Читать книгу Nächstes Jahr in Berlin - Astrid Seeberger - Страница 7
Auf der Insel, den 22. Dezember 2012
ОглавлениеEs schneit. Der See, der mit Eis bedeckt ist, leuchtet weiß. In dem großen Jasminbusch vor meinem Fenster hocken kleine Vögel, dick aufgeplustert, als könnte das bisschen Wärme in ihrem Gefieder gegen die Kälte helfen. Es ist sieben Grad unter null. Nachts soll es noch frostiger werden.
Als Kind hatte mir Mutter von einer Kälte erzählt, die es früher einmal gab, einer Kälte jenseits aller Vorstellung. Die Vögel waren hilflos, sagte sie, sie fielen wie Eiszapfen von den Bäumen. Es klirrte, wenn sie auf dem Boden aufschlugen. Und wenn man sie hochnahm, sah man, dass ihre Augen offen standen und eine dünne Eisschicht sie bedeckte. Vielleicht war es in dem Jahr, als Großvater seinen Wolfspelz kaufte, einen Pelz für einen König, lang, mächtig und schön.
Mutter verabscheute Wölfe. Sie heulen, sagte sie, verstummen nie, nicht einmal, wenn sie zu Pelzen geworden sind. Erst wenn sie auch noch das Letzte vom Menschen verschlungen haben, sein zitterndes Herz. Ich erinnere mich an ihre Augen, als sie das sagte, sie wirkten hart. Wie das Gehäuse, in dem sich die Schnecke versteckt, sagte Lech.
Ich höre ihn. Draußen auf der Verandatreppe stampft er den Schnee von den Stiefeln. Er hat Holz aus dem Schuppen geholt. Hält unsere Kachelöfen am Brennen, sorgt dafür, dass wir es warm haben. Ich möchte vom Schreibtisch aufstehen und zu ihm gehen, mich an ihn lehnen. Nur eine Weile still dastehen und seinen Atem spüren.
Auf dem Bildschirm steht das, was eine Geschichte werden soll, nur wenige Sätze, über die Begegnung im Kühlraum. Es gibt Dinge im Leben, die man in Einklang bringen muss.
Ich kriege es nicht zusammen, sagte ich zu Lech, als er mich vorige Woche von Stockholm-Arlanda abholte. Ich war aus Stuttgart gekommen, wo ich Alois getroffen hatte, einen engen Freund von Vater, obwohl Alois katholischer Priester war und Vater Protestant. Als mein erstes Buch in Deutschland erschienen war, hatte sich Alois bei mir gemeldet. In einem Brief an den Verlag hatte er mitgeteilt, er müsse mich treffen. Es gebe etwas, das ich über meine Mutter erfahren sollte.
Lech saß am Steuer. Ich legte meine Hand auf sein Bein. Zu beiden Seiten der Straße türmten sich Schneewälle auf. Der Winter in diesem Jahr war maßlos, Schnee, unter dem alles begraben wurde. Wie die Winter in Ostpreußen, als Mutter noch ein Kind war. Als Großvater und sie in seinem Wolfspelz Platz fanden.
Es fiel mir schwer, meine Gedanken zu ordnen. Ich sah Mutter vor mir, wie sie tot im Kühlraum lag, die Brustwarzen hart wie Nagelköpfe. Der Tod aber ist nicht endgültig. Die Toten bleiben in unserem Leben zurück.
Lech sagt manchmal, er könne noch immer die große, warme Hand seines Vaters spüren. Ich kann mich an die von Mutter nicht erinnern, nur an die von Vater, seine Hand war leicht und klein. Der ganze Mann war feingliedrig. Nur sein Buckel war groß und klobig. Einmal sah ich, wie Mutter ihn schrubbte. Es muss an einem Freitagabend gewesen sein. Wir haben immer freitags gebadet, in einer großen Zinkwanne in der Küche, damals, als ich klein war und wir in Waldstadt wohnten. Wenn Mutter und Vater badeten, musste ich den Raum verlassen. Einmal aber habe ich ihn durch eine Türritze gesehen: Er saß nackt in der Wanne. Und Mutter schrubbte wie besessen auf seinem Buckel herum. Als sie geheiratet hatten, war sein Rücken vollkommen gerade gewesen.
Hätte ich doch ihr Hochzeitsbild noch! Ich erinnere mich deutlich daran. Es hing in einem Rahmen an der Schmalseite des Schlafzimmers, gleich neben dem Fenster, während sich über ihrem Bett ein Kruzifix mit dem gekreuzigten Jesus befand. Vater war damals noch größer als Mutter. Er stand neben ihr, klapperdürr, bekleidet mit einem viel zu weiten Anzug, den er von einem Kameraden ausgeliehen hatte. Große Augen mit intensivem Blick. Und sein braunes Haar stand nach allen Seiten ab, als wäre er in einen Sturm geraten. Er wirkte ungemein jung. Wäre da nicht der kleine Schnurrbart gewesen, hätte man ihn für einen Jugendlichen halten können.
Mutter stand neben ihm, mit ihrem Flüchtlingsgesicht. Das schwere schwarze Haar wallte auf ihre Schultern hinunter. Sie war mit mir schwanger, das blaue Seidenkleid spannte überm Bauch, als hätte sie einen Globus darunter versteckt. Sie hielten sich bei der Hand. Vielleicht war das der Grund, warum sie so seltsam hilflos aussahen.
Ich muss es in Einklang bringen. Mutters Brustwarzen, die an meinen Handflächen scheuerten. Und den Wolfspelz, der sie in die Arme genommen hatte, bevor er jemand anderen umarmte. Und Vaters Rückgrat, das einem Fragezeichen glich.
Ich höre Lechs Schritte. Er kommt zu mir, legt die Arme um meine Schultern. Und ich lehne mich zurück, lege den Kopf an seine Brust. »Ich habe mit dem Schreiben angefangen«, sage ich.