Читать книгу Brictom - Wodans Götterlied. Von keltischer Götterdämmerung 3 - Astrid Rauner - Страница 11

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Boten aus dem Süden

Auf ihrem Heimritt zur Siedlung hatten die Männer nicht mehr miteinander gesprochen, obwohl es Vieles gab, das ungesagt zwischen ihnen hing. Ein stummes Grauen begleitete jeden von ihnen. Und jeder von ihnen verband es mit anderen Bildern.

Rowilans Hände krampften starr um seine Zügel. Sein Lebensfaden zerrissen. Schon im vergangenen Winter hatte die Weiße Frau, die Schicksalsbotin ihm dies prophezeit und doch lebte er noch. Er war Fürst seiner Leute und ein Diener seines Stammesgottes.

Du hast deine Leute in den Untergang geführt. Noch war es nicht vorbei. Der Frühling hatte die Wasser der Rur über ihre Ufer getrieben. In diesem Jahr war der Regen stark genug gewesen, dass selbst die einige Meter oberhalb der Auen erbaute Siedlung nicht hoch genug errichtet worden war, um seine Bewohner vor dem Wasser zu schützen. In Anbetracht der Schäden, die die letzte Schlacht an den Verteidigungsanlagen zurückgelassen hatte, war durch die Mehrheit der Siedler entschieden worden, in die noch unvollendete Höhenfeste umzuziehen, deren nackte Wälle vom gerodeten Südhang der Anhöhe blickten.

Dem Bärenfürsten erschien sein Bauwerk wie der traurige Zeuge einer besseren Zukunft, die vor ihnen allen gelegen hatte. Mit aller Kraft versuchte er sich einzureden, dass nichts verloren war. Dass Artos an seiner Seite stand und den Widerstand billigte, den er Fewiros entgegenbrachte. Die Kraft, die es ihn kostete, sich an diesen Gedanken zu klammern, fehlte ihm nachts, um Frieden für den Schlaf zu finden. Die Träume und Sorgen auszusperren, die ihm die dunkle Zukunft gemahnte, die ihm wieder und wieder verheißen wurde. Auch in dieser Nacht hatte Rowilan kaum ein Auge zugetan und spürte seine fahrigen Bewegungen, mit welchen er das Pferd in die Siedlung lenkte, kraftloser denn je.

Eine Heimat hätte dieser Ort werden sollen. Bis jetzt wogen die Versprechungen darüber jedoch schwerer, als die Barracken, die man notdürftig mit dem gezimmert hatte, was vorhanden gewesen war. Der stete Regen verhinderte, dass die Lehmschicht auf den Flechtwänden vernünftig abtrocknete. Rowilan beobachtete, während er sich vom Pferderücken sacken ließ, wie eine Horde Kinder am Nachbarhaus seiner eigenen Behausung mit den Händen zähen Lehm auf einige undichte Stellen in ihrer Hauswand drückte. Das Baumaterial war längst zu Schlamm zerlaufen und floss den Jungen über ihre Arme, hinunter in die Gesichter. Rowilan schmunzelte sacht, als die kaum Zehnjährigen ihr sinnloses Treiben unterbrachen, jeder sich einen abgebrochenen Ast aus dem nahen Holzstoß griff und sie sich in die Abbilder von Kriegern verwandelten.

Der Größte von ihnen plusterte sich mit aller Kraft auf, reckte den Kopf in die Höhe und verkündete grimmig: „Seht nur, ich bin Fewiros! Ich werde eure Köpfe über meinen Hauseingang spießen!“

„Nieder mit dem Verräter!“, brüllten seine Widersacher und stürzten sich zu zweit auf den Älteren. Dieser aber, gut einen Kopf höher gewachsen als die beiden, wehrte den ersten mit solcher Wucht ab, dass eben jener rückwärts in den Matsch stolperte. „Seht nur!“, keuchte sein Gefährte und geriet über einen Ausweichschritt ins Stolpern. „Der große Behlenos ist von den Toten auferstanden und wird die Bärenjäger mit der Macht der Götter retten!“

„Das ist unfair“, protestierte der Fewiros-Schauspieler, vom Krieger plötzlich wieder in den Neunjährigen zurückverwandelt. „Tote kommen nicht einfach wieder. So funktioniert das nicht!“

