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Auf der Insel, den 1. Januar 2013

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Silvester verlebten wir in aller Stille. Wir waren daheim auf der Insel, nur Lech und ich. Es war dunkel, die Dunkelheit hielt alles umschlungen. Wir standen am Fenster, als das neue Jahr anbrach. Das Eis leuchtete weiß. Trotz des Tauwetters türmte sich der Schnee noch immer hoch. Es sah aus, als würde der Himmel im Süden eine Spur heller werden. Vielleicht lag es an den Raketen über Nyköping.

Ich schaute Lech an. Sein Gesicht war vollkommen nackt, ohne jeden Schutz. Er legte seinen Arm um mich. Eine Zeit lang atmeten wir Mund an Mund.

Dann hörten wir uns Musik an, Isabelle Faust und Alexander Melnikov, die Beethovens Sonaten für Klavier und Violine spielten. Die Geige klang einzigartig, besser noch als das Klavier. Sie hat einen Namen, sagte Lech: Dornröschen.

Dornröschen, eins von Stradivaris Glanzstücken, war fast hundertfünfzig Jahre verschollen gewesen. Als sie wiedergefunden wurde, hatte die Landesbank Baden-Württemberg sie gekauft. Und dort lag sie dann im Tresor, man konnte sie ausleihen, das aber war ungemein teuer.

Als sich Isabelle Faust in Stuttgart aufhielt, konnte sie nicht anders, als Dornröschen auszuprobieren. Das Instrument war verschlossen und stumm, bloß ein Stück Holz ohne Leben. Es weigerte sich zu klingen, nachdem es so viele Jahre unberührt dagelegen hatte. Isabelle Faust aber gab nicht auf. Der Bogen streichelte und strich. Und dann plötzlich … Ein paar Töne lugten hervor, mitten aus all der Verschlossenheit … Wie wenn man vor einem alten Altarbild steht, das die Kerzen der Betenden mit Ruß bedeckt haben, und hier und da und nur bei einem gewissen Licht die ursprünglichen Farben aufleuchten sieht. Die Geigerin hatte eine Stimme vernommen. Eine Stimme, die sie wiedererkannte, als wäre es ihre eigene. Ein halbes Jahr später hatte sie einen Sponsor gefunden. Hatte Dornröschen geholt und ihr Leben mit ihr begonnen.

Es dauert lange, bevor eine Geige, die fast hundertfünfzig Jahre einsam war, bereit ist, sich auf jemanden einzulassen. In Dornröschens Fall sechs Jahre, in denen der Bogen immer aufs Neue über die Saiten strich, bevor Töne erklangen, von Mal zu Mal wärmer und strahlender. Bis sich die Geige gänzlich geöffnet hatte. Und mit einer Leuchtkraft sang, die ohnegleichen war. Wie beim Liebesspiel, sagte Lech.

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