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Stuttgart, den 26. November 2007

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Ich legte mich aufs Hotelbett. Der Regen trommelte immer weiter gegen die Scheibe. Ein Heulen ertönte, wie von einem im Ozeannebel umherirrenden Schiff. Die Nachtschicht in den Autowerken begann. Mutter verabscheute dieses Geräusch. Es ließ sie an das singende Meer denken. Sie sagte, das Meer in Ostpreußen sang, wenn Dunkelheit und Kälte nahten, jedoch nur in der Nacht, bevor es zu Eis gefror, es war ein eintönig summender Laut. Man war wie von Sinnen, wenn man ihn hörte.

Mutter war oft wie von Sinnen. Vielleicht war sie dann am ehesten sie selbst. Oder war sie es dann, wenn sie losrannte? Ich erinnere mich, wie sie gerannt war, eines Abends in Waldstadt, als sie und ich im Garten, den wir außerhalb der Stadt gemietet hatten, Unkraut jäteten. Vater saß auf der Bank und spielte Waldhorn, Melodien, die zu dem goldenen Licht passten, das alles überflutete. Plötzlich hatte sich Mutter aufgerichtet und war mit ihren erdigen Händen und mit Schweißtropfen auf der Stirn losgerannt. War aus dem Garten gerannt, über die Wiese hinweg, weg von uns. Der Bärenklau bog sich zur Seite, sie breitete die Arme aus und flog. Als sie den Fluss erreichte, blieb sie stehen und verharrte dort eine Weile.

Vater hatte aufgehört zu spielen. Er schaute nur noch Mutter an, mit Augen, die ich nie zuvor an ihm gesehen hatte. Warum sah Vater aus wie der Mann in der Jalousie, als dieser die Stiefel auf der Vortreppe betrachtete, die er mit Wasserfarben gemalt hatte?

Als Mutter zurückkam, war sie wie immer. Wir müssten uns ranhalten, sagte sie, es gebe noch jede Menge Unkraut zu rupfen. Vater saß auf der Bank mit dem Waldhorn im Schoß. Erst geraume Zeit später begann er erneut zu spielen, während sein Instrument im goldenen Licht aufleuchtete.


Ich sollte mich erheben und all das in Angriff nehmen, was getan werden muss, wenn ein Mensch gestorben ist. Die Verträge und Abonnements kündigen, Mutters Wohnung, in der es immer einen Platz für mich gegeben hatte, leer räumen. Ich bin jetzt frei, dachte ich, frei von Mutter, frei von der Stadt, frei von allem, was versucht hatte, mich dort aufzufressen. Warum war es trotzdem so schwer?

Als Vater starb, war die Leere in Mutter so groß geworden, dass sie fast nicht mehr existierte. Sie konnte sich an nichts von seinem Begräbnis erinnern. Nicht an die Musik, die gespielt worden war, an keins der Worte, die der Pfarrer gesagt hatte. Nicht einmal daran, wie sie mit der Urne zum Friedwald gegangen waren. Nur an das Loch in der Erde, in dem Vater verschwand.

Am Abend nach dem Begräbnis brach sie zusammen. Sie saß am Esstisch, ohne das übliche Kreuzworträtsel. Und starrte die Tischdecke an, auf der zwischen schneebedeckten Tannen braune Kreuzstichhasen mit rosa Nasen saßen, sie blickten zu einem großen gelben Stern mit Kometenschwanz empor, der über allem erstrahlte. Die Decke hatte sie bestickt, als ich noch ein Kind war, und Vater hatte danebengesessen und Weihnachtslieder auf seinem Waldhorn gespielt.

Ich sagte zu Mutter, dass ich Vater hörte, wenn ich die Decke sähe. Sie schüttelte den Kopf, dann brach sie in Tränen aus, in ein endloses Weinen, als gäbe es einfach keinen Trost. Und sie sagte etwas, das ich nur schwer verstand, obwohl sie es ständig wiederholte: dass sie schuld daran sei, dass Vater gestorben war.

