Читать книгу R.O.M.E. - Attila Heller - Страница 12
10. Kapitel
Оглавление„Petru, was machst du da?“
„Nichts, Mutter.“
„Du sollst mich nicht anlügen!“, schimpfte Violeta und zog dabei den dürftigen Fetzen beiseite, der die schmale Ecke vom restlichen Wohnraum der alten Hütte abtrennte.
„Das hab ich nicht!“
„Und was ist das?“, mit ihrem Finger zeigte Petrus Mutter auf das Schnitzmesser in seiner linken Hand. Er hockte auf der abgenutzten Matratze und vor seinen Füßen türmte sich gefährlich nahe am offenen Feuer einer Kerze ein Häufen abgehobelter Späne. Seine andere Hand versteckte er geschickt unter der Wolldecke, die zerknautscht auf seinem Schlaflager lag.
„Wir haben bald Weihnachten“, erklärte er schüchtern.
Violetas versteinerte Miene wandelte sich sogleich in ein gütiges Lächeln. Gerührt und mit Schuldgefühlen im Bauch, stand sie vor ihrem zehnjährigen Jungen, der sie mit seinen kaffeebraunen Augen ansah. Er ist so ein lieber, hilfsbereiter Bursche, erkannte sie erneut, und trotzdem ertappte sie sich zunehmend dabei, ihren über alles geliebten Petru gegenüber, der eine liebevollere Mutter als sie verdient hätte, unduldsam zu sein.
In Violetas Seele stieg der Drang auf, einfach loszuheulen. Eine kleine Träne kullerte ihr über die Wange und benetzte die aschfahle Haut ihres schönen Gesichtes.
„Ich hab dich lieb“, sagte sie schließlich und zog dabei sanft den Vorhang zu, der Petrus bescheidenes Reich absteckte.
Sie widmete sich wieder ihrer Arbeit. Sie hoffte, dass ihr Sohn ihre Liebe spüren könnte und dass er sie ebenfalls liebte, wenn man das als ihr Kind denn überhaupt konnte. Ihre Unzulänglichkeiten ließen sie daran zweifeln, jedoch die Tatsache, dass ihr Sohn heimlich an einem Geschenk arbeitete, schenkte ihr neue Hoffnung.
„Ich hab dich auch sehr lieb“, flüsterte Petru durch den dürftigen Raumteiler hindurch und trat damit eine für ihn unerwartete Gefühlslawine seiner Mutter los. Ergriffen und überwältigt, sackte diese plötzlich in sich zusammen und ließ, mitten im Raum kauernd, ihren Tränen mit einer Mischung aus Schuld-, Glücks- und Mitgefühl freien Lauf.
Irritiert linste der Kleine durch seinen Spion, einen Riss im schmutzigen und vom Küchengeruch stinkenden Vorhang, genau auf seiner Augenhöhe. Er beobachtet seine Mutter, die mit Heulkrämpfen kämpfte und sich irgendwie in einer Ecke der armseligen Hütte mit Arbeit abzulenken versuchte, was um diese Jahreszeit äußerst schwierig war. Denn hier oben, gefangen in Eis und Schnee, waren die Wintermonate mit ihrer Einsamkeit und Finsternis, Langeweile und Kälte eine physische Hölle für sie. Selbst das bevorstehende Fest brachte nur wenig Abwechslung. In vier Tagen würde alles vorbei sein und der Gedanke an die kommenden Wochen, gar Monate, reichte aus, um Violeta in ein riesiges, tiefschwarzes Loch mit messerscharfen Zähnen fallen zu lassen, das jeden Funken Hoffnung im Keim erstickte. Sie konnte das archaische Leben hier, ohne Strom und Wasser und den Komfort eines richtigen Bades, kaum noch aushalten.
Für ihren Mann, einen Bergbauern, der seine Familie mit dem Böttchern von Fässern, einem seltenen und aussterbenden Handwerk, über Wasser hielt, hatte sie ihr altes Leben aufgegeben und es gegen ein erbärmliches neues getauscht, welches sie schleichend aufzufressen drohte. Kartoffeln ernten und Stall ausmisten waren an die Stelle von Kinobesuchen und Essengehen getreten.
