Читать книгу Brictom - Wodans Götterlied. Von keltischer Götterdämmerung 3 - Astrid Rauner - Страница 9

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Die Fährte

Der Frühling hatte Hoffnung versprochen. Und er brachte den Regen. Als weinten die Götter mit den Frauen, die um die Opfer des Winters trauerten, fiel das Wasser Tag um Tag auf die Länder der Rur nieder. Der friedlich dahinfließende Fluss schwoll zum reißenden Strom an und überflutete Auen wie Weiden, selbst Siedlungen, die nicht weit genug oben am Hang errichtet waren.

Rowilan fand auf eine gewisse Weise Trost im undankbaren Wetter. Regen war besser als Schnee, auch wenn er Zäune und Gärten davonspülte. Wenn der Fürst die Augen schloss und die Vernunft mit der Wirklichkeit zurückließ, schienen die Fluten das Land von all dem Versagen reinzuwaschen, das seine Erde vergiftete. Sich für das zu schämen, was hinter ihm lag, machte es genauso wenig besser wie die Sorgen, die Rowilan bis in seine Träume verfolgten. Für jeden Hoffnungsfunken, den er schöpfte, fand er zwei neue, beunruhigende Ungereimtheiten, die ihm den Kopf zerreißen wollten. Deswegen hatte er aufgehört, nach Lösungen zu suchen und sich jenen Problemen angenommen, deren Ausweg greifbar war. Selbst wenn er dafür eine Reise im strömenden Regen auf sich nehmen musste.

„Das ist es“, rief Pratagos Stimme den Fürsten der Bärenjäger in die Wirklichkeit zurück. Der Stoff des Mantels, den er über den Kopf gezogen hatte, war bereits derart durchnässt, dass Rowilans rote Haare darunter genauso strähnig an seinen Wangen klebten, wie Pratago der dichte Bart. Die Regentropfen wegblinzelnd, gab dieser seinem Pferd noch einen sachten Stoß in die Seite, damit dieses den jungen Mann in den Windschatten einer Kiefer trug.

Vor den Männern breitete sich eine Lichtung aus, die im Sommer sicherlich zwischen dem dichten Blätterdach aufgefallen wäre. So früh im Jahr aber, da die Nächte gerade so lange wie die Tage waren, zeigten sich die Buchen und Eichen bar jeden Laubes, sodass sie selbst im Dickicht der Wälder den Blick bis weit in die nächsten Täler erlaubten. Und eben auf Grund dieser Tatsache wusste Rowilan, dass die Spur, der er und seine Gefährten folgten, längst ins Leere führte.

„Hier hat Artain das Lager entdeckt“, erläuterte Pratago und nickte in Richtung einer ausgekühlten Feuerstelle, die im Schatten der Nadelbäume errichtet war. Rowilan ließ sein Pferd wortlos einige Schritte auf die Lichtung hinausreiten. Der durchweichte Boden schmatzte mit jedem Huftritt. Es genügten wenige Blicke, um zu erkennen, dass das Lager, das man hier errichtet hatte, seit einigen Tagen verlassen war. Sachte Spuren, die der Regen noch nicht weggewaschen hatte, verteilten sich nach mehreren Richtungen den Hang hinab. Unter den Fährten von Dammwild und Wildpferden waren mit viel Mühe noch die Spuren beladener Reittiere auszumachen. Der Fürst aber wusste genau: Den Weg, den sie genommen zu haben schienen, konnte er sich auch einbilden.

Finster meinte er zu Pratago und den anderen fünf Männern, die ihn begleitet hatten: „Es können drei, es können aber auch sechs Tage vergangen sein, seit das Lager hier verlassen wurde. Selbst wenn wir von hier aus die Fährte nachverfolgen, die diese Männer hinterlassen haben, ist es nur eine Frage von Meilen, bis wir sie verlieren. Ich fürchte, der Weg ist umsonst gewesen.“

„Einen Versuch war es wert“, bemühte Pratago sich um Aufmunterung, die an Rowilans Gleichgültigkeit abprallte. Obgleich dieser seinen Gefährten anblickte, war seine Aufmerksamkeit ins Leere gerichtet. Dass er nicht bei der Sache war, versuchte er keinem der Männer zu verheimlichen, auch nicht, als er beschloss: „Lasst uns heimkehren. Im Moment können wir hier ja doch nichts ausrichten.“

Und selbst wenn, hätte es ihn nicht viel mehr gekümmert.

