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Auf der Insel, den 2. Februar 2013
ОглавлениеIch war zum Einkaufen in Flen gewesen. Lech besuchte seinen Sohn in Paris. Als ich aus dem Auto stieg, blieb ich stehen. Vom See erklangen Töne, Töne, die an das Geräusch von Herzklappen erinnerten, wie man sie bei einer Ultraschalluntersuchung vernimmt. Es war dunkel geworden. Wenige Sterne zeigten sich in den Wolkenlücken. Die strenge Kälte hatte ihren Griff gelockert. Noch immer aber war der See mit dickem Eis bedeckt.
Mir kam ein Gedicht von Lars Gustafsson in den Sinn. An Seen könne man, wenn das Eis aufbricht, »den dunklen, rätselhaften Klang von tief im Wasser versunkenen Kirchenglocken« hören. Obgleich das hier keine Kirchenglocken waren; es war etwas anderes, als ob der See ein Herz hätte, das schlägt.
Die Töne waren die ganze Nacht zu hören. Man wurde leicht dünnhäutig davon. Es nützte nichts zu wissen, dass Eis bei starkem Temperaturwechsel reißen kann, dass Risse, die das Eis durchziehen, winzig kleine Risse, das Eis zum Vibrieren bringen, wodurch Töne entstehen. Mal um Mal wachte ich auf, und es fiel mir schwer, wieder einzuschlafen. Wie gut wäre es gewesen, wenn Lech hier gewesen wäre.
Als es hell wurde, war das Herz des Sees verstummt. Ich stand auf und trat ans Fenster. Das Eis leuchtete weiß.
Auf der Fensterbank lag das Handy mit einer SMS von Lech. Er war in der Nationalbibliothek gewesen, schrieb er, und hatte die hundert Pinienbäume gesehen, die vom Forêt de Bord dort hingebracht worden waren. Sie sollten zwischen den Sälen voller Bücher einen Wald bilden, doch erinnerten sie sich nicht mehr daran, was ein Wald war. Und die vielen Menschen, die über die Bücher gebeugt dagesessen und nach Antworten gesucht hätten. Wie gut wäre es gewesen, wenn ich da gewesen wäre.
Nach dem Frühstück unternahm ich einen Spaziergang zu dem Hügel, auf dem im Mittelalter ein Dorf gelegen hatte, mit weiter Aussicht über den See. Ich stand zwischen den Mauerresten, die aus dem Schnee ragten. Was hatten die Dorfbewohner getan, wenn sie das Herz des Sees hörten? Nichts war mehr übrig von ihren Gedanken, ihren Gefühlen, ihren Träumen, ihren Ängsten. Nur ein paar Mauerreste im Schnee.
Ich ging weiter. Der verharschte Schnee auf den Feldern trug. Als ich zu der eichenbestandenen Landzunge kam, begegnete mir ein Mann mittleren Alters mit einem Gewehr. Wir blieben stehen und wechselten ein paar Worte über die Töne des Sees. Er hatte sich einen Whisky genehmigen müssen und den Fernseher lauter gestellt. Dann sprachen wir über die Jagd. Die Damhirsche brächten nichts, sagte er, sie seien ausgehungert, schafften es kaum zu fliehen. Das sei keine Jagd, nur reines Gemetzel. Dann ging jeder von uns in seine Richtung weiter. Ich weiß nicht mehr, ob ich ihm viel Glück gewünscht habe.