Читать книгу R.O.M.E. - Attila Heller - Страница 8

6. Kapitel

Оглавление

Sechster Stock, Raucherebene. Theresa hasste diesen Arbeitsbereich. Mit einem Wagen, halb so schwer wie ihr Eigengewicht, ratterte sie über den langen Flur des Fünfsternehotels ihres Arbeitgebers. Der Teppich war vor Kurzem fabrikneu ausgelegt worden – und zwar eindeutig zu ihrem Nachteil, fand sie. Denn die kleinen weißen Rollen ihres Putzwagens verhedderten sich dauernd in dem flauschigen, noch ungebrauchten Gewebe. Außerdem war sie mit diesem neuen Farbton, einem milden Olivgrün, keineswegs einverstanden. Die Hotelleitung bewies dadurch zum wiederholten Male ihr Unvermögen, die Räume sukzessiv ein wenig der zeitgenössischen Welt anzupassen. Die hohen Räume, die veralteten Zimmer, die überaus hässliche Tapete an den Wänden und dazu noch der trübe Qualm auf dieser Etage – das alles würde sie noch um den Verstand bringen. Und eines war sicher, dieses Hotel sicherte sich seinen fünften Stern mit gewolltem Siebzigerjahre-Flair. Daran würde sich jetzt und auch in naher Zukunft nichts ändern!

Theresa hatte ein Problem mit ihrem Job. Das Stilgefühl sowie die Ausrichtung des Ambientes waren nur die Spitze des Eisberges. Unter der Wasseroberfläche lauerten viel größere und tiefer sitzende, mit Problemen behaftete Eisbrocken.

Ihr Chef war ein alkoholabhängiger Choleriker und nur in den frühen Morgenstunden zu ertragen. Wenn sie mal gutgelaunt von der Arbeit kam, lag das nur daran, dass sie es irgendwie geschafft hatte, diesem Mistkerl an jenem Tage aus dem Weg zu gehen. Diese glücklichen Momente genoss sie sehr, denn sie waren selten, leider. Viel eher passierte es, dass irgendein großspuriger Gast die Dienstleistungen des Zimmerpersonals in Frage stellte und sich beim Geschäftsführer über ein Haar in der Wanne oder ein zu kaltes Zimmer beschwerte. Wenn es ihren Bereich betraf, dauerte es nicht lange, bis sie die volle Breitseite aufgestauter Wut des Chefs unter Alkoholeinfluss zu spüren bekam. Sie hatte sich dran gewöhnt, auch an die Schmerzen. Sie kuschte, ging ihrer Arbeit nach und arrangierte sich mit dem Taschengeld, welches groteskerweise nach jedem Anfall gutversiegelt in einem pinken Umschlag in ihrem Spind lag. Ein kleiner Bonus sozusagen, für ihre Loyalität und Treue, oder vielmehr ihre Verschwiegenheit. Ihr Boss wusste – wenn er denn einmal bei klarem Verstand war –, dass sie ihm ganz schnell die Schlinge um den Hals legen könnte und diese dann auch zuziehen würde. Er ließ sich seine Eskapaden einiges kosten und absurderweise spielte Theresa mit. Sie brauchte ihn, sie brauchte sein Geld, sie nahm die Scheine und hielt ihre Klappe.

Eine Zimmertür zu ihrer Linken öffnete sich gerade einen Spalt weit und Theresa beobachtete eine Hand, schmal und graziös, die flink das Schild „Bitte nicht stören“ am Türknauf anbrachte. Zweifellos gehörten diese geschickten Finger einer Frau, nur war es eine Einzimmersuite, gemietet von einem Herrn, und Theresa wusste sofort, was dies zu bedeuten hatte. Sie hatte das schon hunderte Male erlebt. Ehemänner und Familienväter, die sich hier, direkt vor ihrer Nase, ihren Phantasien hingaben, während sie ihren Frauen zu Hause die heile Welt vorgaukelten. Theresa war angewidert und vergrämt zugleich, doch wäre da nicht dieses Quäntchen Anstand gewesen, das sie besaß, dann hätte sie gewiss das unmoralische Angebot von manch wohlhabendem Gast angenommen.

Das Hotel, unmittelbar am Westbahnhof gelegen, schräg gegenüber einigen dubiosen Straßen mit Clubs und Bars, war trotz seiner exorbitanten Preise offenkundig auch Anlaufpunkt des allgemeinen Abschaums. Denn kaum im Zimmer angekommen und ferngesteuert von einem schamlosen Verlangen, passte Theresa ins Beuteschema einiger Gäste, die es nicht mehr bis auf die Straße schafften. Hin und wieder musste sie sich vor ekelhaften Übergriffen schützen und klarstellen, dass sie hier als Zimmermädchen arbeitete und keine üblen und dreckigen Dienstleistungen anbot. Männer waren doch alle gleich!