Sein Gegner rang nun um Argumente. „Doch, natürlich … wenn … weil ich natürlich Rowilan bin, wenn du Fewiros spielst! Dann bin ich der Schamane, ich kann Behlenos von den Toten zurückholen! Dann besiegen wir dich! Gemeinsam!“

„Das ist aber unfair!“

„Ist es nicht, du feiger Hund! Nur weil du gegen uns keine Chance hast!“

Klein-Rowilan maß seinen Worten Bedeutung bei, indem er den Fewiros-Schauspieler schubste. Dieser, kaum sein Gleichgewicht wiedergefunden, packte den Jüngeren nun am Kragen. Bevor jedoch aus dem Handgemenge eine Rangelei entstehen konnte, erhob Rowilan die Stimme: „Ich wäre dir verbunden, Duvilos …“

Die drei Jungen fuhren herum. Der sich Wiederaufrichtende, soeben zum Behlenos erklärte, sackte vor Schreck dabei wieder zurück in die Schlammfurche und griff fluchend nach dem Hosenbein des Rowilan-Schauspielers, der sich erschrocken ihres bislang stillen Zuschauers gewahrte. „Mein Herr Rowilan!“, keuchte er, während der Bärenfürst lächelnd weitersprach: „… wenn du meine Rolle mit ein bisschen mehr Haltung verkörperst. Flüche sind mächtig, aber sie sollten für den geeigneten Moment aufgespart werden.“

„Man hat nach Euch verlangt“, piepste der Behlenos-Schauspieler, ein winziger Junge, dessen blondes Haar unter dem vielen Schlamm kaum zu sehen war. „Es sind Boten gekommen, während Ihr fort wart!“

Rowilans Herz machte einen Satz. Der Fürst versuchte sich die Aufregung nicht anmerken zu lassen, seine Worte gerieten jedoch einen Funken zu schnell: „Wer hat sie geschickt?“

„Keine Ahnung …“ Die Jungen tauschten ratlose Blicke. „Vater hat sie empfangen. Sie sind schon weg seit … ein bisschen … Vater ist im Haus!“

„Du!“, Rowilan nickte dem Ältesten zu, der den Duvilos genannten Jungen wieder hatte laufen lassen, und bedeutete ihm mit einem Fingerzeig, sich dem Pferd des Fürsten anzunehmen. Er betrat das Haus ihres Vaters ohne Klopfen. Der alte Krieger kauerte an der Feuerstelle, eine Lanzenspitze mit Tierfett polierend. Graue, struppige Locken fielen ihm dabei immer wieder vor die Augen. Sein hartes Gesicht kannte Rowilan seit Jahren. Der Mann, der mit seinem hohen Wuchs und dem dichten, aber kurzen Bart bereits allein mit Kittel und Hose eine eindrucksvolle Erscheinung darstellte, hatte zum engsten Kreis von Behlenos’ Kriegern gezählt. Im Rat und in der Siedlung hatte sein Wort Gewicht. Doch obgleich – oder vielleicht gerade weil – Rowilan ihn seit Kindertagen kannte, bremste er rasch sein forsches Eindringen, indem er den ungerührt Dasitzenden ansprach: „Kann ich dich stören, Duvictrix?“

„Du tust es doch schon.“ Der Krieger nahm den Blick nicht von seiner Waffe. Mit dem Tuch fuhr er vom Schaft der Lanze über das Eisen, als liebkose er einen Frauenkörper. Erst als Rowilan sich ihm gegenüber an der Feuerstelle niederließ, zuckte sein Blick unter den buschigen Augenbrauen hervor. Unwillkürlich heftete Rowilans Aufmerksamkeit sich dabei auf die winzige Tätowierung, die Duvictrix’ rechte Wange zierte. Ein Sonnenrad, vom Wirken der Jahre bereits verblasst und an den Rändern unscharf geworden, gemahnte seiner Erfahrung und den vielen Wintern und Schlachten, die er als Lebender hinter sich hatte lassen können.