Der Winter hatte über den Auen der Rur einen dunklen Schleier zurückgelassen, der jeden Menschen in die Knie zwingen konnte, wenn man sich nicht mit ihm abzufinden lernte. In wenigen Monaten nur hatte sich alles verändert, was Rowilan für Jahre vertraut und unumstößlich erschienen war. Nicht nur, dass er, jahrelang der höchste Schamane seines Stammes, plötzlich von ihrem Schutzherren, dem Geist des Bären, zum Fürsten der Bärenjäger berufen worden war. Nein, es war ihm gelungen, seinen Stamm auseinanderzureißen und so kurz nach den verheerenden Schlachten des Sommers in einen Krieg zu führen, der zu viele seiner Verbündeten das Leben gekostet hatte. Dass ihn seitdem die Verbliebenen wie einen Fremden beobachteten, kümmerte ihn bereits nicht mehr.

„Wo können sie den Winter über gelagert haben?“, fragte Pratago in die Menge. „Artains Männer waren sich sicher, dass sie nicht aus dieser Gegend kommen. Sie müssen Stammeszeichen auf ihren Schilden führen, wie sie die Händler aus den südlichen Städten manchmal auf ihre Karren malen.“

„Dreckiges, südländisches Gesindel“, spuckte einer der Krieger aus. Rowilan hatte ihn für diesen Spähritt ausgewählt, weil er wie keiner diese Wälder kannte und seit langem in ihnen zuhause war. Bero war sein Name, ein fast greiser Jäger und Fallensteller, der seit zwei Jahren in einer Hütte vor der Siedlung wohnte, nördlich der Totenaue. Der alte Fallensteller malte ein Unheil abwehrendes Zeichen vor sich in die Luft. Sein Grimm verlieh ihm einen Herzschlag lang eine Macht, die Rowilan einen Schauer über die Arme jagte.

„Ich hab immer gesagt, es ist nicht gut, diese rausgeputzten Händler zum Gastmahl einzuladen. Sie kommen, um unsere Mädchen zu stehlen. Das hab ich immer gesagt! Die verkaufen sie über die Berge in fremde Länder und tauschen ihre Unschuld gegen Wein und Schmuck. Ich sag es immer …“

„Ja, das tust du!“, gab Pratago dem Alten Recht, während er ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter legte. Dort blieb sie keinen Atemzug liegen, bevor Bero sie abschüttelte und sich auf seinem Pferd immer wieder im Sattel drehte, als hätte sein Blick längst eine Spur erspäht, die allen anderen verborgen blieb. „Gold genug haben die, um sich einen Unterschlupf für den Winter zu kaufen. Würde mich nicht wundern, wenn Fewiros sie selbst bei sich unterbringt. Dem kann es nur Recht sein. Erst sterben uns die Krieger weg und dann entführt man unsere Frauen in die Sklaverei!“

Die Anklage, die in Beros Worten mitschwang, sickerte nur träge durch das Summen in Rowilans Ohren. Der Fürst der Bärenjäger rieb sich mehrfach über die Ohrmuschel, ohne Linderung damit zu gewinnen. Obwohl der Sturm längst an Kraft verloren hatte, prasselte in seinem Kopf noch immer der Regen eines Unwetters, das gerade erst heraufgezogen war.

