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7. Kapitel

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Das grüne Licht der Ampel schimmerte auf die furchige, von endlosen Teerklumpen zusammengehaltene Straße und wies den wenigen Kraftfahrern, die aus dem Stadtzentrum Richtung Norden fuhren, freie Fahrt. Der Kreuzungsbereich, geräumig gestaltet, war unterteilt in jeweils zwei Fahrbahnen in beide Richtungen und zwei äußere Spuren zum Rechts- beziehungsweise Linksabbiegen. Ein kleiner Tross an Autos überquerte diese in gleichmäßigem Tempo. Den Abschluss bildeten zwei aufsehenerregende Mittelklasse-Limousinen, die Seite an Seite auf den beiden mittleren Spuren synchron vorankrochen. Aus dem dunkleren der Sportwagen drangen dumpfe Bässe nach draußen, hörbar und spürbar für alle, die sich in unmittelbarer Nähe befanden. Beide Fahrzeuge waren tiefergelegt und hatten einiges an Optik zu bieten, Carbon & Chrome, so weit das Auge reichte.

Mit einem Mal heulten die Motoren auf, hunderte von Newtonmeter prügelten schlagartig auf die Kurbelwellen ein und ließen die Wagen wie Geschosse nach vorne schnellen. Mit einem heftigen, ohrenbetäubenden Getöse fegten die zwei Kontrahenten über den Asphalt. Die Ampel hatte bereits die Farbe geändert und war im Begriff, von Orange augenblicklich weiter auf Rot zu wechseln, als der Fahrer des weißen Wagens, abgeschreckt von den möglichen Folgen eines Verkehrsdeliktes, abrupt von seinem Vorhaben abließ und voll in die Eisen stieg. Der Glanz seiner hell aufflammenden Rückleuchten übertraf den der inzwischen auf Dunkelrot stehenden Ampel um einiges. Mit quietschenden Reifen kam er kurz hinter der Haltelinie zum Stehen, während der andere Wagen triumphierend an ihm vorbeizog und die Kreuzung passierte. Im selben Moment zuckte das Blitzlicht des an der Straßenecke festgemachten Kontrollkastens auf, eine stählerne Box, die an einem dünnen Pfosten in den Fußweg eingelassen war.

Idiot, dachte Jakob und schüttelte gehässig seinen Kopf. Noch so ein bekloppter Rowdy, dokumentiert, archiviert und freigegeben für die erbarmungslose Hetzjagd der gefürchteten Justiz des Landes, die einem Stamm launischer Kannibalen ähnelte.

Jakob rieb sich die Nase und stellte die Musik lauter. Im Rundfunk spielte der Programmleiter einen durch Einsatz einer Bassdrum neu aufgelegten Oldie im Viervierteltakt ab, was schon eher etwas für ihn war als jenes Gehämmer von eben. Seine Blicke richteten sich auf den Kasten mit der kleinen Kamera. Eigentlich, meinte er jetzt, hätte er es einfach mal tun sollen: sein Hirn ausschalten, voll auf Durchzug, und mit allem, was sein Baby hergab, über die Kreuzung brettern, den Moment auskosten und diesen Affen im schwarzen Importwagen in die Schranken weisen.

Doch sein Leben nach Herzenslust zu leben, mal Spaß zu haben, ohne immer an die Folgen zu denken, hatte Jakob längst verlernt. Dabei wären die etwaigen Folgen ein Witz gewesen. Die Behörden hätten die Bilder ausgewertet und festgestellt, dass sie ihm nichts anlasten könnten oder vielmehr dürften. Als Ringträger und zukünftige Persönlichkeit des Landes war er mit dem Status „Unantastbar“ versehen und somit für einen einfachen Beamten schon jetzt eine Nummer zu groß. An und für sich genoss er das auch, seine Immunität, die gewisse Freiheiten erlaubte, ihn aber auf der anderen Seite unweigerlich zum Diener des Ganzen machte. Denn am Staat und an seiner Berufung hegte er keinerlei Zweifel.

