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4. Kapitel
ОглавлениеEinige Monate zuvor …
Heute, am kürzesten Tag des Jahres, an dem die Sonne senkrecht über dem südlichen Wendekreis stand, lagen ungewöhnlich milde Temperaturen über der Stadt. An jeder beliebigen Straßenecke konnte man Menschen sehen, die, nur mit Strickjacke und Jeans bekleidet, ihre Weihnachtseinkäufe tätigten. Sie schlenderten, ihre Einkaufsbeutel fest umklammert, durch die überfüllten Passagen und spähten getrieben durch die Schaufenster der Läden, immer auf der Suche nach dem perfekten Geschenk. Die zahlreichen Alleen im Zentrum der City dufteten nach köstlichen hartgebrannten Mandeln und herb gerösteten Maronen. Lichterketten hingen in den Linden und wechselten ständig blinkend die Farben zwischen Violett, Grün, Rot und Gelb. Aus jedem Geschäft drang, schier nie endend, eine andere Weihnachtsmelodie auf die Fußgängerwege, unterstützt und getrieben vom Konsummissbrauch der Bevölkerung. Autos bahnten sich lärmend und hupend ihren Weg durch die bunten Massen, dicht gereiht, Stoßstange an Stoßstange klebend, im Schritttempo vorwärtsschleichend.
Mitten in diesem Gemenge, an der U-Bahn-Haltestelle Neue Wache, nicht weit vom historischen Reichstag und dem Brandenburger Tor gelegen, zweigte eine kleine Gasse ab. Unauffällig und eher schwach beleuchtet, passte sie so gar nicht in das Bild der umliegenden Einkaufsmeilen. Zu beiden Seiten ließen die Wände der mehrstöckigen Geschäfts- und Wohnkomplexe nur einen Hauch an Licht auf die gepflasterte Straße zu und jeder, der hier vorbeiging, ignorierte diesen unscheinbaren Seitenarm im Zentrum der stark pulsierenden Metropole. Ein perfekter Standort für die zukünftige Elite des Landes: zentral, voll im Geschehen und gut zu erreichen. Aber dennoch war man unter sich und effektiv isoliert.
Der kleine Durchgang namens Theodor-von-Meye-Gasse verlief etliche Meter zwischen den umliegenden Bauwerken hindurch, bevor er im rechten Winkel abknickte und hinter einer hohen Fassade, unsichtbar von der Hauptstraße aus, im Schatten verschwand. Erst jetzt teilte das Gässchen seine wahre Identität mit, den eigentlichen Grund seiner Existenz. Im Schutze der vielen Häuser lag ein etwa anderthalb Hektar großes, von einem Zaun umringtes Anwesen. Die Schule der Future Group of Europe, oder offiziell, wie im alten Stadtarchiv erwähnt: die Theodor-von-Meye-Universität.
Wie eine Oase ragte der Campuskomplex hervor, umringt von einer Mauer aus Stahl, Glas und Beton. Viele Bäume und Büsche verzierten die offen gestalteten Grünflächen und vermittelten so den Anschein einer grünen Lunge zwischen den dunklen Hinterhöfen der benachbarten Häuser. Der einzige öffentliche Zugang zur Universität verlief über die kleine Gasse, vorbei an einem Pförtner, entlang der wehenden Fahnen der Mitglieder des Neuen Europas – die Gründer und Förderer dieser Eliteschule – bis hin zum Aufgang des Hauptgebäudes. Vor den Treppen, die zum dreitürigen Eingangsbereich führten, posierte die protzige Bronzestatue Theodor von Meyes. Von der grünen Patina des Kupfers überwuchert, gezeichnet von Wind und Wetter, sah sie eher mitgenommen und heruntergekommen aus als ehrenhaft oder respekteinflößend. Die vielen Studenten beachteten sie kaum, nur dann, wenn sie eine Gelegenheit suchten, ihre Schulbücher oder ihren Kaffee abzustellen.
