Читать книгу Geschichten von A bis Z - Autorengemeinschaft Aussagekräftig - Страница 10
Dämmerstunden Enya Kummer
ОглавлениеRuth
Ich zögere, ins Haus hineinzugehen, obwohl ich weiß, dass ich mich beeilen sollte. Stecke den Schlüssel ins Schloss, halte inne, zögere erneut. Es ist mein Zuhause, in dem ich immer Wärme und Geborgenheit empfunden habe, und das ich jetzt am liebsten meiden würde.
Von dem halbstündigen Fußmarsch bin ich erschöpft. Wie eine alte Frau. Und das mit vierzig. Ich kümmere mich zu wenig um mich, wie auch, wenn meine Mutter Mathilda meine ganze Aufmerksamkeit fordert. Und mein Sohn Jona dazu, mitten in der Pubertät, schwierig, aufsässig.
Schließe endlich auf. Im Flur ist es dunkel. Jetzt im Herbst sind die Tage spürbar kürzer geworden und wenn ich vom Supermarkt heimkomme, dämmert es schon. Irgendwas hat mich irritiert, komme nicht drauf. Egal, bin zu müde, um dem jetzt nachzuspüren. Ich streife den Mantel ab, hänge ihn an die Garderobe, ohne Licht zu machen. Die Tür zur Küche steht offen und ein schwacher Schein spendet genügend Licht. Ich bleibe auf der Schwelle stehen, lasse den Blick wandern. Wie oft haben wir hier gesessen, als Vater noch lebte und Mutter vor Lebensfreude und Energie überschäumte. Als Jona begierig mit seiner Oma Bilderbücher angeschaut hat und Papa mir Kaffee kochte, wenn ich von der Arbeit kam. Erinnerungen, die schmerzen.
Nur eine Tasse Kaffee, danach muss ich nach Mathilda schauen. Ich hoffe, dass sie nicht wieder den halben Tag verschlafen hat. Dann wird die Nacht zur Qual, für sie und für mich. Zum Glück sieht es in der Küche aufgeräumt aus. Jona hat wohl gegen seine sonstige Gewohnheit das Geschirr in die Spülmaschine geräumt. Oder er hat nichts gegessen und auch seiner Oma nichts gebracht. Ich muss die düsteren Gedanken aus dem Kopf verscheuchen. Möchte heulen.
Die Tage sind wie ein langweiliges Musikstück mit gelegentlichen Trommelwirbeln, die einen aufschrecken lassen. Ich weiß nie, wann Melodie und Rhythmus wieder aus dem Takt geraten. Nützt ja nichts.
Ich streiche den Kaffee, gehe zu Mathildas Zimmer. Die Tür ist angelehnt. Und es ist still. Verdammt, sie schläft. Ich stoße die Tür ganz auf und erstarre. Das Zimmer ist leer. Am Boden liegen Schuhe, mehrere Paare durcheinander. Ein Schal, Mathildas geblümtes Sommerkleid.
Ich stürme ohne anzuklopfen ins Zimmer von Jona. »Wo ist Oma?«
Mein Sohn hockt am Computer, das Gesicht klebt fast am Bildschirm. Salven von Gewehrschüssen, vermutlich hat er meine Frage nicht gehört.
»Jona!« Lauter jetzt.
Endlich dreht er den Kopf. »Hm?« Eine Kaugummiblase wölbt sich vor seinem Mund, zerplatzt geräuschlos.
»Wo ist Oma?«
»Ist sie weg?« Jona blickt wieder zum Monitor mit dem Kriegsgeschehen.
Ich könnte aus der Haut fahren, reiße mich zusammen, bringt nichts, wenn ich jetzt schreie. »Sie ist nicht in ihrem Zimmer, in der Küche auch nicht, nirgends.«
»Scheiße, ich dachte, sie ist längst wieder hier.« Mein Sohn rollt mit dem Stuhl in meine Richtung, stoppt direkt vor mir und steht auf.
Ich bin geschockt, das kann doch nicht wahr sein. »Wieder? Das heißt, du hast gesehen, dass sie weg ist?« Ich warte die Antwort nicht ab. Im Flur sehe ich es. Der Schlüssel hängt nicht am Schlüsselbrett. Weiß nun, was mich beim Heimkommen irritiert hat, es war nicht abgeschlossen. Machen wir immer, Jona und ich, seit Mathilda so … na ja, seit sie wegläuft und nicht mehr heimfindet.
Mein Sohn ist mir gefolgt. »Mensch, Mama, sie war ganz vernünftig. Gut gelaunt. Wollte in den Buchladen.«
»Und du hast ihr aufgeschlossen? Ihr den Schlüssel mitgegeben? Ich fass es nicht.« Mir wird übel.