Einen Herzschlag später straffte Rowilan sich. Der scharfe Ton, mit dem der Krieger ihm geantwortet hatte, ließ ihn die Augen verengen. „Dein Sohn sagte, es waren Boten hier. Du hast sie empfangen?“

„Ja, man wollte dir Bericht erstatten.“

„Wer?“

„Nur ein Späher.“

Unmerklich sackten Rowilans Schultern nach unten. „Und?“

„Er hat in der vergangenen Nacht einen Trupp fremder Reiter am Fuß der Vier Wächter lagern sehen. Sie trugen keine offenen Feldzeichen und führten wohl Kinder und Frauen mit sich. Die Symbole auf ihren Schilden hat er nicht ausmachen können, niemand von hier.“

„Kamen sie von Süden?“

„Ja. Möglicherweise sind sie auf dem Weg hier her. Ich denke nicht, dass sie eine Gefahr sind.“

Rowilan erlaubte sich ein Durchatmen. „Vielleicht bringen sie gute Nachrichten.“

„Das wäre nötig.“ Duvictrix’ letzte Worte gerieten wieder eine Spur zu scharf. Für einen Herzschlag maß er Rowilan offen mit seinem Blick, bevor er die Augen niederschlug und fortfuhr, die Lanzenspitze zu polieren. „Habt ihr die verschwundenen Mädchen gefunden?“

„Kaum mehr die Spuren ihrer Entführer. Es sind Fremde. Diese Sklavenhändler sind eine Plage, die uns vor einigen Jahren schon einmal heimgesucht hat. Bero kennt eine Route, die sie eingeschlagen haben müssen, wenn sie die Siedlungen umgehen wollten. Er wird in einigen Tagen versuchen, sie weiter südlich abzupassen. Momentan haben sie zu viel Vorsprung, wenn sie quer durch die Wälder reisen.“

„Also sind sie fort?“

„Wenn Artos mit uns ist, werden wir ihnen die Mädchen entreißen können.“

„Also sind sie fort.“ Diesmal formulierte Duvictrix seine Worte als Feststellung. Rowilans Antwort blieb zunächst ein düsterer Blick, der den Krieger ungerührt ließ. Die Stille im Raum, die nur das Knistern des Herdfeuers durchbrach, lastete plötzlich wie stickiger Dunst zwischen den Männern. Das Lärmen der Kinder draußen drang nur dumpf hinein, bedeutungslos.

„Seit ich denken kann“, durchbrach Rowilan das Schweigen, „höre ich die Stimmen der Götter, Duvictrix.“ Seine Stimme brach nicht, sie schwankte nicht, auch wenn es sich in diesem Moment so anfühlte. „Ich habe getan, was die Götter von mir verlangt haben. Sie haben mich zum Fürsten gemacht. Sie haben entschieden, dass wir uns gegen Fewiros stellen. Gleich was passiert ist, vertraue ich ihnen bis heute. Und eben das sollte jeder von uns tun.“

Duvictrix lächelte. Es war weder eine Geste, die Rowilan Mut machte, noch verspottete sie ihn. In jenem Moment, da der Bärenfürst von der Feuerstelle aufstand, meinte der Krieger ungerührt: „Vielleicht hast du ja Glück.“

„Womit?“

„Mit den Boten! Hör!“

Die Kinder draußen lärmten laut und hatten wieder begonnen, Lehm an die Hauswand zu klatschen. Daher benötigte Rowilan mehr Konzentration als ihm lieb sein konnte, um zu bemerken, dass aus Richtung der Tore Stimmen laut geworden waren. Ohne Duvictrix noch eines Blickes zu würdigen, eilte der Fürst aus dem Haus. Die Helligkeit des Tages blendete ihn, sodass er die Augen zusammenkniff. Zum Glück hatte der kurze Regenschauer ausgesetzt. Dennoch schlitterte Rowilan bedenklich über die steilen, ausgetretenen Matschpfade zum weiter hangabwärts gelegenen Tor. Zwei der Wächter diskutierten vom Wehrgang aus lautstark mit jemandem, dessen Stimme Rowilan nicht erfassen konnte. Der Fürst erwartete, dass einer der Krieger, der sich daraufhin kopfschüttelnd abwandte und den Wall hinabkletterte, sich an ihn wenden würde. Stattdessen schien dieser Rowilan noch gar nicht bemerkt zu haben und öffnete unaufgefordert das Tor.

Sogleich galoppierte ein Reittier hindurch. Im ersten Moment erkannte Rowilan nur das Pferd – nein, das Pony, das mit halsbrecherischer Geschwindigkeit den Hang hinauf sprengte. Dann erst wurde ihm gewahr, dass eine unerwartet kleine Gestalt sich an den im Vergleich mächtigen Hals des Tieres klammerte. Der Fürst machte einen ungelenken Schritt rückwärts, sah den Reiter schlenkern, überlegte bereits, ob er diesem zu Hilfe kommen sollte. Im gleichen Moment aber kam das schnaubende Pony mit einigen Galoppsprüngen und keinen Steinwurf vor ihm zum Stehen und entledigte sich bockend seines Reiters.