Auch Jakob und Andrej ignorierten die Statue. Im Eiltempo rannten sie an ihr vorbei, ohne einen einzigen Blick zu verschenken.
„Los Jakob, beeil dich gefälligst mal.“
„Du hast gut reden, Alter. Anstatt vorwegzulaufen könntest du mal mit anpacken“, flehte dieser außer Atem.
Außer seinem Rucksack, der schon halb an seiner Schulter heruntergerutscht war, hatte er noch einige Bücher und Papierrollen unter seinem Arm klemmen. Er stolperte hastig die Treppe hinauf, nahm zwei Stufen mit einem Mal und verlor dabei die ganze Ladung.
„Verdammt!“
Vom Gepolter gestoppt, drehte sich Andrej um und schaute hämisch lächelnd auf seinen Freund, der auf der Treppe kniete und seine Sachen zusammenkramte.
„Grins nicht so, sondern hilf mir mal.“
„Wieso packst du das Zeug nicht in deinen Rucksack?“
Andrej stieg zwei Stufen zurück und las einige Bücher über Kunstgeschichte und abstrakte Kunst vom Boden auf. Er schaute skeptisch auf die Literatur.
„Ich frag mich immer noch, wie du bloß an diese Schule gekommen bist?“
„Warum nicht?“, erwiderte Jakob. „Unsere Universität bietet das komplette Studienprogramm: Medizin, Wirtschaft, Sport, Architektur, Kommunikationstechnik und eben auch Kunst, wenn du das noch nicht bemerkt haben solltest.“
Andrej lachte.
„Und außerdem solltest du lieber die Klappe halten. Die Frage lautet doch, wieso du mit deinem Notendurchschnitt überhaupt noch hier bist?“
Andrej schluckte, denn Jakob hatte Recht. Nur seinem außerordentlichen Talent hatte er es zu verdanken, hier auf dieser Schule zu sein. An seiner Gelehrtheit konnte es nicht liegen, denn besonders befähigt fühlte er sich nicht, eher war er allzeit am Kämpfen um bessere Noten und abhängig von der Gnade der Mentoren, die immer öfters zwei Augen zudrücken mussten, damit er das Semester einigermaßen überlebte. Nachdenklich hob er den letzten Band auf.
„Erinnere mich bloß nicht daran.“
„Tue ich aber!“
Jakob und Andrej grienten sich an.
„Komm, lass uns gehen. Wir sind eh schon spät dran.“
Andrej nickte und beide flitzten durch den Eingang ins Hauptgebäude. Sie wussten ganz genau, weswegen der Staat ihnen die Möglichkeit gab, an dieser Eliteschule zu studieren. Die Theodor-von-Meye-Universität diente nicht dem Zweck, auf jedermanns Hochzeit den perfekten Walzer zu tanzen, sondern bot einzig und allein die Möglichkeit, der Bestmögliche auf einem ganz speziellen Gebiet zu sein. Und das waren Andrej und Jakob zweifellos. Einmal im Kreise der Future Group of Europe aufgenommen, waren ihre Laufbahnen im System bereits vorprogrammiert. Alles andere war nur eine unwichtige Zugabe, die eben Allgemeinwissen verlangte.
Schnellen Schrittes gingen sie den ellenlangen und mit zahlreichen Bildern alter Studenten vollgehängten Flur entlang. Alles Studenten, die es in der Gesellschaft zu Ruhm und Ansehen gebracht hatten und diese nachhaltig beeinflussten. Frühere Eliteschüler, die in diesen Räumen die Schulbank gedrückt hatten und nun als Pioniere an der Wand hingen. Ihre wichtigste Aufgabe in diesen Gemäuern bestand darin, das Ego der aktuellen Ge neration zu impfen. Die Schüler sollten zu ihren Idolen aufschauen und den Wunsch entwickeln, durch Fleiß, Solidarität und Gehorsam genauso erfolgreich zu sein wie diese. Auch sie sollten ihren angestammten Platz in der Gesellschaft einnehmen und eines schönen Tages selbst als Foto im hellgrauen Gang dieser Universität hängen.
