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1. Kapitel

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Jakob steuerte sein Auto über die regennasse Fahrbahn. Ans Lenkrad geklammert wie ein ängstliches Kind, schaute er immer wieder in die Nacht hinaus. Wann würde dieser Sturm endlich enden?

Es goss in Strömen und dazu wehte ein unangenehmer Wind. Von oben herab schüttete es schon seit Stunden und allmählich verwandelte sich alles um ihn herum in ein einziges Gemisch aus Schlamm und Kieselsteinen. Die braune, trübe Brühe sammelte sich in jeder noch so kleinen Straßensenke. Immer wieder schwappte sie bedrohlich von unten donnernd an das Bodenblech seines Kleinwagens. Er musste sich sehr konzentrieren, um nicht die Kontrolle über sich und sein Fahrzeug zu verlieren, auch weil die Fahrbahn grell und ohne Rücksicht auf seine Müdigkeit das Licht der Scheinwerfer zurückwarf. Seine Augen brannten stark und gelegentlich schloss er sie für einige kurze Sekunden zur Erholung.

Erschöpft schaute er auf die grün leuchtende Uhr im Armaturenbrett. Achteinhalb Stunden waren nun schon vergangen, seit er sich am Flughafen von Debrecen auf den Weg gemacht hatte. Knapp an die vierhundert Kilometer holpriger Landstraße lagen hinter ihm und abgesehen von einer kurzen Pinkelpause und einem ausgiebigen Stopp in einem Wirtshaus bei Cluj-Napoca hatte er die ganze Zeit in dieser unbequemen Blechschüssel gesessen. Dabei hatte die Autovermietung am Terminal ihm schon den bestmöglichen Untersatz zur Verfügung gestellt: einen gelben, osteuropäischen Kleinwagen als „Special Edition“ mit Klimaanlage.

„Haben Sie denn gar nichts Besseres?“, hatte Jakob die knauserige alte Dame hinter dem Tresen gefragt. Aber die schüttelte nur ihren dicken Kopf und reichte ihm herablassend die Schlüssel.

Ein Lenkrad mit Fellbezug und Schonbezüge mit Sonnenblumenmuster würden diesem Auto den letzten Schliff verleihen, dachte er schmunzelnd, als er den Wagen sah. Statt eines Allradfahrzeugs hatte Jakob also einen Wagen bekommen mit einem eingebauten, eingeschränkt funktionierenden Ventilator, der vor sich hin rotierte und nur spärlich Frischluft erzeugte. Immerhin versteckten sich einige Pferdestärken unter der Haube, mit denen er relativ zügig und schneller vorankam, als zunächst geglaubt. Er haderte mit seinem Glück, doch angesichts der Situation blieb ihm sowieso nichts anderes übrig, und so musste er seinen gewohnten Standard eben für einige Zeit zu Hause lassen.

Jakob war jetzt schon eine halbe Ewigkeit auf der D17 unterwegs, einer Nationalstraße in den Ostkarpaten, deren Einzigartigkeit nicht in den vielen Serpentinen, sondern, eher ungewollt, in den Lücken und Löchern des rauen Asphaltbelages bestand. Es kam einem Wunder gleich, dass die Ölwanne noch kein Leck hatte nach den unzähligen ungewollten Berührungen mit der Straßendecke. Diese hob und senkte sich gleichmäßig mit der Landschaft und schlängelte sich immer parallel am Fluss Somesul Mare entlang, dem Herzen dieser Region.

Gespannt und vom Adrenalin aufgeputscht, schoben sich seine Augen den kargen Straßenrand entlang. Irgendwo hier draußen, zwischen den beiden Örtchen Rodna und Valea Mare, musste es doch sein! Das hatte der Professor geschworen.

Jakob drosselte die eh schon langsame Geschwindigkeit seines Autos um weitere zehn Stundenkilometer, sodass dieses nun um jede Kurve schlich, die sich vor ihm auftat. Er beobachtete beide Straßenseiten genauestens. Wassermassen stürzten in regelmäßigen Abständen von den Hängen auf die Fahrbahn und Jakob wurde das Hirngespinst nicht los, die Natur würde sich hier auf radikale Art und Weise von allem überflüssigen Übel trennen. Absolut alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde ohne Gnade weggespült, ja vom Somesul Mare verschlungen. Eines war ihm klar: In diesem reißenden Fluss wollte er nicht enden! Deshalb besann er sich aufs Autofahren, vielleicht war er ja doch noch nicht am erhofften Ziel!