Grün. Jakob schaltete in den ersten Gang und gab Gas. Er überquerte die Kreuzung und beschleunigte sein Auto in der stolzen Manier eines Rennfahrers in Nullkommanix auf über neunzig Stundenkilometer. Er hatte sich dazu durchgerungen und pfiff auf die Folgen, welche Folgen denn auch?

Nach einigen hundert Metern verließ er die Hauptstraße und bog an einem trostlos wirkenden Aufgang einer U-Bahn-Station ab. Er machte sich nicht erst die Mühe zu bremsen, sondern schlitterte wie auf einer vereisten Fahrbahn um die Ecke. Sein Wagen lag wie ein Stein auf der Straße und zog die Blicke einiger junger Leute auf sich, die gerade den Tunnel heraufkamen. Jakob schaltete runter und beschleunigte wieder. Er fuhr schneller und bretterte nun regelrecht über das alte Fabrikgelände, auf dem er sich mittlerweile befand. Die enorme Beschleunigung seines Boliden drückte ihn immer tiefer in den Sitz, der ihn fast zu verschlingen drohte. Er konzentrierte sich, denn die vielen schmutzigen Lagerhäuser standen, verlassen und düster, bedrohlich nahe an der Strecke, die durch einen alten Drahtzaun auf der anderen Seite zusätzlich begrenzt war. Gefesselt vom Rausch der Geschwindigkeit, erreichte er das Ende der Straße. Abrupt zügelte er sein Tempo und blieb vor einer grauen Pipeline, die ihm buchstäblich den Weg abschnitt, stehen. Behutsam ließ er den Wagen über den Absatz des Bordsteins rollen und folgte einer schmalen, mit zahlreichen Steinen gepflasterten Gasse, die sich zwischen der Pipeline und einer Mauer auftat. Nach wenigen Augenblicken hatte er die kleine Straße passiert und stand nun vor einem hell erleuchteten Backsteingebäude, dem Glaswerk 21. Er war am Ziel und parkte seinen Schlitten direkt neben einem alten Bekannten, einem schwarzen Japaner.

***

Das Glaswerk 21 war der angesagteste Club der Stadt, eine uralte Fabrik, umgewandelt zu einem ultramodernen und noblen Schuppen. Die riesige Halle war vor wenigen Jahren bis auf die Grundmauern entkernt und anschließend vollständig saniert worden. Ein gelungener Akt, stellte Jakob immer wieder fest, denn er mochte diese radikal erneuernde Art von Kunst. Die stämmigen Mauern erstrahlten dunkelrot und über dem Eingang hing eine riesengroße, aus Edelstahl gestaltete und beleuchtete „21“, die im alten Ziegelwerk verankert worden war. Attraktiv hohe Glasfassaden begrenzten den Bau und ließen auf den ursprünglichen Zweck dieses Gebäudes, eine Glasfabrik, schließen. Doch die Öfen glühten schon lange nicht mehr. Alles, was jetzt noch vor Hitze dahinschmolz, waren die zahlreichen, brechend vollen Tanzflächen im Kern der einstigen Fertigungshalle am Rande Berlins.

Jakob riegelte mit der Fernbedienung seinen Wagen ab und ging einmal quer über die Straße. Am Eingang wartete schon eine Horde angetrunkener Typen, einer angetrunkener als der andere, die an den Türstehern, drei Türmen mit Schultern doppelt so breit wie normal, nicht vorbeikamen.

Jakob schon. Er quetschte sich an dem pöbelnden Mob entlang, der ihn böse und lautstark zu beschimpfen begann. Die Stimmung sank rapide. Ein Kerl mit tief hängender Hose, Kapuzenpulli und Basecap packte ihn am Arm und zischelte wütend: „Hinten anstellen, Arschloch!“

Jakob sah auf seinen Arm. Eine kräftige Hand mit einer schlangenförmigen Tätowierung hatte sich um seinen Bizeps gewickelt und hinderte ihn daran, weiterzugehen. Er erkannte auf Anhieb die Klaue, es war dieselbe Hand, die er zuvor am Lenkrad in dem schwarzen Wagen neben sich gesehen hatte. Welch interessante Fügung des Schicksals, dachte er, und mit todernster Miene blickte er sein Gegenüber an. Doch noch ehe er etwas sagen konnte, mischte sich einer der drei Riesen ein.

