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9. Kapitel

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Die Uhr auf dem verstaubten Wandregal, halb versteckt hinter umgefallenen Büchern und Heftern und vom Bett aus kaum zu erspähen, zeigte mit dem kleinen Zeiger bereits auf die Elf. Man musste sich schon aufrichten, um einen Blick zu ergattern, der einem sagte, wie spät es war, bevor man entweder erleichtert auf die Matratze zurücksinken und weiterschlafen oder verstört aus den Federn hüpfen konnte, um den verschlafenen Tag doch noch irgendwie zu retten.

Jakob lag noch im Bett, die Daunendecke neben ihm, aber das Kissen eisern auf und nicht unter seinem Kopf. Er versuchte so der nervenden Sonne einen Strich durch die Rechnung zu machen, die sich Stück für Stück in Position gebracht hatte und nun von Süden her freundlich durchs Fenster lachte, um ihn mit ihren Strahlen wachzukitzeln. Er wälzte sich unruhig vom Bauch auf die Seite und wandte seinem aufdringlichen Wecker den Allerwertesten zu. Doch auch das half nichts. Er drehte sich wieder auf den Rücken und starrte an die Decke. Die Nacht war vorbei!

Also kämpfte er sich hinüber zur Bettkante und schob die Decke beiseite. Dann kramte er die Wollpantoffel unterm Lattenrost vor, zog sie an und setzte sich gequält in Gang. Im Bad angekommen, stellte er sich vor das Porzellanbecken und betrachtete die bräunlichen Perlen in der Senke rund um den silbern glänzenden Ausguss. Das getrocknete Blut vor ihm in der Schüssel riss die Erinnerungen der vergangenen Nacht aus seinem schläfrigen Hirn und beförderte ihn schlagartig zurück in die Gegenwart. Er schaute zur Wanne, die, übersät von aufgerissenen Sc hachteln, Verpackungen, Mullbinden und Heftpflastern, wie eine Müllkippe aussah. Zwei Handtücher hingen über dem Wannenrand und auf dem Fliesenboden lag eine Schere unmittelbar neben seinem zerfetzten Ausgehhemd von gestern Abend.

Er stützte sich auf das gerundete Waschbecken und betrachtete emphatisch sesein Spiegelbild, welches ihn mit aschfahlem Gesicht und einem angeschwollenen Auge begrüßte. Den Cut über seiner rechten Braue hatte er problemlos mit etwas Fibrinkleber geschlossen und auch sonst schaute sein athletischer Körper, auf den er schon ein bisschen stolz war, topfit und kerngesund aus. Die Schürf- und Schnittwunden hatte er in den frühen Morgenstunden noch gereinigt und desinfiziert. Das Ergebnis konnte sich durchaus sehen lassen. All die Furchen, die die Detonation in seinen Körper gerissen hatte, waren bereits verschlossen und man konnte deutlich das frische rosa Fleisch unter der dünnen, noch jungen Haut erkennen. Was für ein erstaunliches Phänomen, Jakob fühlte sich gut, wäre da nicht diese beschissene Bauchwunde!

Poch, poch! Es klopfte am Rolltor. Überrascht verließ Jakob das Bad und ging auf die Treppe zu. Er befand sich im Obergeschoss seiner Wohnung, wo sich neben dem Bad auch noch das Schlaf-, das Gäste- und das Arbeitszimmer befanden. Das Erdgeschoss war zum größten Teil ein offener Saal, quadratisch und in jeder Ecke mit einer verklinkerten Säule ausstaffiert. Es diente ihm hauptsächlich als Werkstatt und war vollgestopft mit allem möglichen Krimskrams aus etlichen Projekten. Man konnte es als sein persönliches Atelier bezeichnen, auch wenn die uralte Küche, so sehr man sich auch bemühte, keinesfalls ins Bild passte. Sie schien den liebevoll gestalteten Raum regelrecht zu verschlingen wie ein fetter grauer Elefant inmitten einer zierlichen Blumenwiese, heruntergewirtschaftet und alt.

Es klopfte erneut.

„Ich komme ja schon!“, brüllte Jakob und warf sich ein T-Shirt über. Sein zügiger Gang brachte die Stahltreppe zum Schwingen und mit jeder Stufe, die er nahm, ertönte blechern ein feiner Gong. Er öffnete das quietschende Rolltor, welches sich als Tür seines bescheidenen Heims herausstellte und stand, nur mit Shirt und Shorts bekleidet, vor zwei Männern, die ihn durch ihre dunklen Sonnenbrillen anstarrten.

