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5. Kapitel

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„Setzt euch.“

Jakob und Neraj nahmen auf der grünfarbigen, fleckigen und abgewetzten Couch neben dem geöffneten Fenster Platz. Unzählige Risse durchzogen das Leder. Wie vielen Studenten dieses Möbelstück schon eine Sitzgelegenheit geboten hatte, ließ sich in Zahlen nicht feststellen. Aber es müssen viele gewesen sein, sehr viele, dachte Jakob.

Der Professor nahm drei Tassen von dem Wandregal.

„Tee?“

Jakob und Neraj stutzten und schauten sich an. Das Schweigen im Raum deutete Friedmann letztendlich als ein unmissverständliches Nein.

„Dann eben nicht.“

Er platzierte zwei Porzellantassen zurück an ihre Stelle. Das Wasser im Kocher brodelte bereits und Friedmann nahm den Behälter von der Heizspirale. Er öffnete einen Flügel des kleinen Hängeschränkchens direkt über der Spüle und fand die Blechdose mit dem Zucker. Etwas konsterniert schielte er hinein.

„Heute müssen wohl zwei Würfel reichen.“

Er nahm die letzten beiden Zuckerstücke heraus und ließ sie in seine Tasse mit dem Granulat fallen.

„Ihr trinkt beide keinen Tee?“

„Nicht so gerne.“

„Und du?“

Jakob schüttelte seinen Kopf.

„Wollt ihr dann etwas anderes haben? Ein Wasser?“

„Warum eigentlich nicht?“, entgegnete Neraj und stupste roh ihren wortkargen Platznachbarn mit dem Ellenbogen an. Aufdringlich fragte sie: „Willst du auch ein Wasser?“

Jakob schüttelte erneut seinen Kopf.

„Nein, ich möchte nichts, danke.“

„Okay, bekommt halt nur Neraj ein Wasser.“ Friedmann bückte sich und holte ein Fläschchen Mineralwasser hervor. Er öffnete den Verschluss gekonnt an der Tischkante und reichte seiner Schülerin die Flasche.

„Noch ein Glas?“, fragte er.

„Geht schon“, sagte Neraj und nahm einen Schluck.

„Hatte ich mir schon gedacht, ist uncool, stimmts?“

Sie musste schmunzeln und der Professor wandte sich wieder seinem Heißgetränk zu. Er nahm die weiße Tasse mit dem Goldrand in seine linke Hand und den Behälter in seine rechte. Vorsichtig goss er das dampfende kochende Wasser auf. Aus der Brusttasche seines Polohemdes zauberte er einen kleinen Löffel hervor, mit dem er gemächlich wie in Zeitlupe das Wasser, den Zucker und das Granulat umrührte. Schnell wandelte sich das schwache Rosa in ein kräftiges, leckeres Rot. Friedmann nahm eine Kostprobe. Er schlürfte ein paar Tropfen vom Rand der Tasse und stellte diese sofort zurück auf den Untersetzer.

„Heiß“, sagte er und drehte sich dabei um. Er suchte mit seinem Körper jetzt Halt an der Spüle. Halb sitzend und halb stehend, lehnte er an dieser und schaute zu Jakob und Neraj hinüber, die sich ein wenig unbehaglich fühlten. Trotz seiner Bemühungen, ungeniert und höflich zu wirken, wollte das Eis zwischen ihm und seinen zwei Schülern auf dem Sofa nicht brechen. Er umklammerte seine Tasse und rührte ohne Ziel darin herum, überlegend, wie er fortfahren sollte.

„Also gut“, mutmaßte er letztlich, in sich gekehrt. „Ich habe absolut keinen Schimmer, was da zwischen euch beiden läuft. Aber eure kleine Vorstellung eben im Hörsaal war jedenfalls hoch interessant.“

Jakob horchte auf.

„Das sehen Sie falsch, Professor. Zwischen mir und Neraj läuft überhaupt nichts! Das können Sie umgehend wieder von Ihrer Festplatte löschen.“

„Ach komm schon, Schatz.“ Neraj nahm Jakobs Hand.

„Kannst du das lassen!“, empörte sich dieser, es ärgerte ihn bereits ungeheuer, dass die halbe Schule dachte, er und Neraj wären ein Paar. Doch nun hatte es diese Schlange auch noch geschafft, dem Professor dies Lügenmärchen aufzutafeln, ganz frei nach dem Leitspruch: Was sich neckt, das liebt sich. Doch damit konnte er nicht leben. Er konnte immer noch für sich selbst sprechen und musste die Sache klarstellen, Friedmann von der falschen Fährte abbringen.

