Читать книгу Nächstes Jahr in Berlin - Astrid Seeberger - Страница 16

Auf der Insel, den 18. Januar 2013

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In der Kardiologie hatte ich heute eine Patientin. Man hätte meinen können, unter der Krankenhausdecke liege ein Kind, wäre ihr Haar nicht so grau gewesen. Es war eine schmächtige kleine Frau mit großen braunen Augen, die ein Nierenversagen erlitten hatte, weil ihr Herz zu schwach war. Sie war Jüdin, stammte aus Lublin im Südosten von Polen und war mit ihrem Mann nach Schweden gekommen.

Es sei wichtig, dass sie rasch wieder gesund werde, sagte sie. Sie müsse nach ihrem Mann sehen, der in einem Heim für Demenzkranke lebe. Sie fuhr täglich zu ihm, obwohl er sie nicht mehr erkannte. Sein Arzt hatte gesagt, die Demenz sei wie eine Glasglocke, die den Menschen einsperre. Sie hatte auf jede erdenkliche Weise versucht, die Glasglocke zu durchdringen, hatte geredet, geschrien, mit den Fäusten dagegengehämmert, doch vergeblich. Er war das Einzige, was sie hatte, Kinder hatten sie nie bekommen.

Eines Tages, als sie neben ihm saß, vollkommen verzweifelt, hatte sie ein Lied gesummt, das die Juden in Lublin gesungen hatten. Und plötzlich hatte er eingestimmt, laut wie eine Posaune, hatte die letzte Zeile Mal um Mal wiederholt: Nächstes Jahr in Jerusalem. Das geschah immer wieder, wenn sie die Melodie summte oder sang. Also sang sie für ihn, Tag für Tag. Und er für sie, durch einen Sprung in der Glasglocke.

Als ich die Kardiologie verließ, blieb ich einen Moment in dem gläsernen Gang auf der achten Etage stehen. Die Birken im Innenhof wirkten verlorener als sonst. Im Frühjahr, wenn sich die zarten Blätter zeigten, schienen sie zu dem Stückchen Himmel über sich emporzuschweben. Jetzt aber nicht, jetzt waren sie zwischen den Betonwänden gefangen, wie in der Tiefe eines Brunnens.

Nächstes Jahr in Berlin

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