„Gebt mir Pferde!“, riss Beros Stimme den Fürsten letztlich aus seinem Gedankendickicht. Der Fallensteller war mit einem Galoppsprung an Rowilans Seite geritten und durchbohrte seinen Anführer nun mit dem Groll, der ihn seit dem Beginn ihrer Reise begleitet hatte. „Ich finde die Dreckskerle! In meinem Wald kann sich niemand verstecken! Ich hole die Mädchen. Ich brauche nur Männer, Pferde und Proviant!“

„Pratago wird dich ausstatten, sobald wir zurückgekehrt sind. Aber wir dürfen es nicht überstürzen, Bero.“ Warum nur klang seine Stimme so müde? Dies waren nicht die Worte eines Anführers, der seinen Männern Zuversicht spenden sollte. Jeder Funke mehr an Kraft, den Rowilan seinen Kriegern hätte schenken können, schien ihm im Atem zu fehlen. „Zu viele Männer haben ihre Seelen dem Winter geschenkt. Ich kann niemanden entbehren!“

„Aber die Mädchen … die Mädchen sind nutzlos für uns, wollt Ihr sagen, mein Fürst?“

„Das tue ich nicht, und das weißt du!“ Warum ließ er sich diese Frechheiten gefallen? War er nicht ihr Anführer, der von Artos erwählte Herrscher über diese Menschen? Rowilan erwiderte Beros Blick und sah doch durch ihn hindurch in den Wald. Den Mund zu einer weiteren Erwiderung geöffnet starrte er dem Fallensteller für einen Herzschlag in die Augen, nur um die Worte danach hinunter zu schlucken. Stattdessen schlug er seinem Pferd die Hacken in die Seiten, dass dieses einen Sprung nach vorne machte, und setzte sich damit an die Spitze ihres noch nicht formierten Zuges.

„Wir finden einen Weg!“, versuchte er zuletzt ein wenig Hoffnung zu geben. Nur geriet seine Stimme so leise, dass nicht einmal der Wind ihm Glauben geschenkt hätte. Zu viele Leben hatte dieser Winter gekostet. Zu viele Kinder. Zu viele Alte. Zu viele Krieger. Zuletzt war sogar Nawos, sein unsterblich scheinender Freund Nawos, der alle Schlachten der letzten Jahre überlebt hatte, von ihnen gegangen. Seit jenem Tag schien die graue Welt noch ein wenig mehr Farbe verloren zu haben.

Während Rowilan zehn Fuß vor seinen Männern ritt, hörte er nicht, was diese flüsterten. Fast schon aus einer Gewohnheit heraus vergrub er stattdessen die rechte Hand in einem der Beutel an seinem Gürtel und fühlte nach der einzigen Spur, die ihm seit der Sonnenwende gelegt worden war.

Rowilan vermochte nicht zu sagen, wie oft er in den zurückliegenden Monaten den Ring angesehen hatte, der im ausgeraubten Versteck jener Reliquie zurückgelassen worden war, die so viel Unheil aus dem Norden in die Wälder an der Rur gebracht hatte. Die Reliquie, die der Moorsänger aus seiner Heimat mitgebracht und versteckt hatte. Die zu beschützen seine wiedergeborene Tochter scheinbar alles opfern würde. Und die, wenn man Haelinons Worten Glauben schenkte, schier unendliche Macht besaß.

In der Nacht der Sonnenwende hatten sie erfahren müssen, dass irgendjemand die Reliquie – scheinbar vor gar nicht so langer Zeit – aus ihrem alten Versteck entwendet hatte. Weder Rowilan noch Haelinon wussten eine Spur, die zu jenem Unbekannten führen sollte. Der einzige Anhaltspunkt, den Rowilan gefunden hatte, war dieser Ring, den der Dieb verloren haben musste. Das Schmuckstück war klein und unscheinbar gearbeitet, vielleicht der Ring einer Frau: mattes Gold, in das eine winzige Verzierung geprägt worden war. Stunden um Stunden hatte Rowilan sich den Kopf darüber zerbrochen, wo oder bei wem er die stilisierte Darstellung einer Ranke, die in das Gold getrieben worden war, schon einmal gesehen haben könnte. Wie jedoch, als versuchten die Götter ihn zu verhöhnen, fühlte er die Erinnerungen, die wie spritzendes Wasser um das Gold tanzten, und wusste sie doch nicht zu lesen.