„Ich will nicht auf so ein Schwarzweißfoto“, sagte Jakob energisch, dabei die einzelnen Männer und Frauen auf den Lichtbildern betrachtend. „Und du?“
„Nein, aber mit einer Statue könnte ich eventuell leben.“
„Vielleicht …“, Jakob überlegte. „Vielleicht widme ich dir eines meiner nächsten Projekte: ein lebensgroßes Denkmal im Stile Michelangelos aus Marmor. Andrej der Starke.“
„Nur zu, tue dir keinen Zwang an. Nur zieh mir bitte was drüber, wenigstens einen Slip. Du weißt schon, warum. Wir wollen doch niemanden ernsthaft in erregbare Verlegenheit bringen.“ Andrej kicherte und Jakob war beeindruckt. Spielte dieser Kunstbanause etwa auf die weltberühmte Statue des jungen Davids an, die in der Galleria dell’Accademia mitten in Florenz stand?
Schließlich erreichten sie den riesengroßen Hörsaal der Universität. Wie bei einem zentral gelegenen Bahnhof im Knoten der öffentlichen Verkehrsbetriebe gingen von diesem Raum alle Korridore aus. Er war der Mittelpunkt der Eliteschule. Das gesamte Leben innerhalb dieser Mauern spielte sich in seinem Bereich ab. Die schräg aufsteigenden Ränge glichen dem Innenraum eines alten, antiken Kolosseums und gestatteten den Studenten eine perfekte Sicht auf die Tafel, die Leinwand und den Imperator höchstpersönlich. Die Akustik war beispiellos und sicherlich einzigartig für solch einen großen, circa fünfhundert Personen fassenden Saal wie diesen. Abgerundet wurde der architektonische Meisterbau von einer protzigen Glaskuppel, die alle anderen Bauten des Campus im wahrsten Sinne des Wortes in den Schatten stellte.
Jakob und Andrej hielten abrupt vor der geschlossenen durchsichtigen Flügeltür an. Sie lugten wortlos in den Saal. Die gesamte Elite hatte sich versammelt, wie es eben üblich war für solche Pflichtvorlesungen am Ende des Semesters.
Eine gewagte Gelegenheit, um unangenehm aufzufallen, stellte Jakob unerschrocken fest und öffnete bedächtig einen der beiden Türflügel. Dicht gefolgt von Andrej, trat er ein. Auf der Suche nach zwei leeren Plätzen spukten sie auf Zehenspitzen die hintere Reihe entlang. Ihre Mienen waren dabei kalt und regungslos, fast wie die Visagen zweier Berufsverbrecher vor dem Clou ihres Lebens. Doch in Wirklichkeit versteckte sich dahinter ihre bloße Angst vor einer öffentlichen Demütigung.
„Guten Tag, die Herren!“ Professor Friedmann hatte die beiden Nachzügler längst ausgemacht und vergeudete keinen Gedanken daran, sie sich ungeschoren setzen zu lassen. „Es freut uns alle sehr und insbesondere mich, dass Mr. Lemmon und sein Kompagnon Mr. Nikolajew sich die Ehre geben, der Vorlesung beizuwohnen.“
Andrej rollte mit seinen Augen. Er war genervt von den ständig übertriebenen Inszenierungen des Professors. Konnte der sie nicht einfach ignorieren und in Ruhe lassen?