Sie war mitten in der Nacht durch ein Rumsen aufgewacht, es klang, als hätte jemand einen schweren Sack fallen lassen. Sie hatte die Nachttischlampe angeschaltet und gesehen, dass Vaters Bett leer war. Sie hatte sofort gewusst: Er war aufgestanden, er, der absolut nicht allein aufstehen durfte, und war wieder hingefallen. Nach seinen Schlaganfällen hatte er ein Problem mit dem Gleichgewicht und sollte sie wecken, wenn er zum Wasserlassen rausmusste, damit sie ihm helfen konnte. Es ließ sich nicht ändern, dass er sie mehrmals in der Nacht brauchte. Und auch nicht, dass sie zuweilen knurrte, weil sie nicht eine Nacht hatte ungestört schlafen dürfen, und das schon seit mehreren Jahren.

Zuweilen hatte er versucht, allein zur Toilette zu gehen. Manchmal war es gutgegangen, dann wieder war er gefallen. Und jedes Mal, wenn er fiel, brachte sie ihn allein nicht wieder auf die Füße, er war zu unbeholfen und schwer. Sie musste den Hilfsdienst vom Roten Kreuz anrufen, der rund um die Uhr bereitstand. Das aber war teuer. Und in dieser Nacht war er schon einmal da gewesen.

Sie war aus dem Bett gesprungen und hatte Vater im Flur auf dem Boden gefunden, er lag mit seinem mächtigen Buckel auf der Seite und fuchtelte mit seinen dünnen Armen und Beinen in der Luft herum, einem riesigen Käfer gleich. Dieses hilflose Gefuchtel hatte sie vollkommen in Rage gebracht, sie hatte sich auf ihn gestürzt und Dinge geschrien, die sie nie hätte sagen dürfen.

Und Vater hatte mit dem Gefuchtel aufgehört und still dagelegen, vollkommen still, als hätte er begriffen, dass es für ihn keine Hilfe mehr gab. Dann hatte er mit einer Stimme, die ganz tonlos geworden war, gesagt, sie würde ihn hassen, als wäre das eine Tatsache, eine unumstößliche Tatsache. Es hatte nichts genützt, dass sie ein Nein hervorbrachte.

Und mit derselben tonlosen Stimme hatte er ihr befohlen, einen Krankenwagen zu rufen. Er, der sich sein Leben lang geweigert hatte, ins Krankenhaus zu gehen, auch als er seine Schlaganfälle erlitt. Sie kniete neben ihm und bat ihn um Verzeihung. Er dürfe sie nicht verlassen, er sei ihr Leben. Er aber hatte nur gesagt: »Ruf an.« Am Ende hatte sie die Nummer des Notrufs gewählt, viermal musste sie es versuchen, weil ihre Hände so zitterten. Dann hatte sie ihre Daunendecke geholt und sie über ihn gebreitet.

Er hatte mit weit offenen Augen auf dem Boden gelegen. Und sie hatte neben ihm gehockt. Keiner von beiden war auf den Gedanken gekommen, das Licht im Flur anzuschalten. Durch die offene Tür des Schlafzimmers war ein Lichtstrahl von der Nachttischlampe auf Vaters nackte Füße gefallen. Sie sah die Fußgewölbe, wo die Haut wie bei einem Kind rosig war. Und Worte versuchten aus ihr herauszukommen, Worte, die seit vielen Jahren nicht gesagt worden waren, die sie vielleicht nie zu Vater gesagt hatte. Hätte er nicht, als sie ihn gerade sanft berühren wollte, mit derselben tonlosen Stimme gesagt: »Lass das!« Es schnürte ihr die Kehle zu, und die Worte blieben stecken. Sie hockte weiter auf dem Boden, stumm, vollkommen stumm, genau wie er. Als gäbe es für sie beide keine Sprache mehr.

Sie hatte ihn ins Krankenhaus begleitet. Sie begriff sofort, was die Ärzte sagten: dass Vaters Herz versagte. Auch ihr Herz hatte das getan, doch auf viel schlimmere Weise. Zwölf Tage nach der Ankunft im Krankenhaus war Vater gestorben. Jede Nacht aber kam er zu ihr: fiel mit einem Rumsen im Flur zu Boden, immer wieder und wieder. Sprang sie dann aus dem Bett, war er nicht da, kein einziges Mal, niemals mehr.

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