Violeta stoppte vor dem Kamin und starrte in das Feuer. Sie legte vorsichtig ein dickes Holzscheit nach, verzückt von den knisternden Flammen, die sofort danach griffen und es verschlangen. Sie musste stark sein und durfte nicht in den Flammen ihres Lebens zugrunde gehen. Ihr Mann Dumitru hing nicht an dem kleinen Berghof und eines Tages würden sie es sich leisten können: ein besseres Leben.
Petru wiederum sah das Leben mit seinen kindlichen Augen. Er verstand noch nichts von Verantwortung und den weiteren Problemen und Sorgen der Erwachsenen, diese schienen ihm oft undurchdringlich und an den Haaren herbeigezogen. Petru empfand seine Kindheit als eine schöne Zeit, auch wenn er kaum mehr als die Sachen besaß, die er an und bei sich trug. Er war sehr glücklich, denn das Allerwichtigste, was ein Kind überhaupt haben konnte, hatte er, ein sorgsames und liebevolles Zuhause. Er war gesegnet und gerne der Sohn von Dumitru, dem strebsamen Böttcher und Bergbauern, und seiner Frau Violeta.
Petru schwang sich wieder zurück auf die Matratze und schlug seine Decke zurück, bis sein Glanzstück offen vor ihm lag. Selbstkritisch nahm er es unter die Lupe. Das kleine Reh, welches er seit einigen Tagen heimlich schnitzte, war genau so, wie er es sich vorgestellt hatte, es war perfekt. Die Proportionen, beginnend mit den langen, zugespitzten Ohren bis hin zu den dünnen Läufen, stimmten auf den Millimeter. Er freute sich, mit diesem Geschenk konnte er nur punkten.
Leise schlich er in die hinterste Ecke seines Raums und hebelte mit dem Messer eine Diele vom Boden auf. Darunter befand sich eine Schachtel, eingewickelt in ein Leinen, das Petru bedächtig abband. Stolz legte er das Reh neben die beiden anderen, kleineren Schnitzfiguren, die sich schon in der Kiste befanden, und wickelte das Leinen wieder drum herum. Die Geschenke für seine Eltern hatte er schon vor vielen Wochen fertiggestellt. Das süße Reh war für jemand ganz bestimmten reserviert.
Nachdem Petru die Schachtel wieder sicher unter der Diele verstaut hatte, zog er den Vorhang auf und ging geradewegs auf Violeta zu, die in einem Topf auf der Kochstelle rührte und Mamaliga, eine Art Maisbrei, zubereitete, direkt neben der Tür zum Stall.
„Mamà“, sagte Petru, „darf ich nach Valea Mare?“
„Jetzt noch?“, fragte Violeta überrascht.
„Ich bin auch pünktlich zum Abendessen zurück.“
Sie schaute ihn ungläubig an.
„So wie beim letzten Mal?“
„Ach bitte, Mamà!“
Mit dem Zeigefinger im Kochtopf kostete Violeta den Brei. Sie war sich nicht sicher, doch letztlich gab sie dem Drängen ihres Sohnes zögernd nach.
„Meinetwegen, aber bitte halt dich an dein Versprechen und sei vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück, hörst du?“
Petru nickte, nahm seine gepolsterten Wintersachen, zog die uralten Schneeschuhe über und verschwand schleunigst durch die Tür.
Von dem bescheidenen Berghof, den Petru zusammen mit seinen Eltern bewohnte und der seit vielen Generationen in Familienbesitz war, waren es höchstens zwanzig Minuten bis zum Dorfplatz von Valea Mare. Ein eiskalter Wind fegte ihm um seine rote Nase, so ziemlich dem einzigen Körperteil, welches schlecht verpackt der Kälte trotzen musste und an dem ein zäher Rotztropfen hing. Doch kaum hatte er die Waldlichtung, auf der im Sommer die Schafe und der Ochse grasten, überquert, beruhigte sich das Wetter prompt. Bäume und Sträucher breiteten ihre Schutzmäntel über ihm aus und hielten den feindlich gesinnten Wind von ihm fern, der am Waldesrand wie an einer Mauer abzuprallen schien.
Außer Atem erreichte er die Straße, die D17, und sprang wegen der sperrigen Schneeschuhe in Windeseile über den vereisten Asphalt. Dabei hätte er sich alle Zeit der Welt lassen können, denn kein Auto, kein Lastkraftwagen, nicht einmal ein wackeliges Ochsengespann war unterwegs und in der Lage, ihn ungebremst und ohne Rücksicht über den Haufen zu fahren. Der weiße Schnee lag noch immer so am Straßenrand, wie er seit Wochen gefallen war, keine Menschenseele machte sich daran, den Fußweg freizuräumen und die Massen gefrorenen Wassers zu beseitigen. Darum liefen er und ein altes Mütterchen, das ihm entgegenkam, auf der Fahrbahn.