„Es ist ja nicht so, dass Pünktlichkeit eine Tugend wäre, auf die ich oder unsere Schule besonderen Wert legen“, erklärte Friedmann mit trügerischem Unterton, „doch nun sind Sie ja glücklicherweise angekommen, sitzen bequem und haben bestimmt auch nichts dagegen einzuwenden, mich tatkräftig zu unterstützen, oder?“
Professor Emmerich Friedmann war ein Lehrmeister der Rhetorik. Er verstand es wie kein anderer, über einen simplen Satz seitenlange Aufsätze zu verfassen. Wenn er erst einmal aufblühte, von irgendetwas begeistert war und die Aussicht bekam, seinen Senf dazuzugeben, brachen alle Dämme.
„Also, sie zwei Helden“, sagte Friedmann ruhig, „kann mir einer von ihnen den Sinn und Zweck oder, besser noch, das Endziel dieser Universität erklären? Sie vielleicht, Mr. Nikolajew?“
Andrej schaute zu Jakob, dann an die Decke und letztlich mit zuckenden Achseln in Friedmanns Gesicht. Er hätte antworten können, tat es aber nicht. Er wollte dem primitiven Spielchen Friedmanns keine Nahrung geben und entschloss sich prompt zu schweigen. An ihm sollte sich der Professor nicht ergötzen können.
„Gut, dann beantwortet eben Mr. Lemmon meine Frage.“
Jakob stöhnte. Beobachtet von annähernd vierhundert Augenpaaren, überlegte er angestrengt, sodass seine Stirn in Falten stand. Schließlich rang er sich zu einer Antwort durch und legte los.
„Der eigentliche Sinn unserer Universität“, begann er, „besteht darin, besonderen Talenten die Möglichkeit zu geben, unter optimalen Bedingungen und unter der Vormundschaft des Staates ihre Gabe zu perfektionieren.“
„Zum Beispiel?“, fragte der Professor nach.
„Zum Beispiel Andrej. Ich kenne keinen Zweiten, der so exzellent den Ball behandelt wie er!“
„Der einfache Grund dafür könnte ihr Desinteresse am Basketball sein, Mr. Lemmon. Aber Sie haben durchaus Recht. Fahren Sie doch bitte fort.“
„Das Endziel ist, unsere Fähigkeiten zum Nutzen der Gesellschaft einzusetzen. Unsere Universität kann somit für jeden Einzelnen von uns das Sprungbrett in eine frohe und erfolgreiche Zukunft sein.“
Jakob griente. Von seinem aufmunternden Schlusssatz angetan, fühlte er sich schon auf der sicheren Seite, als der Professor tief Luft holte, die flache Hand auf das Pult knallte und so einen ohrenbetäubenden Lärm erzeugte.
„Falsch, Ihre Aussage ist falsch, Lemmon.“ Friedmann ließ jetzt die Förmlichkeiten außer Acht. „Die Theodor-von-Meye-Universität kann nicht nur das Sprungbrett sein, sie ist es bereits. Alle, die hier in diesem Hörsaal sitzen, haben sich bereits entschieden und sind gesprungen. Ja, sie sind alle ausnahmslos gesprungen, gesprungen in die Mitgliedschaft der Future Group of Europe!“
Friedmann war erbost. Er streckte seinen kleinen linken Finger senkrecht in die Höhe und verweilte in dieser Stellung.
„Schauen Sie sich diesen meinen Ring genauestens an. Ist das nicht der gleiche silbermatte Ring, mit demselben kantigen Wappen, den Sie auch tragen?“
Der Professor starrte fanatisch auf einen Studenten in der ersten Reihe, ein Bauernopfer, das schnellstmöglich mit dem Kopf zustimmend zu nicken begann.
„Sie alle tragen diesen Ring und haben sich demzufolge praktisch wie auch symbolisch an dieses System gebunden. Unser Staat bietet Ihnen, den Besten der Besten, eine ideale Grundlage, um in Ihrem Leben erfolgreich zu sein. Es wird von Ihnen nur verlangt, an dieser Gesellschaft teilzunehmen und sie in Verbundenheit mit dem System zu formen.“
Emmerich nahm Fahrt auf und war im Begriff, sich völlig in Rage zu reden, als ihn eine Studentin aus dem Konzept brachte. Sie meldete sich, dabei heftig mit den Fingerkuppen schnipsend.
