Читать книгу Brictom - Wodans Götterlied. Von keltischer Götterdämmerung 3 - Astrid Rauner - Страница 12

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Rabenfedern

„Bist du endlich hier fertig?“ Der Krieger stützte sich müde auf seine Lanze und zog Rotz in der Nase hoch. Sein scharfer Ton beeindruckte die kleine Frau, die neben ihm im Schatten einer Hauswand kauerte, nicht. Reglos beobachtete sie die Szenerie, Rowilan, der die fremden Reiter begrüßte. Kein einziges Gesicht war für sie mit einer Erinnerung verbunden, weder aus diesem kurzen noch aus ihrem blassen früheren Leben. Die Falten auf ihrer Stirn vertieften sich. Scheinbar würde die Waffenruhe tatsächlich bald ein Ende nehmen, wenn Rowilan Unterstützung anderer Stämme erhielt. Das war gut. Dann würde er ihr nicht im Weg stehen.

„Weib!“, ging der Krieger sie abermals an, „der Regen wird nicht wärmer und der Wind nicht lauer, je länger wir stehen. Du kommst jetzt mit ans Feuer!“

Haelinon hob langsam den Blick. Sie beobachtete immer wieder mit schwacher Befriedigung, wie der arme Kerl, den man als ihre Wache abgestellt hatte, versuchte, nicht vor ihr zurückzuschrecken. Aufpassen sollte er auf sie, verhindern, dass sie etwas tat oder ausprobierte, das Rowilan zu Schaden sein konnte. Doch ebenso gut wie der Bärenfürst, wusste auch der Krieger, dass er ihr wenig entgegenzusetzen hatte, wenn Haelinon sich ihm tatsächlich als Gegnerin im Kampf entgegenstellen würde.

Jeder im Dorf hatte mittlerweile ihre Geschichte erfahren. Niemand hatte noch Zweifel daran, dass anstelle des Mädchens Lhenia der Geist einer Schamanin im Körper der toten jungen Frau wiedererwacht war. Damals, vor beinahe einem Jahr, in dem die Sagen der Alten wahr erschienen waren und ihr Schicksal ebenso unheilbringend.

Dennoch war Haelinon noch immer eine Gefangene in Rowilans Siedlung. Warum, das fragte sich wohl ihr unglücklicher Wächter am meisten. Man sagte ihr Fähigkeiten nach, von welchen selbst Haelinon nicht wusste, ob sie diese jemals besessen hatte. Je älter aber der Winter geworden war und je mehr der Frühling das Land mit seinem Regen überschwemmt hatte, desto mehr fühlte sie dieses ruhende Pulsieren in ihrem Inneren. Wie das Echo aus ihrem alten Leben erwachte in ihr, was sie für eine kurze Zeit verloren geglaubt hatte. Ermordet worden war sie, vor über zwanzig Jahren. Dieser Tage aber, da Rowilan verzweifelt versuchte, sich auf den drohenden Krieg mit Fewiros vorzubereiten, fühlte die alte Schamanin sich lebendig wie nie.

Daher blinzelte sie einmal, ganz langsam, und offenbarte dem Krieger: „Wir werden an den See gehen.“

„Ich hab gesagt, wir waren lang genug hier draußen“, spuckte der Mann in seinen krausen Bart. „Du tust gefälligst, was ich dir sage, oder Herr Rowilan wird sich deiner persönlich annehmen!“

Haelinon grinste ob seiner schwachen Drohung. „Gewiss wird er das. Aber willst du wirklich erfahren, was vorher mit dir passiert, damit er eingreift?“ Die Erwiderung blieb dem Krieger in der Kehle stecken. Erst Haelinons triumphierendes Augenbrauenzucken brachte ihn zu einer letzten, gestammelten Verwünschung: „Er wird Aehrel persönlich aufschlitzen, wenn du den Aufstand versuchst.“

„Und der Tag, an dem mein Sohn stirbt, wird für dich schlimmer als jeder Alptraum werden.“ Weitere Argumente brauchte es für Haelinon nicht. Kommentarlos folgte der Krieger ihr, nachdem sie sich aus dem Schlamm der Siedlung erhoben hatte, und folgte ihr zum Tor, an dem er für sich und seine Begleitung Durchlass verlangte. Eine scharfe Windböe begrüßte sie in den Auen vor der Siedlung und klärte Haelinons Geist.

Aehrel war der einzige Grund, warum sie Rowilans Spiel noch immer mitspielte. Ihr Sohn war die am besten gehütete Beute, die der Bärenfürst in seiner Siedlung vorzuweisen hatte. Seit dem Winter in einem Tierstall weggesperrt, erblickte er kaum mehr das Tageslicht, ertrug sein Schicksal jedoch in ruhendem Schweigen.