„Bunà ziua“, sagte er.
Die Alte beachtete ihn nicht. Sicher dachte sie, er wäre einer dieser unverschämten Burschen aus dem Dorf, die nichts als Flausen im Kopf hatten und im Winter gerne die Türen von alten Menschen vereisten, indem sie einen ganzen Kübel Wasser darübergossen und dem Frost den Rest überließen. Er entdeckte seine Schule, eingeschneit auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Jedes Jahr wurde sie mit dem Einbruch des Winters geschlossen, wodurch Petru gezwungen war, sich über etliche Wochen und Monate, je nachdem, wann der Frühling wieder erwachte, die Zeit auf dem Berghof zu vertreiben.
Petru dachte an seine Klasse – im Übrigen die einzige an dieser Dorfschule – und zählte in Gedanken alle Schüler auf. Es waren dreizehn an der Zahl und fast alle stammten aus Valea Mare, außer ihm und zwei anderen Jungen, die von den umliegenden Höfen aus den hohen Bergen zum Unterricht ins Tal kamen. Der Priester, Pater Vadim, war gleichzeitig ihr Lehrer. Er unterrichtete alle Fächer: Mathematik, Rumänisch, Deutsch, Geschichte und Musik. Selbst den Sportunterricht ließ er sich nicht nehmen, auch wenn er dabei selten eine gute Figur machte, und natürlich Religion. Nichts war ihm wichtiger als der heilige Vater und sein zu Fleisch gewordener Sohn Jesus Christus.
Petru lief es kalt den Rücken runter, wenn er nur daran dachte. Er assoziierte den Glauben, Gott und Religion mit den Schnitzbildern, die in seinem Klassenzimmer hingen. Düster und brutal zeigten sie einen immer büßenden Jesus, der, mit einer Dornenkrone bestückt, das Haupt schlaff geneigt und mit eingefallenem Gesicht, am Kreuze hing. Sollte der Glaube nicht etwas Befreiendes sein? Petru fühlte es jedenfalls nicht. Eher beklemmend und einschüchternd wirkten die Statuen auf ihn und liebend gerne hätte ihm dieser Teil der Schule gestohlen bleiben können. Jedoch war es Pater Vadim zu verdanken, dass er begann, auch etwas Sinnvolles und durchaus Befriedigendes aus den Lehren der Kirche zu ziehen.
Mittlerweile hatte er den Dorfplatz erreicht. Die kleine Kirche mit dem Glockenturm leuchtete warm und freundlich, erleuchtet vom Licht unzähliger Kerzen. Durch die großen Fenster drang ihr Schein nach außen und spiegelte sich im Neuschnee der vergangenen Stunden, den Petru jetzt mit seinen Schneeschuhen zermatschte. Er schlich die Seitenwand des Gotteshauses entlang, begleitet von Pater Vadims Orgelspiel. Am hinteren Teil der Kirche angekommen, linste Petru über den dürftigen Zaun. Im Schuppen nebenan und direkt vor einem Häuschen brannte Licht. Sie war da!
Petrus kleines Herz pochte jetzt schneller. Seit fast zwei Wochen hatte er Estera nicht mehr gesehen, da sie bei einer Tante in der Stadt auf Besuch gewesen war. Sie war alles, woran er seit Tagen denken konnte, anziehend, mit braunem Haar und einem makellos weißen Gesicht. Petrus Gedanken ließen ihm die Knie weich werden und mit einem Mal verließ ihn sein Mut. Wollte sie ihn denn überhaupt wiedersehen? Sein leerer Magen verknotete sich, Schmetterlinge kreisten, er fühlte sich unwohl und wollte schon unbemerkt wieder davonziehen, als sich plötzlich der Zugang des Schuppens öffnete und Estera freudestrahlend heraustrat.
„Was machst du denn hier?“, fragte sie überrascht.
Petru verschlug es die Sprache. Vor Scham rot werdend, zuckte er mit den Schultern und war nicht fähig, irgendeine Silbe herauszubringen. Und als dann auch noch Corvin den alten Schuppen verließ und ihn verwundert anstarrte, war es im Nu verflogen, sein Selbstbewusstsein.