Wo bist du nur, Aigonn?

Der Wind trug die Frage in den kahlen Wald hinaus, aber wie die vielen Male, da Rowilan sie ihm schon gestellt hatte, kam keine Antwort mehr zurück. Ich bin auf dem Weg. An dieses Versprechen, das dem Fürsten der Bärenjäger am ersten Morgen des neuen Jahres gegeben worden war, klammerte er sich einem Ertrinkenden gleich. Und je fester er dies tat, umso hilfloser fühlte er sich.

„Rowilan!“ Pratagos leise Stimme rief Rowilan aus seinen Gedanken zurück. Zwei Wimpernschläge brauchte es, bis er seinen Gefährten registrierte, der das Pferd zur Rechten seines eigenen getrieben hatte, und wachsam einen Punkt vor ihnen im Wald fixierte. „Wer ist das?“ Seine rechte Hand umrahmte eine kleine Gruppe Birken, die gut zweihundert Fuß vor ihnen rechts des Weges auszumachen war. Der Pfad, dem die Männer folgten, schmiegte sich an die Rundung eines Hanges, der zu seiner linken Seite über hunderte Fuß steil in das Flusstal der Rur abfiel. Der Wald hier war licht, laublos, kein Ort, an dem ein Fremder sich vor den Blicken der Reiter verbergen konnte, und doch vergingen noch drei Schritte seines Pferdes, bis Rowilan die Gestalt registrierte, die zwischen den Birken hervorkletterte. Einige Schritte hinter ihr stieg ein dünner Rauchfaden in den Himmel.

Die Fremde war klein und so über und über mit Fellen behangen, dass sie wie ein fressendes Tier im Schatten der Bäume harrte. Noch bevor Rowilan sie wahrlich mit den Augen erfassen konnte, kroch dem Fürsten ein Schauer über den Rücken. Wie ein Dunst legte sich eine unsichtbare Kraft über das Atmen des Waldes. Mit jedem Schritt, den die Reiter sich der Fremden näherten, verstärkte sich die Empfindung. Als ströme sie einen Duft aus, nach Moder, Verwesung, betäubte ihre Gegenwart Rowilans Sinne mit unheilverkündender Vertrautheit. Das Bild einer Frau formte sich vor seinem inneren Auge, ein Mädchen beinahe noch, mit rotem Haar und uralten Augen. Konnte sie es sein? Verfolgte sie ihn wie die Raben die Todgeweihten?

Nein! Sie ist in der Siedlung, sie wird bewacht. Sie kann nicht hier sein!

Nur warum sollte sich eine Frau mit ihren Fähigkeiten von den Schwertern zweier Krieger aufhalten lassen?

Mit dem letzten Galoppsprung stand Rowilans Pferd vor der Fremden, die die herannahenden Reiter längst bemerkt hatte. Wie eine Bettlerin war sie im Laub erstarrt und sah unter zwei Schaffellen, die ihr als Mantel und Kapuze dienten, zu den Männern hinauf. Einen Herzschlag nur glaubte Rowilan ihr in die Augen zu sehen, ihr, deren Wiedergeburt sie alle verflucht hatte, bis er begriff, dass jene, die ihn ansah wenigstens zehn Jahre älter sein musste.

Eine Fremde.

„Was führt Euch hier her?“, begrüßte er die Frau schärfer als gewollt. „Es ziehen dieser Tage Wegelagerer durch die Wälder. Wir verfolgen ihre Spuren. Allein zu reisen ist nicht sicher!“

Die Fremde regte sich nicht. Keine Angst lag in ihren Augen. Stattdessen ein scheues Lächeln, das Rowilan schlucken ließ. Ein Herzschlag verging, dann rückte sie vorsichtig einen Schritt zurück, neigte leicht den Oberkörper nach rechts, dass ihr Fellmantel den Blick hinter sie verdeckte.