Dieser landete unsanft im matschigen Gras. Erschrocken versuchte Rowilan die Zügel des Ponys zu erhaschen, das jedoch buckelnd bereits einen Sprung vorwärts machte, um weiter in die Siedlung hinauf zu galoppieren. In Anbetracht dessen schenkte der Fürst dem Tier keinen Blick mehr und eilte zu seinem Reiter, der sich schüttelnd wieder aufgerappelt hatte. Den schmutzverschmierten Kopf haltend, hockte er tief atmend im Gras und begann, da Rowilan sich zu ihm hinunter beugte, auf einmal erleichtert zu lachen.

Ein helles Lachen, wie Sonnenlicht in diesen Tagen. Erst jetzt wurde Rowilan gewahr, welches Detail an diesem ungeschickten Boten nicht ins Bild passte. Er war entsetzlich jung. Dies noch begreifend, packte der Fürst den Jungen bei der Schulter und begrüßte ihn erschrocken: „Ist alles in Ordnung?“

Nein, kein Krieger war es. Ein Junge. Zehn Jahre alt? Acht? Aus dem Gesicht mit den strahlenden grünen Augen, blickten die Eindrücke von sechs – vielleicht sieben – Wintern. Der Bursche, der den Schreck der harten Landung allmählich weggelacht zu haben schien, wurde sich kopfschüttelnd des mächtigen Mannes gewahr, der sich über ihn beugte, bemühte sich um Haltung und begann prustend: „Mein Herr, verzeiht … Ich bin die Vorhut … verflixt! Aua!“

Lachend packte der Junge sich an die Schulter und verzog dabei etwas gequält die Mundwinkel. Seine entwaffnende Fröhlichkeit zauberte auch Rowilan ein Lächeln auf die Lippen, mit welchem er den jungen Reiter aufforderte: „Komm, ich werde mir das ansehen.“

„Ich bin die Vorhut einer Gesandtschaft, mein Herr, Ihr solltet warten.“ Ungelenk versuchte der Junge sich auf die Beine zu hieven, was ihm mit Rowilans stützendem Arm letztlich gelang. „Meine Mutter sucht, den Fürst der Bärenjäger, den großen Rowilan, zu sprechen. Ich hoffe, er ist hier?“

Im ersten Moment erschien Rowilan diese Szenerie wie ein einziger Scherz. Für einen Herzschlag huschte sein Blick über den Kopf des Jungen hinweg, als erwarte er, Artos lachend hinter dem Kind stehen zu sehen. Der Bursche musste zweifellos seinen Eltern entwischt sein. Warum sonst schickte jemand ein Kind dieser Tage allein – noch immer war außer ihm niemand am Tor eingetroffen – durch ihr vom Krieg gezeichnetes Land?

Der Junge trug sein weißblondes Haar etwas über die Schultern lang, was ihn ein wenig mädchenhaft erscheinen ließ. Seine klaren, weichen Züge und die stechenden Augen machten ihn ausnehmend hübsch. Gleichwohl deutete seine reich verzierte Kleidung, sein Gürtel mit einer goldverzierten Schnalle, auf eine wohlhabende Herkunft hin. Irgendetwas sagte Rowilan dieses Gesicht. Der Junge schien wie die Erinnerung aus einem Traum. Als blicke er in ein jahrealtes Spiegelbild zurück, so lange verblasst schon, dass es die Erinnerung daran mitgenommen hatte. „Wer ist deine Mutter?“, fragte Rowilan.

Im gleichen Moment aber, da der Junge zu einer Antwort ansetzte, brachte der Schamane ihn mit einem Laut wieder zum Schweigen. Konnte es möglich sein? Mit der rechten Hand umfasste Rowilan seine Wange, strich ihm den Schmutz aus dem Gesicht. Die Berührung allein flutete ihn mit einer Vertrautheit, dass ihm bang wurde. Er musste wissen, wer dieses Kind war! Ein Teil von ihm wusste es, brachte ihn jedoch um seine Antwort. Woher kannte er diese Augen? Es konnte doch nicht … Rowilan ließ die Hand sinken und machte im gleichen Atemzug einen Schritt rückwärts.