Sie blieb stehen, um zu verschnaufen und Kraft zu sammeln, denn die Rädchen ihres Wagens standen verdreht, jedes in eine andere Richtung, als ob sie sich abgesprochen hätten, um Theresa zu ärgern. Sie bückte sich und begann alle Räder in ein und dieselbe Stellung zu bringen. So kopfüber, stieg ihr das Blut in den Schädel und ihr wurde unerwartet schwindelig. Unsicher zog sie sich am Putzwagen hoch und riss dabei einige frische Handtücher herunter, die danach verteilt auf dem neuen, gebauschten Teppich lagen und deutlich gebrauchter ausschauten als dieser. Sie akzeptierte ohne ein Wort des Kummers ihr Missgeschick und wollte gerade die Handtücher auflesen, als ihr ein Mann zuvorkam.

„Benötigen Sie die noch?“

Überrascht und sprachlos nickte Theresa. Sie hatte ihn überhaupt nicht bemerkt. Der Mann reichte ihr die Tücher. Er war groß, hübsch und trotz seines Alters anscheinend in den besten Jahren. Er gefiel Theresa auf Anhieb. Er schien Anstand zu besitzen, ganz anders als die Leute, die sonst so hier einkehrten, und sein französischer Akzent ließ ihn noch begehrenswerter wirken.

„Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“

Theresa nickte zum zweiten Mal. Ihr fehlten die Worte. Nicht einmal ein „Dankeschön“ brachte sie hervor. Sie schielte dem Fremden, ihre Wäschetücher fest umklammert, hinterher, bis dieser am Ende des Flurs in der Suite Nr. 335 verschwand. Für heute war die Spätschicht gerettet!

***


„Guten Abend, Yves. Was machst du denn hier?“

„Wo sind deine Leibwächter, Oskar?“

„Denen habe ich freigegeben.“

Yves verstand. Gerade noch hatte er im Dämmerlicht des Flures gestanden, aber hier, in Oskar Brauns Suite, drang das Rotlicht von den Straßenzügen selbst noch durch die zugezogenen Vorhänge.

„Wir müssen reden.“

„Kann das nicht bis morgen warten?“

„Ich denke, das kann es nicht, mein Freund!“

Oskar seufzte.

„Dir ist schon klar, dass ich einen Termin habe, Yves.“

„Den musst du leider aufschieben.“

„Und diese Entscheidung triffst du?“

Oskar ließ sich auf der Kante des Betts nieder und holte eine halbleere Zigarettenschachtel aus seinem Jackett. Das Logo darauf zeigte eine teuflisch grinsende Frau mit langer, roter Lockenmähne, die sich darauf zu freuen schien, seine Lunge mit weiteren Teerpartikeln pflastern zu können.

„Was dagegen, wenn ich eine …?“

„Bitte sehr, es ist immer noch dein Zimmer“, … und deine Gesundheit, dachte Yves für sich.

Oskar klemmte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und nahm eine Packung Streichhölzer zur Hand. Er brauchte einige Versuche, bis sich der Kopf des kleinen Stäbchens an der Reibefläche entzündet hatte. Behutsam hielt er die Flamme an den Tabak und nahm einen kräftigen Zug, bevor sie wieder erlosch.

„Also gut, was gibt es?“

Ohne weiteres Vorspiel öffnete Yves seine Jacke und kramte vier Fotos hervor. Er legte ein jedes gut sichtbar auf den glattpolierten Holztisch. Schwerfällig setzte sich Oskar in Bewegung und widmete sich, offenkundig stark genervt, dem Bildmaterial. Misstrauisch begutachtete er die brisanten Aufnahmen und trat ein Stück näher an Yves heran. Die beiden standen nun nebeneinander, gleich zwei Türmen einer Burg, und glotzten schweigend auf die vor ihnen ausgebreiteten Bilder.

„Was ist das?“

„Bilbao, Madrid, Marseille und Innsbruck. Alle innerhalb der letzten achtundvierzig Stunden.“ Yves tippte auf die Fotos.

Oskar zog an seiner Zigarette und begann die Bilder zu prüfen. Er nahm eines nach dem anderen in die Hand und schaute trocken auf die zersprengten Wracks darauf. Überall sah er Trümmerteile und Glas, verteilt auf einem von Hitze und Feuer geschmolzenen Asphalt. Einige Körperteile lagen herum, ein Arm, ein Bein, auf zwei der vier Fotos waren bereits weiße Tücher über die Opfer gelegt worden, die an manchen Stellen, von Blut durchtränkt, dunkelrot glänzten.

Yves wandte sich ab und ging Richtung Fenster. Mit der Hand schob er einen der Vorhänge etwas beiseite und sah durch den Spalt auf die Straße. Ein wenig Licht fiel auf seine ernste Miene und ließ diese freundlicher erscheinen.

„Allesamt Mitglieder der Future Group of Europe.“

„Verstehe.“

Oskar nahm den Aschenbecher und drückte seine Kippe darin aus. Ihm waren die Lust und auch das Bedürfnis nach Nikotin vergangen. Er schaute noch einmal indigniert auf die Fotos und wandte sich dann fragend an Yves.

„Und die Drahtzieher? Gibt es schon Hinweise?“

„Was glaubst du?“

„Regimegegner?“

„Und die machen kein Geheimnis mehr daraus.“

„Wie, die machen kein Geheimnis mehr daraus?“

Yves hustete und ging dabei zum Schreibtisch.