„Ach, ich verstehe.“ Corvin blickte zu Estera, die still am Zaun den Klettverschluss ihrer Jacke befestigte und Petru anteilnehmend ansah. „Estera verbringt den Nachmittag mit mir, kapiert? Verzieh dich, du halbe Portion.“
Verdattert und ohne ein Quäntchen Mumm in den Knochen, stiefelte Petru los. Was konnte er, der nette Junge vom Berghof, schon gegen so eine Großschnauze ausrichten? Corvin war viereinhalb Jahre älter und mindestens zwei Köpfe größer als er und vermöbelte am liebsten seine Mitschüler. Wenn Estera unbedingt Zeit mit einem öligen Primaten verbringen wollte, musste er das akzeptieren, auch wenn es tief in seinem Innern schmerzte. Was sollte sie, eine Zwölfjährige, auch mit einem zehnjährigen Kind anfangen?
Trübselig und niedergeschlagen folgte er seinen eigenen Spuren, die er auf dem Hinweg zu Esteras Heim im Schnee neben der Kirche hinterlassen hatte. Das Reh wird nun ganz bestimmt Mutter zu Weihnachten bekommen, schlussfolgerte er.
„Ja, ja, schleich zurück auf deinen Berg, du Bauerntölpel. Was hast du schon zu bieten? Eine Kuh oder ein Schäfchen vielleicht? Oder schnitzt du klammheimlich Holzstatuen, weil ihr euch nichts Besseres leisten könnt?“
Petru hielt inne. Dieser elende Hund kostete den Erfolg auf eine sehr gemeine Art und Weise aus, die weit unter die Gürtellinie reichte. Er machte sich lustig über seine Familie und stellte sich selber als etwas Besseres, Wertvolleres dar. Er behandelte ihn wie Dreck. Sein Hirn war schlagartig von Rachegelüsten befallen. Er sah einen Haufen Schnee neben sich auf der Fensterbank liegen und griff danach. Schön vereist war dieser und Petru malte sich schon Corvins schmerzverzerrtes Gesicht aus, wenn ihn der Eisball mitten in die Fresse treffen würde. Er blieb stehen, die Kugel gut versteckt zwischen seinen zu einer Höhle gekrümmten Händen. Der Mantel musste richtig hart sein. Er schaute zurück, Corvin gab ein gutes Ziel ab, der Zaun reichte diesem nur bis zur Brust.
„Es tut mir leid“, hörte er Estera noch rufen, doch es war zu spät. Im selben Atemzug zischte der Eisball durch die kalte Luft und plättete Corvins Stirn, sodass dieser lauthals schreiend rückwärts zu Boden plumpste. Im Schnee liegend, hielt er sich die Schläfe und blickte orientierungslos um sich.
„Petru!“, schrie Estera. „Spinnst du?“
„Wieso ich?“
Estera schaute ihn wütend an, der wiederum auf Corvin blickte.
„Der hat angefangen, nicht ich. Es ist seine Schuld!“
Plötzlich öffnete sich die Hintertür der Kirche und Pater Vadim stand mit verschränkten Armen im modrigen Gewölbe. Er blickte zu Corvin, auf dessen Stirn sich eine gigantische Beule von der Größe eines Hühnereis gebildet hatte, die damit drohte, augenblicklich das Küken freizugeben. Anschließend wandte er sich zu Petru. Mit finsterer Miene schaute er ihn an, umhüllt von einem faltenreichen Umhang, der nur so weit zusammengebunden war, dass stets das golden leuchtende Heilige Kreuz der Kette jedem ins Auge sprang.
„Ist das dein Werk?“, mit dem Finger zeigte er auf Corvin.
In diesem Moment realisierte Petru, was er soeben getan hatte. Er hatte sich einen vierzehnjährigen Draufgänger zum Feind gemacht, einen Jungen, der keine Gelegenheit auslassen würde, sich an ihm zu rächen. Er hatte Pater Vadim, einen Mann, der fortwährend Nächstenliebe predigte, enttäuscht und nicht zuletzt das Mädchen, in welches er vernarrt war. Alles geriet außer Kontrolle. Er spürte Angst und Scham in sich emporsteigen, die ihn regelrecht zwangen, sich nicht der Konfrontation zu stellen, sondern wegzulaufen, was er auch tat. Mit einer gewandten Drehung kehrte er seinen Problemen den Rücken und lief davon, einfach fort in Richtung Straße.