Die Straße führte nun über eine weite Brücke auf die gegenüberliegende Seite des tosenden Gewässers. Er steuerte den Wagen sicher hinüber und gab Gas. Doch plötzlich überkamen ihn Zweifel. Sollte er etwa doch schon zu weit gefahren sein? Unsicher und irritiert, schaute Jakob durch den winzigen Rückspiegel auf den hinter ihm liegenden, vom Rücklicht rot leuchtenden Streckenabschnitt.

„So ein Mist!“, zischte er. „Wenn dieser Spinner mich verarscht hat …“

In diesem Moment ertönte ein Klingeln, ein Läuten eines Mobiltelefons. Er zuckte vor Schreck zusammen. Es war mitten in der Nacht! Hektisch begann er den Innenraum des Autos abzusuchen. Die Ruftonabfolge hatte ihr Maximum nahezu erreicht, als er endlich das Handschuhfach öffnete und es herausnahm.

„Hallo“, sagte er zögerlich in das fremde Handy, „hallo?“

Kein Laut am anderen Ende, nur ein leises Rauschen, das unter dem Getuschel zu hören war. Jakob schaute auf das Display. Die Nummer war unterdrückt.

„Hallo, ist da wer?“, versuchte er es erneut. „Können Sie mich hören?“

Wieder bekam er keine Antwort und somit beschloss er, die Verbindung zu trennen. Er schaltete das Telefon gleich komplett aus und ließ es mit einem geschickten Wurf im offenen Handschuhfach verschwinden. Es hatte sowieso keinen Sinn hier in den Bergen, denn der Empfang war schlecht und der Akku verbrauchte nur unnötig Strom. Gottverlassene Gegend!

Jakob gähnte kurz. Müdigkeit und Frustration machten sich erneut breit. Sein Geist und sein Körper gerieten allmählich an ihre Grenzen und signalisierten ihm offen den Wunsch nach etwas Ruhe. Er schaute frustriert über seine rechte Schulter, als mit einem Mal und ohne jegliche Vorwarnung ein äußerst heftiger Knall die ohnehin tobende Nacht erschütterte. Vom Aufprall getroffen, geriet der Wagen ins Schleudern und rutschte über den abgetragenen seifigen Straßenbelag auf einige Bäume am Fahrbahnrand zu. Wild an seinem Steuer kurbelnd, versuchte Jakob die Kontrolle zurückzugewinnen. Er stellte die Räder quer und zog die Handbremse. Kurz vor einem Abhang kam er schließlich zum Stehen. Sein Herz raste!

Jakob löste seinen Griff vom Lenkrad. Bebend versuchte er, die letzten Sekunden zu rekonstruieren. Da sich der Wagen um hundertachtzig Grad gedreht hatte, starrte er jetzt in die Richtung, aus der er ursprünglich gekommen war. Er sah sich um und überlegte. In einem Augenblick der Unachtsamkeit musste er irgendetwas, wahrscheinlich ein Tier, mit voller Wucht erfasst haben. Der rechte Kotflügel war demoliert, der Seitenspiegel abgerissen und die Frontscheibe beschädigt. Das dünne Sicherheitsglas hatte dem Druck glücklicherweise trotz vieler Risse, in denen sich nun kleine, rote Wasserläufe bildeten, standgehalten. Er schaute durch die beschlagenen Fenster. Da war nichts zu sehen, überhaupt nichts, aber urplötzlich fing sein Herz erneut zu rasen an.

„Was ist …“ – die folgenden Silben blieben ihm im Hals stecken. Von Finsternis umkleidet, stachen aus der Ferne zwei hell leuchtende Punkte hervor, die ihn ganz genau anpeilten. Er fühlte sich unwohl, denn seit einigen Jahren hatten sich wieder Bären in dieser Gegend angesiedelt und er hoffte, dass diese Kreatur da draußen keiner war.

Seine Hand langte nach dem Zündschloss. Durch den Crash war der Motor ausgegangen und musste von Neuem gestartet werden. Sogleich offenbarte die Lichtmaschine, dass eine der beiden Vorderlampen den Unfall nicht überstanden hatte. Jakob ließ sachte die bleischwere Kupplung kommen und beschleunigte. Im Schutze seines zerbeulten Autos verfolgte er mit dem noch vorhandenen einen Lichtstrahl den gekommenen Weg zurück.