„Gibt es ein Problem?“, wollte der Türsteher wissen und während er die beiden fixierte, bemerkte der den matt glänzenden Ring an Jakobs linkem Finger und begann gleich, die Streithähne zu trennen, indem er sich energisch wie zielstrebig dazwischenschob. „Alles cool, alles cool, okay?“ Dabei schaute er zu dem Typen mit dem Kapuzenpulli.

Zögerlich wich dieser einen Schritt zurück und vergrub die Hände tief in den Taschen seiner Hose. Der Türsteher wiederum gebrauchte keine Worte mehr, um zu verstehen zu geben, dass Jakob ihm folgen sollte und der schnaufende Kappenträger nicht. Ohne ein Nachspiel folgte Jakob den mit Muskeln bepackten Fleischklops ins Innere des Partytempels. Sein Status als Ringträger hatte ihn mal wieder zum Gewinner gemacht.

Schon der Glastunnel hielt all den Erwartungen stand und war den Eintritt vollends wert. Lang sich hinziehend, bildete er die Aorta des gesamten Clubs und verband dessen Bereiche miteinander, das Erdgeschoss und das Stockwerk darüber. Jakob lief durch die Röhre und begutachtete das Panzerglas. Gebogen wölbte es sich über seinem Kopf und ließ, je nach Abschnitt, freien Blick auf hunderte Beine, die sich über ihm auf den Tanzflächen tummelten. Platzangst wäre hier fehl am Ort. Es war ein bedrückendes Gefühl, unter den Unmengen von Lederschuhen und Sneakern hindurchzulaufen, zumal der Boden, mit einer Art Spiegelglas versehen, das Gewusel prima reflektierte. Unterschiedlichste ebenfalls aus Sicherheitsglas bestehende Schiebetüren verbanden die Räume mit einem Stollen, ehe dieser anstieg und in Form einer Kehre zum obersten Stockwerk führte. Dort angekommen, zwängte sich Jakob an einem knutschenden Paar vorbei, das sich direkt vor dem Eingang zur Lounge positioniert und die Welt um sich herum völlig vergessen hatte.

Jakob trat ein und ließ seinen Blick über die Menschen schweifen. Die vielen Grüppchen saßen an den Tischen zusammengepfercht wie Schweine, die auf den Schlachter warteten, Bier trinkend, grölend und lachend. Ein abstoßendes Bild, welches ihm die Lust auf diesen Abend gleich wieder nahm. Er wollte schon auf dem Absatz kehrtmachen, als ihn eine wohlbekannte Stimme ansprach.

„Hi, Süßer.“

Ohne zu schauen, wer da neben ihm stand, sagte Jakob: „Hallo, Neraj.“

„Schön, dass du gekommen bist!“

„Ach ja, wie soll ich es sagen …“, trickste Jakob.

„Dass du mich unbedingt sehen musstest?“

„Was ist schon eine Party ohne mich, oder?“

Neraj lachte und reichte ihm ein Glas. Jakob lehnte ab.

„Na, dann folgen Sie mir mal unauffällig, Mister wichtig.“

Neraj ging voran. Sie schlängelte sich durch die vielen Gänge, ihre beiden Gläser dabei fest in den Händen haltend. Elegant umkurvte sie einige Hindernisse des aus Menschen, Hockern und Tischen bestehenden Parcours. Ihr Charme schien sie geradezu schweben zu lassen.

Jakob hingegen hatte es schon etwas schwerer. Er war für die vielen angetrunkenen männlichen Gäste nicht ganz so attraktiv und daher eher ein Rivale auf dem Schlachtfeld der Partnersuche. Aus welchem anderen Grund waren die meisten denn sonst hier? Es ging doch offensichtlich fast allen immer nur um das eine, wie das innige Pärchen am Eingang zur Lounge ausdauernd bewies.