„Was versteckt Ihr?“, brüllte Pratago an Rowilans Seite auf einmal los. Im selben Moment aber, da er mit gezogenem Schwert von seinem Pferd springen wollte, stieß die Fremde mit der Faust seinem Reittier in die Brust. Das Pferd keilte aus, stieg. Pratago kämpfte mit beiden Händen um sein Gleichgewicht, bevor er den Halt verlor und über die linke Flanke des Tieres auf den Boden stürzte. In der Zwischenzeit war die Fremde mit einer Schnelligkeit, die ihr auf den ersten Blick niemand zugetraut hätte, zwischen den Reitern hindurch gehetzt. Bero versuchte, ihr den Weg abzuschneiden. Bevor dieser jedoch die Fremde erreichte, stürzte sie sich über eine zehn Fuß tiefe Böschung den Hang hinab. Für einen Moment hörte man nur das Krachen von Ästen, die bei ihrem Aufprall zerbrochen waren. Wenig später aber waren Schritte zu vernehmen, neues Brechen von Sträuchern, dann sah Rowilan die Fremde gut dreißig Fuß unter ihnen auf einem Felsvorsprung stehen.

Wie betäubt glitt der Fürst vom Rücken seines Pferdes. Die Frau wartete lange genug, bis er an die Kante des Abhanges getreten war und ihr in die Augen sehen konnte. Stolz funkelte dort nun, der auch ihr Kinn erhoben hatte. Mit einer Gewissheit, die Rowilan Angst bereiten wollte, sagte sie: „Ich habe dich gesehen, Rowilan! Die Schicksalsfrauen haben deinen Lebensfaden zerrissen. Ich habe es gesehen!“

Schicksalsfrauen. Spinnerinnen. Die Weiße Frau im Moor. Rowilan war sich von einem Moment zum nächsten nicht mehr sicher, ob seine Füße noch den Boden berührten oder es sein Rücken war, der sich an die Erde schmiegte. Eine Hand packte grob aber stützend seinen Oberarm und riss ihn beiseite. Bero hatte zornig sein Pferd herumgerissen. „Dieses Dämonenweib entkommt mir nicht!“, brüllte er und setzte mit seinem Reittier einen schmalen Trampelpfad den Hang hinab. Die Frau hingegen war verschwunden.

„Komm, Rowilan!“ Pratago war es, der immer noch den Arm seines Fürsten umfasst hielt. „Die Götter allein kennen dein Schicksal!“

Der Fürst der Bärenjäger antwortete nichts. Eine Kälte hatte sich in seinem Magen breitgemacht. Sie lag starr und schwer auf seinem Leib, dass er hätte zittern müssen. Doch als würde sein Körper diese Szenerie bereits von fern betrachten, reagierte er nicht. Ein Schatten huschte für einen Herzschlag zwischen den Bäumen umher. Artos war noch bei ihm, beobachtete ihn. Warum schickst du mir einen Fluch? Ob der Geist des Bären ihn beschützte?

Nervöses Murmeln drang plötzlich vom Weg her in seinen Geist und löste den Druck aus seinen Ohren. Rowilan folgte Pratago einen Schritt später, nachdem er beobachtet hatte, wie die übrigen Männer seiner kleinen Truppe sich um die Stelle scharrten, an welcher die Fremde gewartet hatte. Als auch der Schmied ein Schutzzeichen vor der Brust schlug, schob Rowilan sich an den Kriegern vorbei.

Einen Schritt von ihnen entfernt schnitt sich ein schmaler Hohlweg in den Hang. Rowilan, der seinen Männern vorausging, erblickte bald dahinter eine niedrige Felswand, die einen vielleicht dreißig mal dreißig Fuß großen Platz umschloss. Braunes Laub bedeckte den Boden wie Schlaffelle. Herabgefallen war es von einer gewaltigen Esche, die den Stein überragte. Nur direkt unterhalb der Felswand hatte jemand Erde aufgegraben. Rowilan erschrak, da er zuerst nur die Augen erblickte. Menschengleich sahen sie aus dem Schatten des Gesteins zu ihm auf, uralt und rätselhaft. Fast hätte der Fürst sein Schwert aus dem Gürtel gerissen, bis er begriff, dass er eine Statue anstarrte.