„Jakob Lemmon?“

„Wer will das wissen?“

„Der Weihnachtsmann“, gab der kleinere von den beiden Pinguinen kalt zurück, die Gesichtszüge steif und unnahbar. In schwarze Anzüge gewickelt, sahen die Jungs wie Zwillinge aus und, abgesehen von dem skurrilen Unterschied in der Körpergröße, meinten sie es todernst, das verriet ihm sein Bauchgefühl. Also tat Jakob das, was er in solchen Situationen immer tat, er hörte auf seine innere Stimme und antwortete den beiden.

„Ja, der bin ich.“

Ungläubig schauten sich die beiden an. Nach längerem Warten öffnete der größere Typ sein kleines Mobiltelefon und linste, die Augenbrauen zusammengezogen, auf das Display. Schließlich begann er zu nicken. Jakob vermutete sein Foto auf dem mickrigen Bildschirm, das den beiden die Gewissheit verschaffte, dass er wirklich der war, für den er sich gerade ausgab, bevor sie mit ihrem Anliegen herausrückten.

„Wir haben den Auftrag, Sie nach Wien zu eskortieren.“

„Wien?“ Jakob war sichtlich irritiert. Was sollte er denn in Österreich und überhaupt, wer waren die beiden dunklen Gestalten an seinem Tor und in wessen Auftrag kamen sie?

„Das ist ja schön für Sie, doch leider Gottes sehe ich da ein klitzekleines Problemchen auf uns zukommen“, sagte er nüchtern. „Mein Auto hat sich erst kürzlich, nun, sagen wir mal, in Rauch aufgelöst.“ Er zog die Schultern unschuldig dreinblickend nach oben, doch seine beiden neuen Freunde ließ die Story freilich kalt. Entschlossen traten sie ein Stück zur Seite und ermöglichten Jakob so einen flüchtigen Blick auf die glänzend schwarze Limousine vor seinem Haus. Die Sonne spiegelte sich auf dem Perllack und am Steuer saß noch so ein harter Artgenosse.

„Noch Fragen?“

„Eigentlich passt es mir momentan überhaupt nicht.“

„Sie haben eine Minute“, zischte der Große jetzt finster, und um Jakob die nötige Dringlichkeit zu verklickern, schlug er mit der Faust eine breite Delle in den Rahmen des Tores.

„Den NSD lässt man nicht warten!“

***


Das Flugzeug drehte eine zusätzliche Runde über den mikroskopischen kleinen Vororten der Stadt, bis der Crew endlich die lang ersehnte Freigabe zur Landung erteilt wurde. Mit einer weiten Kurve flog der Kurzstrecken-Airbus von Osten her die Landebahn an, langsamer werdend und allmählich an Höhe verlierend. Ein jeder, der hier landete, fragte sich, wo die Berge blieben. Einen Flughafen in Österreich assoziiert man doch unmittelbar mit schwierigen Bedingungen wie spitzen Felsen und schmalen Tälern, die den Piloten alles abverlangen. Doch Schwechat war anders, bedrohlich wirkten hier nur die schlanken Schlote der Raffinerien am westlichen Ende des Flughafens, mit gigantischen Tanks, die einen ungemein feindseligen Teppich voller hochgefährlicher Inhaltsstoffe bildeten. Ansonsten sah Jakob nur Hügel und Felder, Bäume und Dickicht unter sich, Meter um Meter näherrückend, so als schaute er durch eine Lupe. Gelassen hielt er sich die Nasenflügel zu und schluckte mehrmals, um das nervige Druckgefühl in seinem Gehörgang zu vertreiben, das sich immer wieder aufgrund des enormen Höhenverlusts an seinem Trommelfell festkrallte. Auch seine wortkargen Freunde vom NSD, einer auf dem benachbarten Sitzplatz und die anderen beiden eine Sitzreihe weiter, plagte ein ähnliches Leiden. Schluckend und aufstoßend, taten sie es Jakob gleich, der plötzlich vertieft, entrüstet und verärgert über seine Gutgläubigkeit nachdachte.

Du bist ein außerordentlicher Idiot, ging er hart mit sich ins Gericht. Vor wenigen Stunden hat man dich noch umlegen wollen und jetzt sitzt du im Flieger nach Wien mit drei Typen, denen du nicht einmal vertraust. Hast dich einfach mit dem Hinwies auf die NSD abspeisen lassen, ohne auch nur einmal einen Dienstausweis oder etwas Ähnliches zu verlangen, wie ein eingeschüchterter, blauäugiger Grundschüler, der, bedroht von der Schülermiliz, beklommen mitgeht. Selbst ins Auto der drei Primaten bist du einfach so eingestiegen, blind vor Dummheit. Ein niederschmetterndes Fazit.

