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2. Seine Leidenschaft für das Theater.
ОглавлениеMich rissen hin die Schauspiele, in denen ich meine Leiden und den Zündstoff für meine Leidenschaft wiederfand. Warum will doch der Mensch dort Szenen voll Trauer und Jammer anschauen, die er in Wirklichkeit nicht durchmachen möchte? Und doch will der Zuschauer schmerzlich gerührt werden, ja der Schmerz selbst ist seine Lust. Ist das nicht ein bedauernswerter Wahnsinn? Denn je mehr jemand unter solchen Affekten zu leiden hat, desto mehr wird er auch durch jene Darstellungen erschüttert; leidet man selbst, so nennt man es Leid, empfindet man mit andern, so nennt man es Mitleid. Wie aber kann bei Dichtungen und szenischen Darstellungen von Mitleid die Rede sein? Der Zuschauer wird ja nicht um Hilfe angegangen, sondern zum Schmerze eingeladen, und je mehr er Schmerz empfindet, desto höher schätzt er den Darsteller solcher Bilder. Und wenn jene tragischen Ereignisse aus dem Mythus des Altertums oder aus dem Kreise der Dichtung so aufgeführt würden, daß der Zuschauer keinen Schmerz empfände, so ginge er gelangweilt und unter Ausdrücken des Tadels von dannen; wird er aber schmerzlich ergriffen, so harrt er in gespannter Aufmerksamkeit aus und weint in seiner Freude.
Werden also auch Tränen und Schmerzen geliebt? Jeder Mensch strebt doch nach Freude. Oder werden etwa aus dem Grunde Schmerzen geliebt, weil, wenn man das Leid vermeidet, man doch gern Mitleid empfindet, dieses aber ohne Schmerz undenkbar ist? Auch dies entstammt wohl jener Quelle der Freundschaft? Aber wohin strömt sie? wo mündet sie? Warum strömt sie in jenen reißenden Strom siedenden Peches, in jene gewaltigen Brandungen schändlicher Lüste? Warum verwandelt und verkehrt sie sich in jene Brandungen, abgelenkt und hinabgestürzt durch eigene Willkür von himmlischer Wahrheit? Soll man also das Mitleid von sich zurückweisen? Keineswegs. Also muß man sich mitunter damit abfinden, die Schmerzen zu lieben. Doch hüte dich, meine Seele, vor der Unreinigkeit unter dem Schutze meines Gottes, des Gottes unserer Väter, der hoch gelobt und gepriesen in alle Ewigkeit – hüte dich vor der Unreinigkeit! Denn auch jetzt empfinde ich noch Mitleid; damals aber im Theater freute ich mich mit den Liebenden, wenn sie in Schande miteinander buhlten, wenn es auch nur zur Täuschung der Zuschauer auf der Bühne geschah, betrübte mich aber herzlich, wenn sie einander verloren; und doch erfreuten mich beide Situationen! Jetzt aber bemitleide ich mehr den, der in Wollüsten aufgeht, als den, der Schweres zu erdulden vermeint, wenn ihm verderbliche Lust entgeht und er ein jämmerliches Glück verliert. Da ist sicher das wahre Mitleid, aber dieser Schmerz kennt keine Freude. Denn wenn auch, wer einen Verirrten beklagt, das lohnende Bewußtsein erfüllter Liebespflicht hat, so möchte doch echtes Mitleid von vornherein auf solchen Schmerz verzichten. Wenn es nämlich übelwollendes Wohlwollen gäbe - was unmöglich ist! -, dann wäre der Fall denkbar, daß einer aus wahrhaftem und aufrichtigem Mitleidsgefühl heraus sich leidende Elende wünschte, nur um sie bemitleiden zu können. Und so kann man wohl einige Schmerzen billigen, keinen aber lieben. Weil du also, o Herr mein Gott, der du die Seelen liebst weit reiner und inniger als wir, von keinem Schmerze verwundet wirst, ist auch deine Erbarmung lauterer und dauernder. „Welcher Mensch aber ist dazu imstande?“53
Aber ich Elender liebte damals den Schmerz und suchte nach einer Ursache für meinen Schmerz, und umso mehr gefiel mir bei fremdem, unechtem Leide des Mimen Spiel, umso mehr lockte es mich an, je mehr Tränen es mir auspreßte. Was Wunder, wenn ich da als unglückliches Schaf, das weit von deiner Herde wegirrte und deiner Hut sich entzog, von schrecklichem Aussatze entstellt wurde? Daher kam also meine Lust am Schmerze, freilich nicht an solchem, der imstande war, mich tiefer zu verwunden - ich liebte es mehr, solche Schmerzen anzusehen als sie zu erdulden -, sondern ich wollte mich nur, wenn ich von solchen erdichteten Schmerzen hörte, oberflächlich rühren lassen; doch folgten auch solchem Tun wie beim Kratzen mit den Nägeln entzündete Geschwülste, Fäulnis und ekler Eiter. Konnte mein Leben unter diesen Umständen, o mein Gott, überhaupt noch Leben heißen?