„Was ist denn, Mrs. Raichand?“, sagte der Professor hitzig.
„Ich wollte gerne einen Beitrag zur letzten Fragestellung leisten, wenn es recht ist?“
Friedmann überlegte, kniff seine Augen zusammen und betrachtete die junge Dame in der vorletzten Reihe. Er war auf der Suche nach dem Haken an der Sache. Seit er an dieser Universität dozierte, hatte es noch kein Student gewagt, ihn in seinen Anfällen zu unterbrechen.
„Mrs. Raichand, ich hoffe für Sie sehr, dass Ihr Beitrag gut überlegt und eine echte Bereicherung für uns alle ist.“
„Oh, das glaube ich schon. Denn ich möchte den Sinn dieser Universität gerne mit einer Ihrer fabelhaften früheren Ausführungen vergleichen, Professor Friedmann.“
Jetzt hatte sie den Professor tatsächlich am Haken. Von Neugier getrieben, welche seiner Aussagen sie zitieren würde, stimmte er bereitwillig, fast schon unbeherrscht wie ein Kind vor einem Haufen Süßigkeiten zu.
„Laut Ihnen, Professor, können die Studenten unserer Universität mit der kubischen Modifikation des Kohlenstoffs verglichen werden, einem Diamanten. Die Aufgabe und somit der Sinn unserer Schule besteht einzig darin, diese wertvollen Kristalle zu finden, sie zu formen und weiter zu härten. Es spielt dabei keine Rolle, welcher Herkunft er ist, welchen sozialen Status er hat oder welche herausragende Eigenschaft der Diamant, also der Student, sonst noch besitzt. Er muss aber in der Lage sein, durch seine Fähigkeiten den Grundgedanken des Staates zu leben und diesen auch festentschlossen in die Gesellschaft weiterzutragen.“
Friedmann verblieb mit geschlossenen Augen an seinem Pult, seine Arme stützten den schweren Körper und er ließ die Worte auf sich wirken. Er genoss das würdevolle Gefühl, vor Schülern der Universität zitiert worden zu sein.
„Exzellent und wirklich hervorragend, Mrs. Raichand. Daran könnte sich manch anderer ein Beispiel nehmen.“ Emmerich schaute dabei zu Jakob und Andrej hinauf.
Neraj Raichand nickte, setzte sich hin und suchte dabei energisch den Blickkontakt mit Jakob Lemmon. Der saß nur eine Bank von ihr entfernt in der obersten Reihe und beugte sich vor. Ihre Blicke trafen einander. Schlagartig wandelte sich ihr süßes Lächeln in ein spöttisches, dreckiges Grinsen. Sie öffnete ihren Mund ein wenig, drückte die kleine, spitze Zunge heraus und formte gleichzeitig den Daumen und den Zeigefinger ihrer linken Hand zu einem eindeutigen Zeichen und hielt es sich vor die Stirn.
„So ne Schlange“, ärgerte sich Andrej.
„Lass es nur gut sein“, beruhigte Jakob seinen entrüsteten Banknachbarn und gab ihm damit zu verstehen, dass alles in bester Ordnung sei. Er meldete sich.
„Was hast du jetzt schon wieder vor? Spinnst du?“
„Bleib locker.“
„Dem Professor wird das gar nicht gefallen.“
„Dem Professor vielleicht nicht, aber mir.“
Friedmann wollte gerade im Lehrplan weitermachen, als er Jakobs erhobenen Arm entdeckte. Er traute seinen Augen kaum. Was war denn heute nur los mit diesen Studenten? Der nächste, der sich innerhalb kürzester Zeit anmaßte, ihn, den Gefürchtetsten aller Professoren, zu unterbrechen.
„Lemmon, wir haben weitaus Wichtigeres vor uns als Ihre albernen Spielchen. Was um alles in der Welt wollen Sie denn jetzt noch“, Friedmann schnaufte.