Das Bildnis war noch halb von Laub bedeckt. Überall klebte Erde an dem rötlichen Sandstein, der scheinbar die letzten Jahre sein Dasein in einem Erdengrab gefristet hatte. Oder auch Jahrzehnte. Rowilan vermochte die alten Sprüche noch auszumachen, mit welchen man die Figur besungen hatte. Sie umkreisten den Stein wie silbrig schimmernde Insekten. Ganz vorsichtig trat er an das Bildnis heran. Keiner seiner Männer traute sich, ihm zu folgen.

Die Statue war der Gestalt eines Mannes nachempfunden, zumindest Unterleib, Oberkörper und Kopf. Die Gesichtszüge hatte man aus stark stilisierten Linien geschlagen – bis auf die Augen, die Rowilans Schritten zu folgen schienen. Erst bei näherem Hinsehen erkannte er hinter der Figur in der Felswand eingeritzt die kaum noch sichtbaren Umrisse eines Baumes, auf welchem drei Vögel saßen.

Lugus. Rowilan fiel vor dem Götterbild auf die Knie. Genau genommen zeigte das Bildnis Lugus als Herrn über Zeit und Kraft. Die drei Vögel standen für die Schicksalsgöttinnen, für die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Lugus schenkte den Schamanen die Macht, zwischen diesen Sphären zu reisen, sich von allem Weltlichen zu lösen. In dieser Darstellung nannte man ihn in der Sprache der Vorfahren Lugus-Esus, was nichts Geringeres bedeutete, als Lugus, Herr des Wahren. Das Wahre stand für die Künste, für Ekstase. Für alles, was zwischen den Welten schwamm.

Rowilan betrachtete die Darstellung fasziniert. Hier oben im Wald musste man Lugus vor langer Zeit ein Heiligtum errichtet haben, das ihm bisher nicht bekannt gewesen war. Warum auch immer die Zeit es hatte in Vergessenheit geraten lassen. Jene sonderbare Frau, deren Fluch noch immer in Rowilans Geist nachhallte, hatte es aus unbekanntem Grund entdeckt. Und seinem Herrn scheinbar ein Opfer hinterlassen.

Jenes Opfer war der eigentliche Grund, warum keiner der anderen Männer näher trat. Bero schlug bereits das dritte, unheilabwehrende Zeichen vor seiner Brust. Die Äste der Esche ragten tief genug hinab, sodass man bequem an ihr drei Bastriemen hatte befestigen können. An deren Ende baumelten Raben. Drei Raben. Die schwarzen Augen der Vögel starrten leblos in den Tag hinaus. Obgleich Rowilan die letzte Wärme ihres Körpers einfangen konnte, waren ihre Geister nicht mehr in der Nähe. Die Tiere waren tot und hingen kopfüber vor dem Bild des Lugus-Esus. Rowilan bekam das Gebet nicht mehr zu fassen, das man ihnen nachgesandt hatte. Er hatte schon das Messer gezückt, um die Vögel von ihrem Totenbaum zu schneiden, als ein unbestimmtes Gefühl ihn innehalten ließ. Vielleicht war es der Wind, der auffrischte. Die Luft, die plötzlich in seinem Mund abgestanden schmeckte.

Eine namenlose Empfindung ließ Rowilan auf die Beine springen. Mit knappen Worten wies er seine Männer an, ihm zu folgen, was niemand in Frage stellte. Als er wieder auf seinem Pferd saß, trieb er dieses in den Galopp so schnell er konnte.

Brictom - Wodans Götterlied. Von keltischer Götterdämmerung 3

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