Allmählich rannte ihnen die Zeit davon! Haelinon wusste nicht mehr, wie lange sie dieses Abwarten und Ausharren ertragen konnte! Irgendwo in diesem Land lag ein Schatz von unermesslichem Wert verborgen, gestohlen aus dem Versteck ihres Vaters, ein Geheimnis, das dieser unter großen Opfern aus Skandia mit sich gebracht hatte, und das zu kostbar war, um in die Hände eines Uneingeweihten zu fallen. Oder eines Narren wie Rowilan.

Zornig beschleunigten sich Haelinons Schritte bei diesem Gedanken. Rowilan! Der Schamane hatte keine Vorstellung, welcher Mächte sich der Moorsänger, der große nordische Seher, bedient hatte. Womöglich war er der einzige Mensch ihres Zeitalters gewesen, den die Götter mit einer Sehersowie Schamanengabe beschenkt hatten. Niemand hatte wie er die Welt der Götter und Geister durchstreifen und zur gleichen Zeit nach seinem eigenen Willen verändern können. Der Moorsänger hatte den Göttern nähergestanden als den Menschen. Kein Stamm würde je wieder angeführt werden von einem Fürsten dieser Größe und Macht!

Die Gewissheit, dass heute noch immer jene Feinde lebten, die seine mächtige Linie zu zerstören versucht hatten, die Haelinon und womöglich auch ihre Brüder ermordet hatten, schürte in Haelinons Innerstem eine Flamme, die sie zu verbrennen drohte. Wie sehr, das sah sie daran, als vor ihr die unbewegte Wasserfläche der überschwemmten Wiese, über die sie liefen, plötzlich Ringe aus Wellen zog. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie den beklommenen Blick des Kriegers, der ihr noch immer folgte und sich einmal mehr an einen anderen Ort zu wünschen schien.

Gut war es, dass man sich vor ihr fürchtete. Gut war es, dass die Menschen nicht wagten, Hand an sie zu legen. Sie hatten genügend Gründe dazu. Haelinon hoffte, ihnen dies bald beweisen zu können.

Zunächst aber liefen sie ein kurzes Stück durch das überschwemmte Flusstal der Rur. Kniehoch stand das Wasser in den Wiesen, aus welchen nur dann und wann Sträucher oder die Spitzen von Binsen hervorsahen. Die alte Siedlung der Bärenjäger harrte mit ihren verkohlten Palisaden wie ein verwundeter Krieger auf ihrer flachen Anhöhe unterhalb des Berghanges zur neuen Festung. Außer den Raben lebte dort niemand mehr.

Einer der schwarzen Vögel begleitete Haelinon auf ihrem kurzen Weg den Waldrand entlang zur Totenaue. Die Stille der Grabhügel kühlte ihr Gemüt. Es tat nicht wohl, im Zorn die Heimstätten der Toten zu betreten. Würden diese doch von solch starken Gefühlen aufgeschreckt werden, sobald sie sie erspürten. Graue Schatten streiften zwischen den Grabhügeln umher. Haelinons Wächter schlug ein schutzbringendes Zeichen in die Luft. Wie jeder Mensch spürte er die Geister der Toten nur, war jedoch nicht im Stande sie zu sehen.

Haelinons Schritt verlangsamte sich merklich, während sie sich dem Ufer des kleinen Sees am Rand der Totenaue näherte. Das Hochwasser der Rur hatte auch dieses Gewässer ansteigen lassen. Die Kälte, als sie bis zu den Knien in das Wasser schritt, stach ihr nadelgleich in die Beine. Sie mischte sich mit der dumpfen, beklemmenden Empfindung von Vertrautheit. Jedes Mal, wenn Haelinon hier her kam, schauerte sie erneut bei dem Gedanken, was hier, an diesem Ufer, vergessen worden war. Sie wollte hineinstürzen in das Wasser und jene Stelle suchen, an der all die Antworten auf ihre Fragen vergraben lagen. Aber genauso gut wusste sie, dass die Welt der Menschen in diesem See endete. Hier war kein Platz für sie. Zumindest solange das Wasser hoch stand und der Sog der Anderen Welt sich als feines Pulsieren bis an die Ufer ausbreitete.