Schon nach wenigen Metern begann sich die Fahrbahn rot zu färben. Er entdeckte fast mittig auf der Spur eine ausgedehnte Blutlache, die trotz der anhaltenden Schauer eindeutig zu erkennen war. Hier musste es sich zutragen haben, schlussfolgerte er, denn sein Außenspiegel lag zertrümmert auf der Straße und überall lagen Wrackteile verteilt. Keine Chance, das Vieh war tot, und wenn nicht, würde es dies sicherlich in den nächsten paar Stunden sein. So einen Aufprall überlebt keiner, nicht einmal Meister Petz mit seinen über dreihundert Kilo, dachte Jakob. Gerade als er zum Wenden ansetzte, bemerkte er ein weiteres Detail. Eiskalt lief es ihm den Rücken hinunter. Da lag mitten auf der Fahrbahn ein Stofflappen, ein von Blut und Wasser durchtränkter, herausgerissener Fetzen, der unscheinbare Rest eines Kleidungsstückes.

Jakob fuhr sich mit beiden Händen sichtlich geschockt durch die Haare. Das stammte keinesfalls von einem Tier! Sollte er tatsächlich einen Menschen überfahren haben? Er spürte, wie in ihm das Verlangen erwachte, Gas zu geben und einfach abzuhauen, darauf zu vertrauen, dass ihn keiner beobachtet hatte, was angesichts der entvölkerten Region sehr wahrscheinlich war. Doch nach intensiver Überlegung beschloss er, keinen Rückzieher zu machen, und setzte das Auto wieder in Gang. Es gab schon genügend Typen, die vor den Folgen ihres Handelns davonliefen. So wie Alvin, sein älterer Bruder.

Jakob versank in Gedanken. Diesem unfähigen Weichei konnte er bis heute nicht verzeihen. Es war damals dessen Aufgabe gewesen, auf Anna aufzupassen, und nicht die seine. Alvin trug die Verantwortung! Stattdessen hatte er sich, wie üblich, davongestohlen, um mit seinen Kumpels durch die Straßen zu ziehen. Zu schnell war es passiert und Jakob schämte sich noch immer, damals nicht wie ein echter Mann gehandelt zu haben. Jener schwarze Lebensabschnitt seiner Vergangenheit trübte noch immer zahllose seiner Stunden ein und machte ihm manchen Tag zur Hölle. Aber jetzt war nicht der richtige Moment, darüber nachzudenken und in destruktive Schuldgefühle zu versinken. Nein, schließlich war er so weit gereist, um seine Zukunft zu sichern, und dies wollte er sich nicht durch seine bedrückende Familiengeschichte zerstören lassen. Viel zu viel hatte er bereits geopfert, als dass er jetzt alles verspielen wollte.

Verbissen und voller Anstrengung verfolgte er nun im Schritttempo die roten Schleifspuren, die sich jedoch bereits nach etwa fünfzig Metern im Dauerregen der Nacht verloren. Er trat auf die Bremse.

Was nun? Ein Unfall hatte sich ereignet, doch weit und breit war niemand aufzufinden. Möglicherweise hatte ja schon ein Rudel hungriger Wölfe die Gunst der Stunde erkannt und sich im Schutze des Waldes über die Beute hergemacht. Ein schrecklicher Gedanke, aber möglich.

Das Unwetter schien jetzt direkt über ihm zu sein. Ein weißer Blitz erhellte den undurchdringlichen Wald, begleitet von einem rasenden Donnern, was Jakob das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es folgte eine unheimliche Stille. Von absurden Ideen heimgesucht, wie einen Bigfoot der Karpaten angefahren zu haben oder einen Jäger, legte er seinen Kopf zurück und genoss die auf einmal eintretende Ruhe. Nur das Rauschen des Flusses, das Peitschen des Windes und das monotone, gleichmäßige Trommeln des Regens verrieten den Sturm. Er war überwältigt und verfiel für einige Augenblicke in eine Art Trancezustand, als er auf einmal näher kommende Schritte hörte …, tack, tack, tack.

Im selben Atemzug war er hellwach und saß aufrecht auf seinem Sitz. Irgendetwas war auf den Weg zu ihm, nur was?

Von vorn kam niemand, das konnte Jakob im Scheinwerferlicht genau erkennen. Unerwartet stellte sich ein fiependes, gleichmäßiges Kratzen ein, das sich von hinten am Blech entlang scheinbar nach vorn schob. Jakob legte den Rückwärtsgang ein und versuchte an seinen Koffer auf der Rückbank zu gelangen, doch der Gurt saß zu straff. Er musste sich vorlehnen, um sich abzuschnallen. Sekunden vergingen, bis er endlich seinen Koffer erreichte und mit einer Hand aufklappte, während sich die andere verkrampft am Lenkrad festhielt. Das fiepende Kratzen kam dichter und stoppte plötzlich. Halb liegend auf der Armlehne, suchte Jakob nach seinem Messer. Er hasste sich für seine im Laufe der Zeit schon zwanghaft gewordene Unordnung.