Oh doch, es konnte. Sie war wirklich hier.


Die Erinnerung durchschritt vor allen anderen das Tor. Ein Windstoß wehte das Bild einer Frau an Rowilan vorüber, eine hochgewachsene Gestalt, fast ein Mädchen noch. Oft hatte sie in Plänen versunken auf ihrer Unterlippe gekaut, während ihre drohend blitzenden Augen versprachen, dass ein „Nein“ nicht war, was sie tolerieren würde. In jenem Moment, da ihre Umrisse sich aus dem diesigen Schleier des Tages abhoben, glaubte Rowilan jenes Mädchen auf sich zureiten zu sehen, das vor vielen Jahren mit zornesrotem Gesicht durch die Tore seiner alten Siedlung davon galoppiert war.

Der Palisadenwall aber, den sie nun durchritt, war ein anderer, ebenso wie die Frau, die an der Spitze eines kleinen Reiterzuges über die umstehenden Krieger blickte. Noch immer war sie höher gewachsen als viele der Männer, die sie begleiteten. Weißblondes Haar, zu kunstvollen Zöpfen verwunden, umspielte ihr ovales Gesicht mit den hohen Wangenknochen. Deren rotgefrorene Haut lag halb in dem bis über ihre Schultern reichenden Kragen eines Pelzmantels verborgen. Schmutz und Feuchtigkeit, die überall an ihrer Kleidung klebten, waren Zeuge der langen Reise, die sie mit ihrer Begleitung zurückgelegt haben musste.

Die stechenden grünen Augen, die sie auch ihrem Sohn geschenkt hatte, hatten im Gegensatz zu diesem Rowilan längst als jenen erkannt, nach dem sie gesucht hatte. Und in dem Moment, da ihre Blicke sich nach den vielen Jahren trafen, wusste Rowilan, dass nicht das trotzige Mädchen von damals zu ihm zurückgekehrt war. Seine Besucherin war die Herrscherin geworden, die sie in ihrer Jugend nie hatte sein wollen. Und der Blick, mit dem sie den Anführer der Bärenjäger begrüßte, verriet jeden Funken der Macht, die sie in den nächsten Momenten auszuspielen gedachte.

„Rhamis“, durchbrach Rowilan das Schweigen und ließ die Fürstentochter auf sich zureiten, bis ihm der Atem ihres Pferdes als warmer Nebel ins Gesicht schlug. Sie verzog kaum eine Miene. Nur ihre zuckende Lippe gab eine Spur der Gefühle preis, die sie hinter einer förmlichen Maske verborgen hielt. Ohne abzusteigen begrüßte sie den Bärenfürsten: „Mein Herr Rowilan, es tut gut, Euch zu sehen!“

„Was tust du hier?“

„Auf Eure Botschaft antworten! Ich habe Euren Reiter vorausgeschickt. Aber da wir nicht angekündigt wurden, fürchte ich, verlief seine Rückreise nicht wie geplant.“

Ein Schatten verdunkelte Rowilans Miene. „Vermutlich.“ Rhamis’ Pferd warf schnaubend den Kopf nach hinten, sodass Rowilan einen Schritt rückwärts tun musste. Beruhigend legte er dem Tier eine Hand auf die Nase, welche diese jedoch erschrocken hochriss und Rhamis zu einem Zügelzug zwang.

„Du bist also gekommen, um mit mir Krieg zu führen?“ Er hatte tatsächlich einen Reiter zu Rhamis geschickt, um sie um Unterstützung gegen Fewiros zu bitten? Nein, ich habe der eisernen Fürstin eine Nachricht zukommen lassen. Rhamis’ Mutter. So wie Dutzenden anderen Herrschern viele Tagesreisen entfernt.

„Ich bin gekommen, um mit Euch über den Krieg zu sprechen.“ Rhamis verzog keine Miene. „Meine Mutter ist beunruhigt über die Geschehen hier bei euch im Norden. Sie wollte mich mit Forderungen zu Euch schicken, aber ich komme zumindest mit einem Angebot für Hilfe.“

Danke!, wollte Rowilan im gleichen Moment ausrufen, brachte aber das ihm entkommene Lächeln sogleich unter Kontrolle. Die Krieger, die Rhamis’ Gesandtschaft stellten, blickten abschätzig auf den zerlumpten Fürsten nieder. Keiner von ihnen hatte ihm bisher die Höflichkeit gezollt, von seinem Pferd abzusteigen, um auf Augenhöhe mit ihm zu stehen. Ihr Verhalten war Sinnbild der Achtung, die Rhamis’ Stamm ihm entgegenbrachte.