„Ich möchte mir nur ein Beispiel nehmen“, sprach Jakob trocken.
Andrej schlug die Hände über seinem Kopf zusammen als Zeichen seines geringen Vertrauens, welches er in Jakob und dessen Vorhaben hatte.
„Ich möchte mir ein Beispiel an Mrs. Raichand nehmen und gern die Frage, Professor Friedmann, die im Übrigen noch nicht komplett beantwortet wurde, vervollständigen.“
Des Professors Laune baumelte jetzt am seidenen Faden. Das Gesicht, von Zornesröte übergossen, zeugte von einem akut bedrohten Gemütszustand, einem brodelnden Vulkan kurz vor einer heftigen Eruption. Doch zu Andrejs und vermutlich aller Verwunderung sagte der Professor im duldenden Ton eines Großvaters: „Bitte Lemmon, die Bühne gehört Ihnen."
Erleichtert ging Jakob sein Vorhaben an. Beobachtet von Friedmanns Blicken, richtete er sich auf. Der ganze Saal starrte ihn an, wieder einmal. Er wartete, er wartete so lange, bis jeder im Raum das Verlangen verspürte, seine Antwort wissen zu wollen. Die Spannung stieg allmählich ins Unermessliche, ein Psychospiel ganz im Stile des Professors, nur dass die Bühne diesmal ihm gehörte.
„Meine Aussage bedarf keines Kommentars.“
Ein Raunen ging durch den Saal. Mit dieser Art Antwort hatte keiner gerechnet, auch Andrej nicht. Dieser schaute zu Jakob auf. Was hatte der soeben von sich gelassen?
„Lemmon, es reicht“, hallte es durch den Saal.
Die Studenten zuckten zusammen. Jakob jedoch, unbeirrt von Friedmanns neuerlichem Anfall, hob seinen Arm. Er deutete mit der Hand auf eine Fläche vor ihm an der Wand. Regungslos verweilte er in dieser Stellung in der obersten Reihe. Die ersten Studenten begannen zögerlich ihre Blicke von ihm zu lösen und folgten still seinen Anweisungen. Auch Friedmann drehte zaghaft seinen Kopf und schaute auf die in der Wand verankerte Kreidetafel. Der alte Professor wusste ganz genau, welche Botschaft über seinem Haupt prangerte, und dennoch musste er die ins harte Mauerwerk gemeißelten Buchstaben lesen: „R.O.M.E.“
Die Zeit stand still. Dem Professor fehlten die Worte. Zum ersten Mal schien er als Verlierer vom Platz gehen zu müssen. Die Republic of Modern Europe war das Endziel dieser Elite-Universität und Jakob hatte dies eindrucksvoll und ohne ein einziges Wort zu gebrauchen erläutert.
„Mr. Lemmon, eine blendende Vorstellung.“
Jakob grüßte und fügte hinzu.
„Moderne Demokratie.“
Damit war nun allen Anwesenden im Hörsaal klar, was er meinte. Das Ziel der Theodor-von-Meye-Universität war es, die Eliteschüler auf allen wichtigen Ebenen der Gesellschaft zu integrieren, ihren Einfluss zu nutzen und so die perfekte, die moderne Demokratie der R.O.M.E. am Leben zu halten.
Professor Friedmann strich sich mit der Hand von der linken Wange aus über sein Doppelkinn, er dachte intensiv nach. Dann begann er etwas mit weißer Kreide an die Tafel zu skizzieren. Dabei fauchte er: „Hat noch jemand von Ihnen etwas zu sagen?“
Niemand wagte es.
„Klasse. Dann können wir ja abschließend mit unserem eigentlichen Lehrstoff weitermachen und ach …“, fügte er leise hinzu, „Mr. Lemmon und Mrs. Raichand, Sie beide sehe ich später noch in meinem Büro, verstanden!“