Erneut erhellte ein mächtiger greller Blitz die Nacht und beleuchtete das blutüberströmte Gesicht eines Mannes, der ihn ausdruckslos durchs Seitenfenster anstarrte, bevor er wieder im Schutze der Finsternis verschwand.

Jakob hatte genügend gesehen, um zu begreifen, dass es um Leben oder Tod ging. Er fand sein Messer und umklammerte den gummierten, handgerecht gewölbten Griff. Im selben Moment sah er die verschwommenen Formen eines Knüppels auf sich zukommen.

Das Seitenfenster zerbarst in tausend kleine Scherben. Instinktiv hob Jakob seinen linken Arm, um sich vor den heranfliegenden Splittern zu schützen. Sein Angreifer packte durchs offene Fenster zu und zog ihn mit einem kurzen Ruck nach oben. Jakob knallte brutal mit seinem Schädel gegen den Türrahmen. Blut rann seine Stirn hinunter und er fragte sich kurz, ob es sich dabei um sein eigenes oder das seines Kontrahenten handelte. Eine Faust traf ihn mitten ins Gesicht und warf ihn zurück auf die Armlehne. Wieder packte ihn die kräftige Pranke und zerrte ihn nach oben. Gewarnt vom ersten Mal, stemmte sich Jakob nun dagegen und ging in Deckung. Sein Kopf verfehlte nur um Haaresbreite den Dachrahmen und hing jetzt außerhalb des Wagens. Er spürte den Regen auf seiner Haut und schmeckte Blut zwischen seinen Zähnen. Er schaute auf.

Ihm wurde übel. Zerfetzt, blutend und durchnässt stand das Monster vor ihm, bereit, ihm den nächsten Treffer zu erteilen. Das Gesicht halb entstellt, fletschte es seine gelben, verfaulten Zähne. Die Augen, rötlich unterlaufen und wahnsinnig vor Wut, starrten ihn entschlossen an. Alles konnte nun geschehen!

Der nächste Schlag sollte ihn von oben treffen und seinen Schädel zertrümmern. Doch gekonnt wich Jakob aus, indem er sich zur Seite warf. Der Knüppel knallte mit voller Wucht auf den Rahmen und ließ die Tür erzittern.

Die Ereignisse überschlugen sich. Jakob spürte den Arm seines Angreifers um seinen Hals. Dieser wollte kurzen Prozess machen, begab sich dabei aber auf gefährliches Terrain. Denn ebenso entschlossen holte Jakob jetzt aus und rammte die lange Klinge seines Messers mehrmals in den schweren Körper. Ein Aufschrei durchschnitt die Nacht und zugleich erschlaffte der Arm, das Würgen und die schmerzliche Beklemmung ließen schlagartig nach. Nach Luft schnappend, stieß Jakob die Türe auf und entledigte sich so des vor Schmerzen sich windenden Angreifers, der davorstand. Dieser sackte jetzt in sich zusammen und blieb leblos auf der Straße liegen. Nach einer kurzen Pause richtete sich Jakob auf und begutachtete den Körper.

Es war ein Hüne, der vor ihm lag. Seine zerrissene Kleidung erinnerte Jakob mit ihren weißen und dunklen Streifen an einen Gefangenen aus einem Sträflingslager, einem Überlebenden des Holocaust, nur dass dieser Mensch hier viermal so breit war. Der Mann lag auf dem Bauch, das Gesicht weggedreht. Drei große Furchen säumten die Nierengegend, das rohe Fleisch klaffte dort weit auseinander.

Von hinten erstochen – nicht gerade die feine englische Art, fasste Jakob zusammen. Sein Gewissen meldete sich, doch letztlich war es von beiden Gladiatoren ein unfairer Fight gewesen. Und die Tatsache, dass er es nicht war, der jetzt tot auf der Straße lag, gab ihm schließlich Recht.

Jakob atmete schwer. Seine Schulter schmerzte und in seinem Kopf hämmerte es mit gleichmäßigen Schlägen. Er sehnte sich nach Ruhe. Doch an eine Verschnaufpause war nicht zu denken, denn in der Ferne leuchteten schon die Scheinwerfer eines Autos auf. Die ganze Nacht kein Gegenverkehr und jetzt das!

Er hatte nicht viel Zeit, die Leiche verschwinden zu lassen. Trotz der Masse des Körpers hatte Jakob keinerlei Probleme, diesen hochzustemmen und im Somesul Mare zu versenken. Schnell lief er zu der Stelle des Zusammenpralls zurück und trat die Wrackteile beiseite. Den Rest musste der Regen übernehmen. Einige Sekunden später wendete er den beschädigten Wagen und kehrte dem Ort des Grauens den Rücken.

R.O.M.E.

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