Rhamis war die Tochter einer mächtigen Herrscherfamilie, die gut drei Tagesreisen im Süden über fruchtbare Länder herrschte. Sie residierten seit Generationen in einer Bergfestung, die über den Auen des Flusses Laugana thronte. Und deren Einfluss angeblich von seiner Quelle bis zur Mündung reichte. Zu großem Ruhm war ihren Leuten, die sich selbst die Sippen der Ubier nannten, vor allem durch Rhamis’ Mutter verholfen worden, eine stählerne Herrscherin, die zu ihren Lebzeiten allen Feinden und Hungersnöten getrotzt hatte, um den größten Schatz zu beschützen, den Ubier hüten konnten. Ihr Land war reich an Eisenerz, und das Gemüt der Fürstin, die man mit ihren nunmehr achtundsechzig überdauerten Wintern unsterblich nennen wollte, war hart wie der Rohstoff geworden, der ihr zur Macht verholfen hatte.

Rhamis war ebenso nur ein Stein im Spiel ihrer Familie. Ein einziges Mal hatte sie versucht daraus auszubrechen und niemand wusste so gut wie Rowilan, wie wenig sich dies für sie gelohnt hatte. Darum war er bereit, sich ihrer Rolle zunächst zu fügen, straffte seine Haltung und lud die Ankömmlinge ein: „Dann lass uns über den Krieg reden, Rhamis! Ihr müsst von eurer Reise erschöpft sein. Wir können dieser Tage wenig Luxus bieten, aber ich bitte euch dennoch: Seid meine Gäste!“

„Gern!“ Rhamis stieß ihrem Pferd sacht die Hacken in die Seiten und ritt an Rowilan vorüber. Die Reiter folgten ihr. Ein kurzes Zischen befahl ihrem Sohn, Haltung anzunehmen und der Gesandtschaft zu folgen. In Ermangelung seines Pferdes, das bereits einer der Torwachen tränkte, lief er kurz seinen Leuten hinterher, bevor er sich zurückfallen ließ und Rowilan abwartete, der noch immer vor dem Durchgang stand und seinen Gästen finster hinterher blickte.

Welches Spiel spielten die Götter mit ihnen? Hilfe, Rhamis brachte Hilfe? Er hätte verdutzt, erleichtert sein müssen. Wenn die Ubier gegen Fewiros ins Feld ziehen würden, bestünde tatsächlich eine Chance, dass dieser Krieg sich für die Bärenjäger zum Guten wendete. Und doch sackte in Rowilan eine Beklommenheit nieder, die er nicht zu deuten wusste.

„Ich folge Euch, mein Herr!“, riss die helle Stimme des Jungen den Fürsten aus seinen Gedanken und erinnerte ihn daran, dass er Gäste hatte. Daher lief Rowilan an dem Kind vorüber und streifte dabei nachlässig mit der Hand dessen Schulter. Er bemühte sich um ein Lächeln: „Ich werde einem kühnen Reiter wie dir ein Bad bereiten lassen!“

„Ich freue mich, Euch endlich kennen zu lernen!“, überging Rhamis’ Sohn den Kommentar. „Meine Mutter erzählt so selten von Euch. Aber wenn, erscheint Ihr in ihren Worten wie ein Sagenheld!“

Dieses Lächeln verharrte länger in Rowilans Gesicht. Doch es war traurig. „Ich bin glücklich, kein Sagenheld zu sein!“

„Warum?“, erwiderte der Junge verwundert.

„Keiner von diesen großen Helden hatte ein langes Leben!“

Mit einem Nicken bedeutete Rowilan einem der Männer, ihm und dem Jungen zu folgen. Dann liefen sie weiter gemeinsam der Gesandtschaft der Ubier nach, auf das Versammlungshaus ihrer neuen Festung zu. Für einen Herzschlag sah Rowilan noch einmal Rhamis vor sich, damals. Vor sechs Jahren hatte er geglaubt, sie niemals wiederzusehen. Niemanden hätte es verwundert.

Brictom - Wodans Götterlied. Von keltischer Götterdämmerung 3

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