Genüsslich musterte er seine kleine Gefährtin. Neraj sah überwältigend aus, wie eine indische Perle eingewickelt in ein hautenges, schulterfreies Minikleid. Ihr pechschwarzes Haar reichte bis knapp über den süßen Po und auch sonst waren ihre wohlgeformten weiblichen Rundungen eine Augenweide. Prompt musste er an die Worte des Professors denken.

Neraj stoppte und sah über ihre gebräunte Schulter zurück, um sich zu vergewissern, dass ihr Jakob immer noch folgte. Dann deutete sie auf eine Sitzecke. Dort saß der Rest der Truppe fröhlich vereint und feierte in Hochstimmung.

„Hey Leute, schaut mal, wen ich mitgebracht habe.“

Andrej sprang auf und umarmte seinen Kumpel.

„Toll, dass du es doch noch geschafft hast“, freute er sich.

„Wir waren gerade dabei, euren grandiosen Auftritt von heute Nachmittag auszuwerten, das war ’ne Bombe, der alte Friedmann hat ganz schön geschluckt.“

„Längst überfällig.“

„Ach, ich weiß nicht.“

„Absolut überfällig“, die Gruppe war sich einig.

„Aber jetzt setzt euch doch erst einmal zu uns.“

In der Sitzecke rückten Andrej, Nelson, Erik und zwei Mädchen, die Jakob nur vom Sehen her aus der Uni kannte, zusammen, sodass Neraj und er noch Platz darauf fanden.

„Hast du schon etwas zu trinken?“

„Er wollte nicht.“

„Das lass ich heute nicht durchgehen, Alter, heute nicht.“ Andrej stand sogleich auf und blickte um sich. Dann pfiff er. Ein junges Fräulein mit einem Tablett in der Hand setzte sich in Bewegung und kam auf die Gruppe am Tisch Nummer vier in der gelben Reihe zu.

„Hi, ich bin Beth, ihr wollt was bestellen?“ Sie schaute auf die vollen Gläser und dann zu Jakob. „Okay, was willst du denn trinken?“

„Etwas Alkoholfreies, bitte.“

„Ach, komm schon.“ Andrej verdrehte die Augen.

„Einen Glas Orange 21 eventuell?“, fragte die Bedienung und notierte sich Jakobs Wunsch nach dessen zustimmendem Nicken. „Sonst noch was? Gut, dann bis gleich.“

Sie klemmte sich das sperrige Tablett unter ihren Arm und verschwand so schnell, wie sie gekommen war, wieder im Gewühl. Nach ein paar Minuten kam sie zurück und reichte Jakob seinen Drink. Etwas ungeschickt rutschte ihr dabei das leere Tablett aus der Hand und es landete laut scheppernd vor den Füßen des Mädchens, welches neben Nelson saß. Der fing auf der Stelle zu schreien an.

„Kannst du nicht aufpassen, blöde Gans!“

„Hey, jetzt komm wieder runter“, beschwichtigte Jakob ihn und hob dabei das Tablett vom Boden auf. Er reichte es Beth, die etwas eingeschüchtert vor ihm stand. „Alles in Ordnung?“

„Ich glaube schon.“

„Das freut mich und übrigens, danke für den Drink.“

Beth lächelte wieder, entschuldigte sich und ging ihrer Arbeit weiter am Nachbartisch nach. Mit einem Ohr verfolgte sie die aufkommende Diskussion zwischen Jakob und Nelson.

„Deine Reaktion war nicht etwas übertrieben?“

„Was heißt denn da übertrieben? Die wird dafür bezahlt, Getränke auszuteilen, und nicht dafür, mit Sachen um sich zu werfen. Und außerdem …“, Nelson beugte sich vor, „… sind wir die Elite, wir können uns alles erlauben.“

„Können wir das?“

„Machen wir doch ständig.“ Nelson schwang sich wieder zurück und Jakob schaute in die Runde, seine folgenden Worte betonend.