„Ihr kennt sie doch, die Totenaue, den See, an dessen Ufern die Bärenjäger ihre Toten begraben. Wer hätte Euch dort auch finden sollen, an jenem Ort, den das Wasser nur im Sommer freigibt.“

Diese, Germos’ Worte ließen sie frieren. Ein eisiger Schauer durchfuhr ihren Körper. Dieser Ort war ihr Grab. Hier hatte Germos, dieser alte Schamane aus den Reihen der Eichenleute, ihre Leiche vor über zwanzig Jahren verscharrt. Was würde sie finden, wenn sie sich im Sommer durch die Erde graben würde? Bleiche Knochen? Reste ihrer Kleidung?

Antworten. Haelinon konnte sie fühlen, unzählige Erinnerungen, Gedanken, aus einem anderen Leben, ihrem Leben, all das, was sie einmal gewesen war. Es lag hier verscharrt, tastete nach ihr wie ein hinfortgerissener Teil ihrer Selbst, den sie spürte wie eine zweite Seele, aber doch nicht fassen konnte. Was hatte sie alles vergessen, das womöglich noch hier in diesem Boden lag? Wie viel stärker würde sie sein, wenn sie all das zurückgewonnen hatte?

Wie als wollte er ihr einen Hinweis geben, stieß der Rabe über Haelinon in der Luft einen Schrei aus. Der Vogel zog einen Kreis über dem See, bevor er sich auf einem abgebrochenen Baumstamm niederließ, der einsam aus dem Hochwasser hervorsah.

„Welche Nachricht hast du für mich, Götterbote?“, flüsterte die Schamanin. Die Raben waren die Vögel der Schlachtengöttin und die Boten des Totenreiches. Auch Lugus-Esus hatte sie sich als Begleiter erwählt. Einen Moment saß er nur da, dann breitete er die Flügel aus, kam auf Haelinon zugeflogen. Ohne darüber nachzudenken streckte die junge Frau die Hand aus, auf welcher der Rabe sogleich landete und leise krächzte.

„Herrin der Schlachten, welche Nachricht schickst du mir?“

Keine Antwort. Die Geister in ihrem Rücken schienen für einen Herzschlag aufzusehen. Einer sogar lief ein paar wenige Schritte in ihre Richtung. Kein Gott aber, kein Wesen, das nicht an diesem Ort lebte, trat an sie heran oder sprach zu ihr.

Plötzlich ertönte über der Totenaue ein leiser Pfiff. Haelinon fuhr herum, während sich im gleichen Augenblick der Rabe von ihrer Hand erhob und dem Waldrand entgegen flatterte. Dort, zwischen den Bäumen, machte die Schamanin auf einmal einen Schatten aus. Die Silhouette eines Menschen war zwischen den Sträuchern zu sehen, kein Geist. Auch ihr Wachposten hatte die Fremde bemerkt. Für einen Herzschlag zeigte sich das Gesicht einer jungen Frau.

„HEY!“, brüllte der Krieger und machte einen Satz vorwärts. „WER IST DA?“

Die junge Frau blieb noch einen Herzschlag lang. Ihr Blick kreuzte den Haelinons. Es war ein Gruß und zur gleichen Zeit ein Versprechen. Dann war sie im Dickicht des Waldes verschwunden.

Haelinon rührte sich nicht. Was war dies gewesen? Wollten die Götter ihr ein Zeichen schicken? Vor ihr auf dem Wasser trieb eine Rabenfeder.


Rowilan hatte Aehrel in einer Stallung untergebracht. Im vergangenen Sommer war das Gebäude nicht mehr fertiggestellt worden, maß kaum zehn auf zwanzig Schritt in Länge und Breite und durch den Giebel tropfte der Regen. Aehrel hatte man eine Handschelle angelegt. Die lange Kette, welche diese mit der lehmverputzten Wand verband, erlaubte ihm genügend Bewegungsfreiheit, um in dem kleinen Raum auf und ab zu laufen oder ein Feuer zu machen. Ein Fluchtversuch würde jedoch voraussetzen, dass er die Verankerung aus dem Eichenbalken riss.

Haelinon war es freigestellt, Aehrel zu sehen, wann immer sie wollte. Ihre Wache befahl, die Stalltür offen zu lassen, damit er unter das Vordach eines benachbarten Hauses flüchten konnte, um dort bei einem Bekannten um einen Becher Tee zu bitten. Die finsteren Blicke des Kriegers folgten der jungen Frau in den Raum, in dem ihr Sohn mit geschlossenen Augen auf dem Boden saß, den Kopf gegen die Wand gelehnt. Haelinon wusste, dass Aehrel nicht schlief. Jedoch auch, als sie sich ihm gegenüber am Herdfeuer niederließ, öffnete er die Augen nicht.