In sich gekehrt und verstimmt, wie er war, fröstelte es ihn. Er hoffte, dass ihm seine Naivität nicht den Kopf kosten würde. Auf der anderen Seite jedoch, so erwog er ruhig und sachlich, lebte er noch. Sein Kopf saß fest wie eh und je auf seinen Schultern, sein Herz trommelte kräftig in seiner Brust und keinerlei Gedärme baumelten ihm aus der Bauchdecke. Auch hatte es nicht den Anschein, dass er als aufgequollene Wasserleiche auf dem Grund irgendeines Sees zwischen Elbe und Donau mit zig kiloschweren Ketten an den Fußgelenken enden würde. Wenn es also dieselben Personen wären, die ihn bereits letzte Nacht hatten beseitigen wollen, folgerte er, hätten die es wohl längst getan. Und insgeheim baute er auf die ehrbare Eigenschaft der Aufrichtigkeit. Seine Begleiter würden ihn schon sicher beim NSD abliefern, so hoffte er, und ließ den Blick einmal quer über die Sitzreihen schweifen. Aber dennoch, sicher ist sicher, die strengen Anweisungen des Flugpersonals waren ein Klacks, verglichen mit seinen Sorgen.

Heimlich kramte er sein Mobiltelefon aus der Tasche und schaltete es, die linke Schulter abgewandt, in der kleinen Lücke zwischen Sitz und Bordwand ein. Geschickt tippte er mit kurzen Schlägen eine Nachricht und legte diese im Verteiler ab, bevor er sie an seine Freunde mit einem einzigen Befehl versandte. Im allerschlimmsten Fall wusste jetzt wenigstens eine Handvoll Studenten, wo man beginnen könnte, nach ihm und seinen Überresten zu suchen, falls er sich doch geirrt hatte und nicht mehr auftauchen sollte.

Ein Ruck ging durchs Flugzeug und Jakob nahm, dabei sein Telefon zurück in die Hosentasche schiebend, senkrecht auf seinem Sitz Platz. Der Pilot hatte das Flugzeug soeben sicher auf der Landebahn aufgesetzt und die Geschwindigkeit seines Vogels nach unten geschraubt, sodass es jeden Passagier ein wenig aus der Sitzschale hob. Schließlich kam das Flugzeug sicher und wohlbehalten zum Stehen.

Erleichtert schaute Jakob aus dem kleinen Loch neben sich, das Fenster war gerade mal so groß wie eine Wassermelone. Er hatte wieder festen und in diesem Fall grauen Betonboden unter seinen Füßen, der das gesamte Rollfeld ausschmückte und von gleichmäßig angeordneten Rillen durchzogen schien. Ihm fielen die endlosen dicken, tiefschwarz gefärbten Streifen ins Auge, die kreuz und quer ineinanderflossen und so dem weiten Rollfeld ein Muster verliehen, das sich ungleich über das gesamte Flughafenareal ausbreitete. Der Abrieb von wahrscheinlich tausenden Flugzeugen, die hier in den letzten Jahren gelandet waren, um letztlich wieder vollbeladen und vollbetankt weiterzufliegen.

Jakob schloss die Augen und blickte gedankenvoll durch eine Scheibe. Er sah im Zeitraffer den Flughafen, einem gigantischen Bienenstock ähnlich, in dem trotz des unumgänglichen Durcheinanders das Ergebnis einer einwandfreien Logistik überraschte. Tower, Fluglotsen und Betankungsfahrzeuge. Signalfarben, Treppen und Autobusse. Koffer, Taschen, Stress und Gewusel, Menschen, so weit das Auge reichte. Jakob wünschte sich die befreiende Ruhe seines Einsiedlerateliers zurück. In seine Eindrücke platzte das urplötzlich sich wieder meldende Leben an Bord. Seine Begleiter lösten die Gurte und standen auf, bereit, den Airbus schnellstmöglich zu verlassen.

Das Gleiche verlangten sie nun auch von Jakob, der sich durch die schroffen Anweisungen, die ihm keine Entscheidungsfreiheit ließen, zurück in die Vergangenheit katapultiert fühlte. Er erinnerte sich an ein Tafelbild in einer Vorlesung aus dem ersten Semester seines Studiums. Nach und nach kroch dieses Bild aus den hintersten und entlegensten Winkeln seines Hirns hervor und wurde vor sein inneres Auge projiziert: Danach befand sich der Hauptsitz des Nationalen Sicherheitsdienstes in der Rue Linois im fünfzehnten Arrondissement von Paris. Genau so hatte es Professor Friedmann an der Kreidetafel skizziert, ohne auch nur in einer Randnotiz die Stadt Wien zu erwähnen.

Jakob taumelte benommen. Bedrängt von dem Wunsch die Flucht zu ergreifen, schaute er langsam zu einem der Hünen vor ihm im Gang auf, bis er in dessen dreckig grinsendes und widerwärtiges Gesicht blickte.

„Los, den NSD lässt man nicht warten!“

R.O.M.E.

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