„Vielleicht ist es gerade unser Status, mit dem wir nicht umgehen können und der uns zu so arrogantem Abschaum werden lässt.“

Nelson glotzte ihn entgeistert an und konterte: „Ich habe keinen blassen Schimmer, was du da quatschst oder was du dir in deinem kleinen Hirn zusammenspinnst. Und eigentlich ist es mir auch wurscht. Ich für meinen Teil koste die Vorzüge meines Lebens aus, alle Vorzüge, die mir mein Status verleiht, kapiert!“

Jakob schwieg.

„Natürlich kann jeder tun und lassen, was er für richtig und angemessen hält“, Andrej übernahm mit diesem Statement jetzt gekonnt die Initiative. Die aufgestaute und dicke Luft musste dringend durch anderes ersetzt werden und dieser Aufgabe fühlte er sich gewachsen. Demonstrativ hielt er sein Bierglas in Höhe: „Auf das Ende des Semesters und auf Neraj, deren Idee es war, uns alle heute Abend hier in dieser lustigen Runde“, er blickte ostentativ zu Nelson und Jakob hinüber, „zu vereinen. Prost!“

„Prost!“

***

Es war kurz nach ein Uhr. Jakob saß gelangweilt auf dem Sofa neben Andrej, dessen Gags allmählich ins Lächerliche glitten, was dem vielen Alkohol zuzuschreiben war. Nelson und Eric waren bereits vor geraumer Zeit gegangen, um sich mit ihren Mädels auf der überfüllten Tanzfläche im Nachbarsaal zu vergnügen. Man konnte sie alle durch eine Glaswand verfolgen, im Laserlichtgewitter tanzend und lachend im kunterbunten Durcheinander unzähliger wild schwingender Haare, Arme und Beine.

„Ich hab genug.“

Neraj schaute mit ihren tiefbraunen Augen auf.

„Du willst schon gehen?“

„Ja. Und diesen Kasper hier nehme ich gleich mit!“

Andrej schielte in ein leeres, völlig verdrecktes Glas.

„Schade, denn eigentlich hatte ich mich soeben gefragt, was wir mit unserer neugewonnenen Zweisamkeit anfangen könnten.“ Neraj rückte näher auf der Sitzfläche heran und präsentierte lächelnd ihre weißen Zähne.

Verunsichert wich Jakob zurück, fasste an seinen Ring und schob ihn auf seinem kleinen linken Finger mehrfach auf und ab. Er glich einem gehemmten, unsicheren Jungen, der konfrontiert war mit dem Verlangen einer kompromisslosen Diva, die unnachgiebig und schonungslos ihr Ziel verfolgte.

Neraj war sehr direkt, schon zum zweiten Male innerhalb kürzester Zeit, und Jakob stellte sich erstmals die Frage, was er tatsächlich für sie empfand. Verlegen suchten seine Augen nach Antworten, beginnend an den glatten Beinen Nerajs, bis sie am Dekolleté anhielten, ein Anblick, der in ihm ein starkes Verlangen aufsteigen ließ, welches er nur bedingt unterdrücken konnte. Er war erregt, gefangen im Netz einer Spinne, deren Gift ihn schrittweise willenlos zu machen schien. In diese Zwickmühle gedrängt, platzte Beth herein und riss ihn geradezu mit einer klar formulierten Frage aus seiner verschwommenen, undurchsichtigen Gefühlsduselei.

„Braucht ihr noch etwas?“

Neraj schaute Beth mit wutverzerrtem Gesicht an.

„Ein wenig Ruhe wäre schön“, zischte sie und sah ihre hart umkämpfte Beute schon davonlaufen. Diese taktlose, rothaarige Tussi zerstörte ihren Plan, obwohl sie die liebliche Schlinge um Jakobs Hals fast schon zugeschnürt hatte. Jetzt stand alles auf Messers Schneide. Innerlich angefressen, bereute sie bereits ihre Idee mit dem Glaswerk. Mit diesem Gedanken befasst, beobachtete sie, wie Jakob sein Portemonnaie öffnete und der Rothaarigen seine Kreditkarte reichte. Sauer glotzte sie auf ihr halbvolles Glas und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Entscheidung war gefallen. Sie war geschlagen und ins Abseits gestellt worden von einer Kellnerin.