„Hören Sie, es tut mir leid, dass wir vorhin Ihre Vorlesung geschmissen haben. Es hatte sich am Ende aufgeschaukelt in der Hitze des Gefechtes. Es wird niemals wieder vorkommen, das verspreche ich Ihnen.“

Friedmann nippte an seiner Tasse.

„Kein Problem, Jakob, wirklich nicht.“

Er nahm erneut einen Schluck.

„Ich empfand es als belebend und total überzeugend. Nerajs Vergleich mit den Diamanten und deine Ausführungen waren Gold wert, genau richtig, um all den Schülern vor Beginn der Semesterferien ihre Bedeutung ins Gedächtnis zu rufen. Die Studenten dieser Universität sind die Zukunft der Republik, diese Verantwortung kann man nicht oft genug rekapitulieren. Ich habe euch beiden zu danken.“

Verwundert sahen die zwei zu Friedmann auf. Hatte der sonst so kalt wirkende Veteran des Staates sich soeben allen Ernstes bei ihnen bedankt?

„Ich versteh nicht ganz?“

„Was verstehst du nicht?“

„Ich dachte, wir hätten Sie gekränkt?“

„Ach was. Ihr müsst verstehen, dass ich als Professor und stellvertretender Direktor dieser Universität mein Gesicht zu wahren habe. Wenn ich Schwäche zeige, tanzt mir bald die ganze Elite auf der Nase herum.“

„Das leuchtet ein.“

„Ich will euch beiden mal etwas verdeutlichen, um beim kubisch kristallisierten Kohlenstoff zu bleiben.“ Friedmann rührte wieder in seinem Tee. „Der Diamant ist doch quasi das härteste Mineral auf unserem Planeten, das ist ein anerkannter, wissenschaftlich bewiesener Fakt?“

„So weit ich weiß“, stimmte Neraj zu.

„Und um ihn bearbeiten zu können, braucht es was?“

„Einen zweiten“, ging Jakob schnell dazwischen.

„Ja, vorausgesetzt, das edle Steinchen befindet sich noch in seinem gefestigten und gehärteten Zustand, mein Lieber“, wandte Jakobs besserwisserische Platznachbarin anmaßend ein, sodass dieser mit den Augen zu rollen begann. Neraj und ihre schwulstigen Beiträge gingen ihm gehörig auf den Senkel. Er winkte ab.

„Schon gut. Gehen wir also davon aus, dass sich beide Kristalle in ihrem ursprünglichen, festen Zustand befinden und nicht in einem geschmolzenen, Neraj.“

„Dann ist es definitiv nur möglich, den einen Diamanten mit einem anderen zweiten Diamanten zu bearbeiten“, stellte Jakob klar.

„Entdeckt ihr die Parallele?“

Jakob war sich nicht sicher. Neraj dafür jedoch schon.

„Natürlich“, sagte sie. „Ein Student kann letztlich viel effektiver und wirkungsvoller von einem anderen Studenten geformt werden.“ Sie deutete mit den Mittel- und Zeigefingern beider Hände Anführungszeichen an.

„Bingo!“, der Professor schlürfte derweilen wieder seinen Tee. „Wisst ihr, die Schüler dieser Universität können mich nicht besonders gut leiden, das ist kein Geheimnis, sondern eine weit verbreitete Ansicht. Euch jedoch vertrauen sie umso mehr.“ Friedmann stand vor der Spüle und stellte seine Tasse drauf ab. „Jakob, Neraj, ihr beiden habt Fußstapfen hinterlassen, fruchtbare Fußstapfen, wenn ich für die moderne Demokratie sprechen darf. Ihr habt euren Kommilitonen auf fundamentale Weise etwas vermittelt, wie ich es niemals hätte besser tun können!“

Emmerich begann sich zu räuspern, auf seinen Rucksack zusteuernd. Er war irgendwie eine drollige Person, ein Mann Ende der Fünfziger mit längerem, lichtem Haar, das er von der einen Seite seines Kopfes auf die andere als Scheitel hinüberzog. Ein birnenartiger Zinken stach aus seinem Durchschnittsgesicht heraus, durchzogen von Unmengen klitzekleiner Äderchen, die ihm zu Unrecht das Vorurteil eines Säufers einbrachten. Er war kräftig gebaut und sein schlaksiger Gang erinnerte Jakob jedes Mal an eine Zeichentrickfigur.