„Wie geht es dir?“, durchbrach sie die Stille des Raumes. Aehrel antwortete ihr nicht. Das tat er nie bei dieser Frage. Im schalen Licht der Stallung wirkte der Mann unendlich gealtert. Die Schatten in seinen Zügen waren tief geworden. Wie viel Zeit würde ihm in der Welt der Lebenden noch bleiben? Wie viele Jahre? Oder Monate? Darüber nachzudenken versetzte Haelinon einen Stich. Nicht, weil sie Mitleid oder Zorn über den Zustand ihres Sohnes empfand, sondern weil sie wusste, dass sein Schicksal sie mehr berühren sollte. Musste eine Mutter sich nicht um ihr Kind sorgen? Erst recht um dieses, das sein Leben verwirkt hatte, nur um sie nach ihrem Tod zu sich zu rufen?

Der Mann, der vor ihr im Raum saß, war ein Fremder. Obwohl viele Erinnerungen aus ihrem alten Leben zurückgekommen waren, drehte sich keine um ihn. Vielleicht ein blasser Schatten, traumgleich, der Gedankenfetzen einer Geburt. Sonst nichts. Sie schmerzte die Gewissheit, dass Aehrels Tod Reue in ihr auslösen würde, aber keinen Kummer. In manchem dunklen Moment hatte sie sich gefragt, was geschehen würde, wenn sie ihn einfach Rowilans Richterspruch überließ und ihrer eigenen Wege ging. Dieser Tage aber war der alte Mann, der vor ihr im Schatten der Wand lehnte, ihr einziger Verbündeter. Deshalb musste er leben.

Aehrel hielt die Augen noch immer geschlossen, als er Haelinon fragte: „Gab es diesmal Antworten für dich am See?“

„Jemand war dort. Eine Frau.“

Aehrel schlug die Augen auf. „Hat sie mit dir gesprochen?“

„Nein. Aber ein Rabe ist ihr gefolgt. Ich glaube, sie wollte mir eine Botschaft überbringen.“

„Ein Rabe?“ Auf einmal schien Aehrel hellwach. „Ein zahmer Rabe?“

Haelinon verengte die Augen. „Willst du mir sagen, du weißt, wer das gewesen sein könnte?“

Ihr Sohn lehnte sich vor. Der Feuerschein malte dunkle Schatten in sein Gesicht und legte ein gespenstisches Glänzen in seine Augen. „Sie war klein und rothaarig? So wie du? Eine junge Frau?“

„Ja?“

„Dann ist sie zurück!“ Aehrel lachte verwundert auf. „Lhofa ist wieder zurück.“

Nun drehte Haelinon den Kopf schief, als sie nachhakte: „Du willst sagen, du kennst sie?“

„Ich habe nach ihr geschickt“, antwortete Aehrel wie selbstverständlich. „Als das letzte Mal Händler hier waren, stand einer draußen vorm Stall. Ich habe ihren Namen fallen hören. Sie reist viel. Er hat meine Nachricht wirklich überbracht!“

In Haelinon keimte Hoffnung auf. Auch wenn es sie verstörte, dass Aehrel ihr nichts von dieser Nachricht an jene sonderbare Frau verraten hatte. „Wer ist diese Lhofa?“

Nun lächelte der alte Mann geheimnisvoll. „Sie kann sehen, Haelinon.“

Für einen Herzschlag entglitten Haelinon die Züge. Eine Seherin. Eine Frau, die aus den Erinnerungen in der Höhle lesen kann, wohin die Reliquie meines Vaters verschwunden ist. Die Euphorie über diese Erkenntnis mischte sich mit Verwunderung. „Was soll das?“, tastete sie sich an ihren Sohn heran. „Du hast mir nie von ihr erzählt. Wer ist sie? Warum kommt sie dir zu Hilfe, wenn du nach ihr schickst?“

Das Misstrauen seiner Mutter brachte Aehrel zum Lachen, doch es blieb leise und Missfallen lag darin. Nachdem er Haelinons Blick gefangen hatte, maßen sich beide für einen Herzschlag, bis der alte Mann die Augen niederschlug und sich vom Feuer zurück an die Stallwand sinken ließ. „Weil sie mir etwas schuldet. Sie hat mir geschworen, sie würde mir das Erbe geben können, das du mir vorenthalten hast.“

„Wie könnte sie?“, fragte die Schamanin scharf und verstand durch das Knistern in der Feuerstelle kaum Aehrels Murmeln: „Alregards Sehergabe. Lhofa kennt die Rituale der Alten, die Zeremonien aus jener Zeit, als die Götter unseren Leuten die Sehergabe noch nicht weggenommen hatten. Sie weiß, wie man das Sehen lernt, durch die Augen der Toten in das Licht des Himmelsherren zu blicken und zu erfahren, was sonst nur den Unsterblichen vorbehalten ist.“

