Читать книгу Nächstes Jahr in Berlin - Astrid Seeberger - Страница 14
Auf der Insel, den 13. Januar 2013
ОглавлениеDie Kälte ist zurückgekehrt. Und es hat erneut geschneit. Taubengraue Wolken hängen am Himmel. Vor einer Weile ist Jan gegangen. Er wohnt auf dem Festland, in einem großen ockerfarbenen Haus. Vor fünf Jahren hatte man ihm eine Lunge entfernt. Der Krebs hatte seine Klauen in ihn geschlagen. Nachdem so viele Jahre vergangen waren, glaubte er, dem Krebs entronnen zu sein. Der aber hatte wieder zugeschlagen. Vorgestern musste er sich von Neuem einer Chemotherapie unterziehen.
Als er heimgekommen war, so erzählte er, hatte er sich, ohne sein Gewehr, zu einem Hochsitz aufgemacht, der etwa einen Kilometer von seinem Haus entfernt steht. Er war hinaufgestiegen und hatte dort in der Dämmerung gesessen. Die Felder leuchteten weiß in der zunehmenden Dunkelheit. Ein Rudel Damhirsche zog langsam vorbei, ein Tier nach dem anderen wie bei einer Prozession. Er hatte ihre dünnen, abgemagerten Körper ganz aus der Nähe gesehen. Als sie im Wald verschwunden waren, hatte er noch immer nicht gehen können. Erst als es schon Nacht war, stieg er hinunter, vollkommen durchgefroren, doch das spielte keine Rolle.
Als Jan gegangen war, setzte ich mich an den Schreibtisch. Ich kann nicht anders. Hat man erst einmal erlebt, wie es ist, wenn man beim Schreiben etwas zu fassen bekommt, das einem lebenswichtig erscheint, muss man es immer wieder erleben. Es ist wie eine Offenbarung.
Und ich musste an die Gans denken, von der Sebald in seinem Roman Austerlitz schrieb. Als Austerlitz zusammen mit der Frau, mit der er hätte glücklich werden können, wäre er nicht verloren gewesen, einen Zirkus besucht und von dem künstlichen Firmament ergriffen ist, das sich in der Dunkelheit über ihm offenbart. Dann sieht er die Zirkusartisten hereinkommen, den »Zauberkünstler und seine sehr schöne Frau und ihre drei schwarzgelockten, nicht weniger schönen Kinder, das letzte von ihnen mit einer Laterne und in Begleitung einer schneeweißen Gans«. Und er fühlt etwas, von dem er nicht weiß, ob es Schmerz oder Glück ist, als die Artisten eine seltsame Musik erklingen lassen, Melodien, die er seit Langem vergessen hat. Es war, sagt Austerlitz später, als ob das Geheimnis aufgehoben gewesen sei in dem Bild der Gans, die, während sie spielten, vollkommen reglos dastand. »Mit etwas vorgerecktem Hals und gesenkten Lidern horchte sie in den von dem gemalten Himmelszelt überspannten Raum hinein, bis die letzten Töne verschwebt waren, als kennte sie ihr eigenes Los und auch das derjenigen, in deren Gesellschaft sie sich befand.«
Einmal war Vater mit einem Sack heimgekommen, in dem eine lebendige Gans steckte. Er hatte sein Waldhorn auf einer Bauernhochzeit ertönen lassen und zur Bezahlung die Gans erhalten. Mutter sagte, er solle sie schlachten. Er ging mit dem Sack und der Axt zum Hackklotz, der sich in einer Ecke des Hofes befand. Als er zurückkam, glänzte die Axt genauso sauber wie zuvor, und der Sack bewegte sich. Also trabte Mutter los, wild entschlossen. Als sie vom Hof hereinkam, baumelte der Gänsekörper von ihrer Hand.
Ich erinnere mich, dass ich dabei war, als sie die Innereien entfernte. Ich hielt das Gänseherz, das noch immer warm war, in der Hand.