„Die Rechnung, bitte. Auch für ihn hier. Und du?“

„Ich zahle selber“, lehnt Neraj ab, während Beth ging. „Von dir brauche ich keine Almosen.“

„Wie bitte? Ich wollte nur …“

„Was wolltest du nur?“, fiel sie ihm ins Wort.

„Ich wollte nur höflich sein dir gegenüber.“

„Ach so, höflich nennst du das, mir Hoffnungen machen und mich dann eiskalt abservieren, einfach nass im Regen stehen lassen. Vielen Dank, du kannst mir gestohlen bleiben.“

„Was hast du nur? Wir sind kein Paar!“

„Stimmt, aber nur deinetwegen, Jakob.“

Dieser biss sich auf die Unterlippe. Er hasste sie. Genau diese Art hasste er so an ihr und das war der alleinige Grund, wieso sie kein Paar waren und auch niemals eines sein würden. Sein Entschluss stand fest und im Herzen dankte er Beth, dass diese ihn aus den Fängen seiner schizophrenen Kommilitonin, deren Gesicht sich von jetzt auf gleich vollständig ändern konnte, gerettet hatte. Es war schade, denn die eine Neraj mochte er sehr, mit der anderen jedoch konnte er sich nicht arrangieren und wollte es auch gar nicht versuchen, zu groß waren seine Zweifel.

Beth kam wieder und hielt die Rechnung in der Hand, die sie Jakob zusammen mit einem Kugelschreiber überreichte. Dieser nahm das Stückchen Papier und legte es vor sich auf den Tisch, nachdem er einige leere Flaschen und Gläser beiseitegeschoben hatte. Neraj schmollte immer noch und fixierte weiter ihr Glas. Jakob blickte rasch über die Quittung. So viel hatte er noch nie entrichten müssen, Andrej, dieser Schluckspecht. Zügig unterschrieb er den Beleg, als ihm zufällig ein kleines Detail ins Auge sprang. Er steckte den Stift weg.

„Elizabeth?“

„Ja“, bestätigte diese, sie strich sich verlegen eine ihrer widerspenstigen Haarsträhnen aus dem Gesicht hinters rechte Ohr. „Beth ist kürzer.“

Jakob bemerkte sogleich, dass sie keine Ohrringe trug und dass ihre kleine Muschel etwas abstand. Sie sah niedlich aus!

„Das ist ein schöner Name“, erklärte er.

„Vielen Dank, Jakob Lemmon“, leitete Beth von der Karte her ab.

Blitzartig flackerte das Neonlicht. Die von endlosen bunten Lichterketten durchzogenen Glaswände, Mauern und Böden der Lounge fingen mit den Lichtstrahlen, welche es erzeugte, zu spielen an. Die Musik setzte aus und es legte sich völlige Dunkelheit über den Raum. Plötzlich war ein starkes Klirren zu hören. Augenblicke später verschwand die düstere Atmosphäre genauso jäh, wie sie gekommen war, und die Musik und das Licht sprangen wieder an.

Geistesgegenwärtig musterte Jakob Neraj. Vor dieser auf dem Tisch stand nur noch eine Ruine aus Glas, die, umringt von tausenden kleinen Scherben, einen todbringenden Ozean aus Alkohol und winzigen Glassplittern bildete.

„Ich denke, wir sollten jetzt gehen.“ Nachsichtslos griff er nach Andrej und zerrte diesen von der Sitzecke hoch. „Es hat mich gefreut, Elizabeth.“

„Ja, mich auch“, stammelte Beth, ein wenig verwundert aufgrund der unerwarteten Eile.

Jakob schleifte Andrej unterm Arm aus der Lounge und weg von Neraj, ohne ein Wörtchen des Abschieds an diese zu richten. Er wollte nur raus und Abstand gewinnen. Endlich am Ausgang angekommen, schnürte es ihm fast die Kehle zu. Die Temperaturen waren sturzartig in den Keller gepurzelt und gestatteten es kaum, einen Spaziergang ohne Jacke zu wagen. Er rieb sich die Hände, hauchte mehrmals hinein und gab, während er Ausschau nach seinem Wagen hielt, Andrej die Schlüssel.