Aehrels Worte glitten wie ein Regenschauer über Haelinon hinweg. Sie weckten Erinnerungen aus älteren Tagen. Ja, es hatte eine Zeit gegeben, da sie von diesen Ritualen gehört hatte. Niemand kannte heute mehr ihr Geheimnis. Denn den Stämmen waren keine Seher mehr geboren worden, die sie hätten durchführen können. Bis vor wenigen Jahren, als erst Derona und dann Aigonn die verlorene Gabe in ihre Reihen zurückgebracht hatten. Was Aehrel zu berichten hatte, schien schier unglaublich. Haelinon versuchte sich zu ermahnen, dass alles, was solche Faszination in sich trug, ihr Misstrauen wecken sollte. Ihre Miene verdunkelte sich. Welche Geheimnisse verbarg ihr Sohn sonst noch vor ihr?

Dieser schien nicht zu erahnen, was sich im Kopf seiner Mutter abspielte. Stattdessen hing er noch immer seinen Erinnerungen nach, die tiefe Falten in seine Stirn zeichneten. Gute schienen es keine gewesen zu sein. „Lhofa hat es nicht geschafft, mich das Sehen zu lehren. Seitdem ist bewiesen, dass du mir keine, wirklich keine der Fähigkeiten deines Vaters geschenkt hast.“

Haelinon erwiderte zynisch: „Wenn ich Einfluss auf das Schicksal hätte nehmen können, würde ich mich dafür entschuldigen.“

„Sie wird uns helfen. Lhofa hat mich damals gelehrt, was ich tun muss, um anderen den Weg zu den Göttern zu zeigen. Sie war fest davon überzeugt, dass Derona stärker sein würde.“ Leiser Spott klang in seiner Stimme durch. „Nachdem das Kind sich vom Felsen gestürzt hat, wollte Lhofa mir nicht mehr helfen.“

Schweigend lauschte Haelinon den Worten ihres Sohnes. Sie riefen einen leichten Schauer auf ihre Arme. Wie er davon sprach, das Leben einer jungen Frau verwirkt zu haben, seiner eigenen Nichte Derona. Für einen Herzschlag war es Abscheu, den Haelinon für Aehrel empfand. Abscheu für seine Kaltblütigkeit und das Unverständnis, das er jenen heiligen Riten seiner Vorfahren entgegenbrachte. Diese Regung schob sie jedoch schnell beiseite.

Obwohl die Nachricht, eine scheinbare Verbündete dort draußen in den Wäldern zu haben, eine gute war, schöpfte Haelinon noch keine Hoffnung daraus. Was Aehrel erzählte, gefiel ihr nicht. Es klang riskant. Zu riskant. „Wer ist diese Frau?“, formulierte sie noch einmal ihre Frage um und ließ Aehrel damit die Lippen zusammenziehen.

„Eine Freundin. Genügt dir das nicht?“

„Nein.“

„Dann wirst du mir wohl vertrauen müssen. Meine Geduld neigt sich ihrem Ende zu“, knurrte er leise und ruckte dabei an seiner Handfessel. „Lhofa kann dir helfen, diesen Schatz zu finden, den dein Vater aus dem Norden gebracht hat. Was immer er dir bringen wird. Und dann verlassen wir endlich diesen unglückseligen Ort. Dieses verfluchte Rurtal!“

Haelinon lächelte zweifelnd. „Deine Freundin scheint sehr mächtig zu sein, wenn sie uns beide lebend aus dieser Festung bringen möchte. Rowilan wird dem einiges entgegen zu setzen haben.“

„ROWILAN FÜHRT KRIEG!“, fuhr Aehrel sie plötzlich an, so laut, dass der Wachposten unter dem Vordach des anderen Hauses aufblickte. Sogleich mäßigte der alte Krieger seinen Ton, die Drohung aber, die auf einmal in seiner Stimme lag, behagte Haelinon überhaupt nicht. „Sag mir“, zischte er ihr über das Feuer zu, „stimmt es, was die Menschen über dich sagen? Oder sind es Lügen, wenn sie erzählen, dass nach dem Tod des Moorsängers kein lebender Schamane so mächtig gewesen ist wie du?“

Haelinons Schultern spannten sich. Der Ton, mit dem Aehrel sprach, gefiel ihr gar nicht. Vorsichtig antwortete sie ihm: „Womöglich.“

Ihr Sohn nickte gleich, als wisse er es besser. „So ist es. Deshalb tötest du Rowilan, wenn es an der Zeit ist.“

Brictom - Wodans Götterlied. Von keltischer Götterdämmerung 3

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