„Eh, bleib stehen, du Mistkerl!“ Corvin war außer Rand und Band, als er realisierte, dass Petru sich aus dem Staub machen wollte. „Bleib stehen oder du kannst was erleben, das schwör ich dir!“
Mit dieser Drohung sprang er über den wackeligen Zaun, das Herz voll Hass, die Gesichtszüge kalt und verschlossen, und nicht einmal Esteras Bitten konnte daran etwas ändern. Zu tief saß der Stachel der Demütigung.
„Denk daran, mein Sohn“, waren die letzten Worte die er aus Pater Vadims Mund vernahm, bevor er auf die Straße einbog und sein Wild in einiger Entfernung die steile Böschung in den angrenzenden Wald hinaufsteigen sah.
***
„Wo bist du, Petru? Komm endlich raus!“
Regungslos hockte Petru, halb liegend und festgefroren, mit angezogen Beinen unter einem entwurzelten Nadelbaum, verborgen zwischen Erdklumpen, etwas Wurzelgestrüpp und feuchtem Schnee, der ihm in den Nacken tropfte. Er hatte die Hände gefaltet und sich so weit gedemütigt, dass er Gott um Hilfe dafür anhielt, dieser schmerzhaften Heimsuchung irgendwie entrinnen zu können. Und wenn ihm Gott da oben mit einem Wunder half, war ihm das inzwischen recht, denn seine eigenen Fähigkeiten hatten ihn ja nicht sonderlich weit gebracht. Corvin klebte ihm entsetzlich dicht auf den Fersen und je näher er Petrus Versteck kam, desto eindringlicher hinterfragte dieser seine Wahl.
Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, in den Wald zu flüchten. Was, wenn dieser Hund kein Ende findet? Was, wenn Corvin den Ehrgeiz besitzt, ihn bis zum bitteren Ende zu jagen? Nicht auszumalen, wenn er sein Versprechen, vor dem Sonnenuntergang daheim zu sein, nicht einhalten könnte. Seine Mutter wäre enttäuscht und die Konsequenzen würden nicht lange auf sich warten lassen: Stallausmisten, Kerzenziehen, Hausarrest, Petru schluckte, und das über die Feiertage.
Er überlegte. Genau genommen saß er doch bloß wegen seiner Schneeschuhe hier fest. Diese übergroßen Schlappen, die auf schneebedeckten Wiesen und Feldern ausgezeichnete Arbeit leisteten, freilich aber keinen Erfolg im Wettrennen mit einem gefühlskalten Jungen brachten. Und sie auszuziehen, schien hier im Wald als Alternative aus, denn er benötigte seine Zehen noch. Es waren schlichtweg diese Schneeschuhe, die ihn dazu genötigt hatten, in den dunklen Busch zu laufen, um seinem Jäger gegenüber im Vorteil zu sein. Doch dieser war schnell, höllisch schnell.
Durch zwei unförmige Wurzelstrauche hindurch konnte Petru jetzt Corvin erkennen, den nur noch wenige Schritte vom Versteck trennten und der launig um sich blickend zu Boden spuckte. Bloß keine falsche und unkontrollierte Bewegung machen, befahl er seinem Körper, der weiterhin in Fötusstellung gekrümmt im Erdloch lag.
„Komm jetzt raus und stell dich, Feigling!“
Corvin hielt an, lässig in die Knie gehend und einen Blick auf die vor ihm weiß glitzernde Fläche werfend. Umsichtig begann er den Waldboden nach möglichen Spuren zu prüfen. Er tastete mit seinen Händen die Furchen aus, die Petru hinterlassen hatte, und fing an, fies zu schmunzeln. Auf perfide Art nahm er etwas Schnee zwischen seine breiten Fingerkuppen und eröffnete arglistig sein Spiel, indem er diesen zerbröselte und laut lachte. Dann hob er den Kopf und schaute direkt auf Petrus Schutz bietenden, entwurzelten Baum.
„Na, Petru, hast du dich verkrochen?“
Corvin richtete sich auf.
„Hast du gedacht, du könntest einfach wegrennen?“
Corvin begann zu laufen.
„Ich finde dich, hörst du!“
Corvin machte einen Satz nach vorn.