„Du wartest am Auto auf mich, kapiert? Kannst dich ja schon mal reinsetzten. Ich fahre dich dann nach Hause, einverstanden?“

„Zu Befehl, Capitano“, lallte der und schlurfte beiseite.

Jakob wollte kurz allein sein, nur zwei bis drei Minuten, doch dann bemerkte er Andrejs Not. Angetrunken taumelte dieser von einem Bordstein zum anderen und schien völlig die Orientierung verloren zu haben. Jakob rannte los über die Straße und auf direktem Weg zu seinem hilflosen Freund. Auf gleicher Höhe angelangt, packte er ihn an den Schultern und richtete ihn auf.

„Die Schlüssel!“

Andrej reagierte nicht und Jakob riss sie ihm aus der Hand.

„Du bleibst jetzt lieber bei mir, bevor du dich oder andere noch in Gefahr bringst“, befahl Jakob und stiefelte mit seiner Fracht im Schlepptau auf seinen parkenden Flitzer zu. Aber dann, auf halber Strecke, blieb er unversehens im Schein der Straßenlaterne stehen.

Irritiert blinzelte er umher. Ihm war, als hätte er soeben eine Stimme seinen Namen rufen hören, ganz schwach und wie aus dem Nichts. Konzentriert und mit gespitzten Ohren wartete er auf ein erneutes Geräusch, jedoch nahm er nur einen anderen, leisen und zischenden Ton wahr, der geradewegs von seinem Auto herrührte.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Jakob verstand, dass irgendetwas nicht stimmte. Er fackelte nicht lange, schnellte zu Andrej hinüber und riss diesen rücklings nach unten. Mit einem Mal erschütterte eine heftige Explosion die Stille. Jakobs Auto stieg, getragen von einer gewaltigen Feuerwalze, in die Höhe, um dann, vom Flammenmeer eingehüllt, am Boden zu zerschellen.

Die Druckwelle zwang Andrej noch tiefer in die Knie und riss ihm förmlich den Boden unter den Füßen weg, sodass er kurz darauf auf der Straße lag. Er schmeckte den beißenden Qualm, hustete und hielt sich seinen Ellenbogen vor den Mund. Neben ihm schepperten Glasscherben, Blechteile und Plastikstücke zur Erde, die die Explosion aus dem Fahrzeug gerissen hatte und wie feurige Pfeile durch die Nacht fegen ließ. Erstaunlicherweise war er unverletzt geblieben, weil keines der Geschosse ihn zu treffen vermocht hatte. Alle Wrackteile, die in seine Richtung geschleudert wurden, prallten wie Sandklumpen an dem Schutzschild, welches Jakob darstellte, ab. Nahezu unberührt trotz der immensen Kräfte, stand dieser felsenfest vor ihm, die Arme leicht vom Körper weggedreht sich gegen die Erschütterung stemmend. Der Splitterregen legte sich und Jakob wandte sich an ihn.

„Bist du okay?“

Andrej brachte keinen Mucks hervor, aber er war jetzt hellwach, die Explosion schien auch seinen Alkoholpegel fortgefegt zu haben.

Vom Lärm alarmiert, rannten immer mehr Personen zum Ausgang des Glaswerks, um zu schauen, was geschehen war. Das Feuer loderte. Die Alarmsirenen umstehender Autos heulten und einige Jungs sprinteten zu ihren Kisten, um ein Übergreifen der Flammen auf diese zu verhindern. In diesem Wirrwarr schnappte sich Jakob Andrej.

„Lass uns gehen.“

Verdutzt stand Andrej auf und folgte Jakob, der das Tempo vorgab, zügigen Schrittes. Ihr Ziel war die U-Bahn am vorderen Ende des Fabrikgeländes. Unter den Augen einiger entsetzter Personen, darunter Beth, die sich in einer Seitengasse versteckt und alles mitangesehen hatte, verschwanden die beiden.

R.O.M.E.

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