„Sag mal Jakob, wie weit bist du eigentlich mit deinem Abschlussprojekt?“, wollte Friedmann plötzlich und ohne eine Vorwarnung wissen. „Benötigst du noch Hilfe?“

Jakob blickte auf die Papierrollen, die neben ihm auf der Couch lagen. Kein Einziges seiner Projekte war vollendet.

„Ich bin im Soll“, log er.

„Ausgezeichnet, das hört man gern.“ Während der Professor dem Fortschritt seines Schützlings nachforschte, zerrte er einen dicken Batzen gefalteter Karten aus dem Rucksack.

„Achtung“, bemerkte Neraj.

Friedmann sah auf den Stapel und begriff, dass sich der Haltegummi im Reißverschluss seines Tornisters verklemmt hatte und augenblicklich zu zerreißen drohte.

„Ups!“, murmelte er. „Den brauchen wir noch!“

Vorsichtig zog er das Gummi aus der Falle.

„Was ist das?“

„Die Einladungen für Jakobs Ausstellung.“

„Darf ich?“

Friedmann reichte Jakob und dann Neraj ein Exemplar.

„Was meint ihr?“

„Dass Lemmon sich ranhalten muss.“

Jakob sah Neraj ärgerlich an, weil sie wusste, dass er mit der Fertigstellung seiner Ausstellungsstücke ein paar Probleme hatte. In einem dussligen Moment seinerseits hatte sie davon Wind bekommen. Natürlich konnte man von ihr nicht erwarten, dass sie dieses Wissen vernachlässigen oder gar ganz für sich behalten würde. Jakobs Freude darüber hielt sich in Grenzen.

„Wie darf ich das verstehen“, wollte der Professor wissen.

„Ach, nur so. Ich meine, so eine Ausstellung ist eben ein ganzes Stück Arbeit. Aber Jakob wird das schon schaffen. Wer sonst, wenn nicht er?“

„Das glaube ich auch.“ Friedmann nickte, sich damit zufriedengebend. „Wir haben schließlich den Besten“, lachte er und ergänzte: „Dieser Frühlingsabend wird sicherlich für jeden Kunstliebhaber unserer Stadt zum Pflichttermin. Und Jakob, die ersten Zusagen habe ich bereits erhalten. Politik und Adel freuen sich darauf, dich kennenzulernen. Ich kann es kaum erwarten, Lemmons Atelier zu sehen. Dein erster Beitrag, um diesem Staat etwas von dem zurückzugeben, was er dir geliehen hat.“

Der Professor strahlte über beide Ohren. Würde er auch so genügsam schauen, wenn er die Wahrheit wüsste, dachte Jakob. Auf dem Papier war es sein Projekt. Doch der Einfluss der Future Group of Europe unter dem Schutzschirm des ach so tollen und brillanten Professors Emmerich Friedmann war nicht von der Hand zu weisen. In Wirklichkeit brüstete dieser sich mit fremden Federn vor der Elite des Landes, mit Jakobs Federn, die hart erarbeitet waren. Vielleicht war ja dies die Ursache für seine künstlerische Gedankenstarre?

„Hier, der Stapel ist für dich.“ Friedmann übergab das Paket an Jakob. „Wenn du noch welche benötigst, sag einfach Bescheid, ich lasse gerade einige hundert Abzüge nachdrucken, okay?“ Dann ging er wieder an die Spüle und schaute nach seiner Tasse. Schließlich nahm er zum wiederholten Male einen Schluck Tee daraus und stellte sie zurück auf den Unterteller. Die Temperatur seines Getränkes schien jetzt gerade richtig zu sein.

„Im Übrigen gibt es da noch etwas.“

„Was denn jetzt noch?“ Neraj tippte ungeduldig mit ihren Fingern auf der ledernen Armlehne. Den letzten Tag in diesem Semester wollte sie nicht stundenlang mit Jakob und Friedmann in einem Schulbüro verbringen. Schließlich gab es auch noch Wichtigeres. „Bei allem Respekt …“

„Das betrifft euch beide“, unterbrach sie der Professor.

Neraj stellte ihr Tippen ein.

„Mir ist der Bescheid eures mehrwöchigen Wehrdienstes zugefallen. Im neuen Jahr geht es los, quasi als Bestandteil des Abschlusssemesters. Es führt euch beide an die See, auf die Halligen und an den Nordwall.“

„Na super, Strand und Meer“, spaßte Neraj. Doch Jakob war alles andere als nach Scherzen zumute, vor diesem Tag X hatte er sich seine gesamte Studienzeit über gefürchtet. Die Möglichkeit als Student dieser Universität, den Dienst an der Waffe zu verweigern, gab es zwar, doch nicht für ihn. Er gehörte zu einem auserwählten arischen Geschlecht und war dadurch zwangsweise zum Dienst verpflichtet.

