er ins Nichts, leise, Gebet seines Zorns:
„Ich will nur ihre Köpfe.“