„Falsch“, hallte es mit einem Mal durch den gedämpften Winterwald. „Vielleicht habe ich das ja schon. Was denkst du, Feigling?“
Unter dem Eigengewicht Corvins brach knackend ein morscher Ast. Mit eisiger Gelassenheit kam er gemächlich Schritt für Schritt auf Petrus Versteck zu, bis er unmittelbar vor dem kleinen Erdloch, in welchem der besorgte Junge, halbverdeckt durch einen buschigen Schleier rausgerissener Wurzelwerke, kauerte, stehen blieb.
„Nein, du wirst dafür bezahlen.“
Petru hielt die Luft an. Sein Schal war triefend nass, zu viel Schnee war ihm in den Kragen seiner Jacke gefallen und dort geschmolzen. Auch sein Atem befeuchtete die stachlige Wolle, die sich um seinen Mund schloss. Er zitterte stark, Kälte und immer stärker werdende Angst setzten ihm zu, bis er kurz davor war, sich kräftig in die Hosen zu machen. Der Jäger neben ihm ruhte, er brauchte nur noch das dreckige Wurzelgestrüpp zur Seite zu ziehen.
Corvin streckte seinen Arm aus und drückte die flache Hand in den Naturschleier, als wollte er diesen jeden Augenblick beiseitezerren.
Petru kroch noch weiter in sich zusammen. Er wollte schreien und setzte gerade dazu an, als Corvin unerwartet seine Hand sinken ließ. Stattdessen holte er mit beiden Armen Schwung, sprang über den Baum, plumpste knirschend zu Boden und war aus Petrus Blickfeld verschwunden.
„Was hat das jetzt zu bedeuten?“, dachte Petru. „Ein Wunder.“ Und während er über diese außergewöhnlich gnädige Wendung seines Schicksals nachsann, krachte Corvin durch das Geäst in sein Erdloch. Mit knappen Griffen packte er ihn und zerrte ihn ohne große Mühe auf den Rücken. Er hatte sich wie ein Raubtier angeschlichen und sich den Moment einer aufkommenden Hoffnung in Petrus kleiner Brust herzlos und barbarisch zunutze gemacht.
Petru schrie, doch nichts als ein weinerliches Jammern kam hervor, zweckmäßig gedämpft durch Corvins Hand, die auf seinem Mund klebte. Wirkungslos waren seine Bemühungen, sich zur Wehr zu setzen. Untragbar das Gewicht, welches auf ihm lag und alles Winden und Zappeln erdrückte. Er spürte Corvins Knie in seiner Magengegend und bereitete sich innerlich auf die Faust vor, die ihm schonungslos eine derbe Abreibung verpassen würde. Er schloss die Augen.
„Pst, sei ruhig.“
„Hmm“, stammelte Petru.
„Du sollst ruhig sein, verdammt noch mal!“
Petru öffnete seine Augen. Corvin kauerte auf ihm, den Zeigefinger auf die Lippen gepresst, und deutete an, seine Hand von Petrus Mund nehmen zu wollen. Vorsichtig tat er dies.
„Darf ich nicht schreien, wenn du mich vermöbelst?“
„Halt die Klappe.“
„Was?“
„Du sollst einfach deine dumme Klappe halten, oder ist das für einen Bauern zu schwer zu begreifen? Sei einfach still, sonst überlege ich es mir doch noch einmal anders!“
Petru glotzte Corvin überrascht an. Unerwartet lockerte dieser seinen Griff, huschte von dem kleinen Körper herunter und legte sich neben diesen auf den Bauch, das Gesicht in Richtung Wurzelgestrüpp.
„Also doch ein Wunder“, urteilte Petru und sah Corvins Stirn, die oberhalb der rechten Schläfe doppelt so groß wie auf der anderen Seite war. Dann schob er seine Mütze zurecht, eine wuschelige Kappe mit Ohrenlappen aus Kaninchenfell, die unterhalb seines Kinns mit einem Knoten geschlossen wurde. Zurückhaltend fragte er: „Darf ich?“
Corvin nickte und Petru drehte sich vom Rücken auf den Bauch. Beide lagen jetzt dicht nebeneinander im Bau, Jäger und Gejagter, stumm, reglos und gleichmäßig atmend.
„Siehst du den da?“
Jakob schaute in den Wald.