„Nun komm schon, es hätte auch bedeutend schlimmer kommen können. Dir sagt doch bestimmt Gora Kazbek etwas, Georgische Republik?“ Der Professor drehte den Globus ein wenig. „Jetzt mal ganz unter uns. Wir drei kennen doch die wahre Bedeutung eurer Existenz. Was soll euch denn schon passieren? Neraj wird ihr Medizinstudium durch den Dienst um ein Kapitel erweitern und du, Jakob, sicherst acht Wochen die Grenze. Danach hast du noch genügend Zeit, um deiner Ausstellung den benötigten Feinschliff zu verpassen.“

Der Professor schien im Recht. Der Nordwall zwischen England, das sich seit der Revolution zu den Amerikanern und deren Verbündeten zählte, und dem Neuen Europa war die wohl ungefährlichste Option, da es sich dabei um die am besten und effektivsten abgesicherte Grenze des gesamten Imperiums handelte. Im Kaukasus hingegen wartete der sichere Tod. Jakob schien bekehrt.

„Sie haben Recht, Professor.“

„Das freut mich. Alles Weitere dann später.“

Neraj schaute auf die Uhr.

„Und ja, das war es jetzt endgültig.“

„Na dann, wir sehen uns heute Abend, Jakob!“

„Ja, vielleicht bis später.“

Neraj stand auf, nahm ihre Mappen, spazierte durch die offene Tür und verschwand allmählich am Ende des langen Korridors, die Wasserflasche immer noch in der Hand haltend. Jakob und der Professor folgten vergnügt ihrem bezaubernden Anblick.

„Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich mir dieses Juwel nicht entgehen lassen, ein Traum von einer Frau, findest du nicht auch?“

„Sind Sie jetzt auch noch mein Beziehungsguru?“

„Ich mein ja nur.“

„Was meinen Sie?“

„Das du zu wählerisch bist.“

„Es ist weiß Gott nicht ihr Aussehen, was mich stört.“

„Sondern?“

Sondern ihre paranoide Art, dachte Jakob.

„Wissen Sie was, vergessen Sie es einfach.“

„Warum? Ich finde, ihr passt ganz wunderbar zusammen! Manchmal müssen halt Menschen auf ihr Glück hingewiesen werden. Ich wäre froh gewesen, wenn das hin und wieder mir passiert wäre.“ Friedmann musterte aus dem offenen Fenster den Universitätseingang. „Überleg doch mal, Jakob. Sie ist bildhübsch, intelligent und ein Spross der ersten Stunde, so wie du. Das macht vieles einfacher in einer Beziehung. Keine Geheimnistuerei, wenn du verstehst, was ich meine.“

Jakob sträubte sich gegen diesen Gedanken, doch tief in seinem Innersten musste er Friedmann erneut Recht geben: Er und Neraj, das könnte passen. Sie trug das gleiche Geheimnis mit sich, ein Geheimnis, welches nur ganz wenige Personen kannten. Er wusste es von ihr und sie es von ihm. In der Tat würde das eine Verbindung einfacher gestalten, wenn da nicht diese endlos nervenden Ticks und diese herrische Art wären, die ihm so an ihr missfielen. Und warum war das dem Professor überhaupt so wichtig?

Jakob schaute hinüber zu dem alten, gewichtigen Mann am Fenster und richtete sich auf. Er vergewisserte sich, dass sie alleine waren, ging auf Friedmann zu und blieb dicht vor dessen Gesicht stehen. Er schaute den Professor eindringlich an und fragte.

„Weshalb Neraj?“

Emmerich war überrumpelt. Für einige Sekunden ließ er es zu, dass Jakob ihn in seinen Bann zog. Mit allerletzter Kraft warf er seinen Kopf zur Seite und widerstand der Attacke.

„Vergiss es, Lemmon!“, protestierte er.

Jakob, seine tiefschwarzen Pupillen geweitet, ließ locker und Friedmann wandte sich, das Haupt leicht gesenkt, ab.

„Alles, was du wissen musst, habe ich dir gesagt, der Rest bleibt mein Geheimnis, verstanden? Mein Innenleben ist kein Tagebuch für dich oder sonst irgendjemanden, kapiert! Und jetzt entschuldige mich.“

Der Professor ging zügigen Schrittes zur Tür. Auf halber Strecke drehte er sich um und drohte mit erhobenem Finger.

„Mach das nie wieder, Lemmon, nie wieder!“

R.O.M.E.

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