„Darf ich?“

Oskar nickte und Yves klappte das Notebook auf. Nach einigen Sekunden und zahllosen Passworteingaben schauten beide auf die verschlüsselte Website der Republic of Modern Europe. Yves deutete auf einen nicht autorisierten Link am unteren Ende des Bildschirms und öffnete ihn mit einem kräftigen Doppelklick.

„Die haben nicht nur unsere Seite gehackt, Oskar, die haben sich zusammengeschlossen, und wir haben es nicht einmal bemerkt!“

Ein Pop-up-Fenster schimmerte hellrot auf, blinkend und über den gesamten Bildschirm schwebend, gespickt mit einer deutlichen Botschaft an alle: „Das war erst der Anfang.“ Dann erschienen in zeitlicher Reihenfolge die Städte, in denen bereits Anschläge verübt worden waren. Das Fenster bot viel Platz für weiteren Terror.

„Weißt du, was das bedeutet?“

„Scheiße bedeutet das, Yves.“

Yves stand auf und bewegte sich langsam zum Vorhang, um diesen zu schließen. Er überlegte, welche Wortwahl jetzt adäquat wäre. Oskar schien heute etwas schwerer von Verstand zu sein, obwohl seine schnelle emotionale Reaktion definitiv zutraf. Scheiße, das war es in der Tat! Letztlich begann er zu erklären.

„Wir haben ein riesengroßes Problem, verstehst du das? Vergiss den Nordwall. Vergiss die Russen und den Kaukasus. Vergiss alle unsere bisherigen Gegner, vergiss alles, was du kanntest. Hier beginnt eine neue Etappe unserer Geschichte.“ Yves schob das Notebook zur Seite. „Der Untergrund lebt und scheint entschlossener und geeinter zu sein als je zuvor. Oskar, wir haben eine neue Front, eine erdrückend schlimme, eine interne.“

Endlose Stille erfüllte die Suite. Die beiden Männer, groß und mächtig, standen in sich gekehrt ein jeder für sich in einer Ecke des Zimmers. Tausende und Abertausende Gedanken rasten ihnen durch den Kopf. Wer waren die Täter? Was waren ihre Gründe und wie konnte man diesen Terror stoppen? Alles Fragen, auf die es schleunigst eine passende Antwort zu finden galt, möglichst schnell und ohne unnötiges Aufsehen.

„Und was nun? Was schlägst du vor?“

„Aus diesem Grund bin ich zu dir gekommen.“

Oskar schüttelte kritisch seinen Kopf, als würde er sagen wollen: Tut mir leid, da gibt es keine Handhabe, dabei kann ich euch nicht helfen. Diese Situation ist ausweglos.

„Du bist also zu mir gekommen?“

„Eigentlich hat mich Jean geschickt“, gab Yves zu.

„Ach, verstehe. Und jetzt benötigt Jean schleunigst einen Plan, wie man gegen dieses Pack vorgehen kann, bevor die ganze Kacke zu stinken anfängt und völlig außer Kontrolle gerät, stimmts?“

„Nein, Oskar, ich beanspruche dich. Jean hat mir diese Aufgabe übertragen und deinen Namen ins Spiel gebracht. Ich benötige einen Mann deines Kalibers, mit deiner ganzen Routine und deiner Erfahrung. Warum dich also nicht gleich selber fragen?“

Oskar steckte sich eine neue Zigarette an.

„Weiß der Rat schon Bescheid?“

„Nein, nur du, Jean, ich und der NSD!“

„Ich nehme an, der Rat wird morgen unterrichtet?“

„Und bis dahin brauche ich einen handfesten Plan.“

Der Qualm von Oskars Zigarette setzte sich in Yves Nase.

„Das ist nicht besonders viel Zeit.“

„Ich weiß. Und deswegen brauche ich deine Hilfe.“

Oskar öffnete die Manschettenknöpfe seines Hemds und krempelte in aller Ruhe die Ärmel um jeweils zwei Schläge hoch. Dann schaute er auf seine riesige, goldene Armbanduhr über dem linken Handgelenk. Es war kurz vor zwanzig Uhr. Mit der Zigarette im Mund sagte er: „Schon zu Abend gegessen?“

„Bisher noch nicht.“

„Dann wird es aber Zeit. Fühl dich eingeladen. Das alles können wir auch unterwegs beim Essen und bei einem Glas Wein besprechen.“

„Oder Wodka.“

„Wegen mir auch Wodka.“

Oskar zog noch einmal fieberhaft an seiner Zigarette. Es würde eine lange Nacht werden. Dann traten er und Yves aus dem Zimmer, die Türe schnappte zu und zurück blieben ein glühender Zigarettenstängel und ein aufgeklapptes Notebook, auf dem das Pop-up-Fenster immer noch hell leuchtete, nur mit einem Unterschied: Eine weitere Stadt hatte sich soeben mit dem Status „in Ausführung“ in die Liste eingereiht.

R.O.M.E.

Подняться наверх