„Wer ist das?“
„Wenn ich das wüsste, hätte ich mich wohl kaum zu dir ins Erdloch verkrochen. Du kannst von Glück reden, dass der da aufgetaucht ist.“
„Vielleicht sollte ich mich bei ihm bedanken.“
„Natürlich, klar. Vielleicht lädt er dich auch gleich zum Abendbrot ein, als Hauptspeise. Hast du denn nur Stroh in deiner Rübe? Du solltest mal dein Gehirn einschalten, bevor du von einem Schlamassel in das nächste hineinläufst.“
Petru begriff langsam, was Corvin ihm damit sagen wollte, denn vor seinem Schneeballwurf hatte er tatsächlich keinen einzigen Gedanken an die Folgen verschwendet. Und dieser Mann da draußen, wer weiß, was der auf dem Kerbholz hatte, komisch sah er ja schon aus.
„Verdammt!“
„Was ist?“
„Der hat gerade unsere Spuren im Schnee entdeckt.“
Petru suchte sich ein größeres Guckloch.
„Der kommt ja auf uns zu.“
Mit einem Mal wurde beiden ganz unwohl zumute, denn mit jedem Schritt, den der Unbekannte näher trat, eröffneten sich immer weitere, beunruhigende Einzelheiten. Es war ein großer und kräftiger Mann mit mächtigen Pranken wie die eines Bären. Er trug seltsame Kleidung, untypisch für diese Jahreszeit. Dünne Hosen und eine legere Jacke, dunkelblau und weiß oder grau gestreift. Keine Mütze. Keine Handschuhe. Nicht einmal einen Schal, der ihn vor der Kälte geschützt hätte. Sein Äußeres schüchterte sie ein, allem voran ein abstoßender, durchgeknallter Gesichtsausdruck, der panisch und dennoch zu absolut allem entschlossen auf Corvin und Petru wirkte.
„Und was jetzt?“
„Ich weiß es nicht, Petru.“
Ganz anders als Corvin vorhin, steuerte dieser Riese mit schnellen, zielstrebigen Schritten auf das Versteck zu. Nach nur wenigen Sekunden stand er vor dem umgefallenen Baum. Er musterte die halb im aufgerissenen Erdboden vergrabene Wurzel.
Schnell, mit einem Schwenk hatte er die Wurzelstränge beiseitegerissen und die zwei zu Tode erschrockenen Jungen, die keinen Mucks von sich gaben, entlarvt. Mit aufgerissenen Augen starrte er die beiden an. Corvin und Petru waren vor Schreck so eng zusammengerückt, dass sich nun sogar Platz für eine dritte Person in der Erdmulde bot. Beide waren wie gelähmt. Die Bestürzung beim Anblick dieses Mannes beherrschte sie. Er kam näher und drückte sein hässliches, unrasiertes, ungewaschenes und von Rissen durchzogenes Gesicht in den Bau. Dann ermöglichte er den Jungen die Sicht auf seine gelben Zähne, zwischen denen man die Reste der letzten Mahlzeiten sehen und auch riechen konnte. Corvin wurde übel, Petru dagegen kämpfte erneut mit seinem Harndrang und beide fragten sich, was wohl jetzt mit ihnen geschehen würde, ob die Defensivtaktik, die sie eingeschlagen hatten, wirklich die Richtige war.
Der Mann riss die beiden auseinander. Ohne Probleme zog er Petru aus dem Loch und schleuderte ihn einige Meter weit kopfüber in den Schnee. Corvin fing zu schreien und zu strampeln an, als ihm der Riese die Hand an den Hals legte. Doch anstatt zuzudrücken, knotete er Corvin den Schal auf, zog ihn herunter und legte ihn sich um den eigenen Hals. Dann ließ er von ihm ab, ging auf Petru zu, der noch halb benommen im Schnee lag, und klaute auch diesem mit einer Bewegung den locker sitzenden Wollschal. Anschließend zerriss er diesen und band sich die Fetzen um seine Hände. Er schaute noch einmal auf Petru, dann zu Corvin und im nächsten Moment war er im Unterholz einer angrenzenden Baumgruppe verschwunden.
Petru und Corvin sahen sich an. Der eine im Schnee auf dem Rücken liegend, der andere im Erdloch hockend und sich die Kehle haltend.
„Willst du mich immer noch vermöbeln?“
„Nein, ich will nur noch nach Hause!“