»Nee, sie hat selbst aufgeschlossen. Lass sie doch, du kannst sie nicht einsperren.« Jona vergräbt die Hände in den Hosentaschen, wippt auf den Zehenspitzen.
»Doch, kann ich, muss ich. Sie ist nicht mehr ganz bei sich. So oft. Wir riskieren, dass was passiert. Wie lange ist sie weg?«
Jona zieht die Hand aus der Hosentasche, schaut auf die Armbanduhr. Wird blass, dann rot, zieht die Luft ein.
»Jona?« Die Übelkeit wird stärker.
»Verdammt, schon so spät? Ich … ich glaube, seit fast fünf Stunden, nach dem Mittagessen ist sie weg.« Er wühlt in den Haaren rum, da ist nichts mehr cool an ihm.
»Wir müssen sie suchen. Es ist dunkel draußen, regnet. Du kommst mit. Zieh dich an.«
Vor dem Haus zögere ich nur kurz.
»Du gehst zu der Buchhandlung, obwohl die jetzt schon geschlossen ist. Aber vielleicht irrt Oma noch in der Gegend rum.«
Er zieht die Augenbrauen hoch. »Und du?«
»Ich suche im Park, du weißt, ihr Lieblingsplatz am Teich. Die eine Bank, auf der sie immer mit Opa gesessen hat. Und jetzt mach, wir treffen uns wieder hier.«
Ausnahmsweise mault Jona nicht und trollt sich. Inzwischen ist es völlig dunkel. Die Sicht ist schlecht, feuchte Nebelschwaden wabern zwischen den Häusern. Ich setze die Kapuze meiner Windjacke auf, schon jetzt fröstelt’s mich. Das innere Zittern kommt nicht nur von der herbstlichen Kälte. Bin aufgeregt, und wie! Laufe los. Muss ein paar verkehrsreiche Straßen überqueren, dann wird es ruhiger. Kaum noch Menschen, wenige Autos. Kleine Einfamilienhäuser mit gepflegten Vorgärten. Endlich der Park. Zum Glück wird der Hauptweg von Straßenlaternen erhellt, zwischen denen die Bäume dicht stehen. Was, wenn ich Mathilda nicht finde? Die Polizei? Aber werden die sofort tätig? Glauben die mir, wenn ich von der Alzheimererkrankung meiner Mutter erzähle?
Auch hier hat sich der Nebel in den Baumkronen verfangen, die Stille ist gespenstisch. Bin froh, als zwei Fahrradfahrer an mir vorbeischießen, viel zu schnell zwar, aber dennoch beruhigend. Der Park ist nicht ausgestorben. Zweimal muss ich abbiegen, dann sehe ich den Teich vor mir. Dunkel liegt er zwischen halbhohen Büschen, die nur zum Weg hin eine Öffnung lassen. Bänke rund ums Ufer, dazwischen Laternen, die goldene Lichtstreifen auf die schwarze Wasseroberfläche malen. Ich kneife die Augen zusammen. Mathildas Lieblingsbank liegt auf der anderen Uferseite, kann dort nichts erkennen. Ich laufe den schmalen Uferpfad entlang, erschrecke, als ich auf einer Bank vor mir eine dunkle Gestalt sitzen sehe.
Nein, es ist nicht meine Mutter. Ein alter Mann hockt auf einer Zeitung, der Kopf ist auf die Brust gesunken. Ich haste weiter, mag mir nicht vorstellen, wie der Typ die Nacht verbringen wird. Dann kommen mir zwei Menschen entgegen, ein Pärchen, eng umschlungen gehen sie an mir vorbei.
Endlich, ja. Auf dieser Bank sitzt Mathilda, die Hände hat sie zwischen die Knie gepresst, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, ganz leicht wiegt sie den Oberkörper hin und her. Bin geschockt und erleichtert zugleich. Hab sie gefunden. Aber sie muss völlig unterkühlt sein.
»Mama?« Hocke mich vor sie.
Sie reagiert nicht, ich höre ein leises Murmeln, verstehe nichts. Als ich sie an den Armen berühre, fährt sie auf. Starrt mich an. »Was …« Mehr bringt sie nicht raus. Zittert jetzt.
»Mama, du musst aufstehen. Komm, wir gehen heim.«
Sie nickt, versteht. »Ruth, Kind, ich habe lange auf dich gewartet.«
Ich nehme sie beim Arm, ziehe sie hoch. Sie geht willig mit mir. Schweigend laufen wir nach Hause. Jona ist noch nicht da. Ich schicke ihm eine WhatsApp-Nachricht, hoffe, er hat sein Handy dabei.
Bin erschöpft, am liebsten würde ich ins Bett gehen. Keine Option, Mathilda muss versorgt werden. Ich bringe sie ins Badezimmer.
»Was soll ich hier, ist doch noch zu früh zum Schlafengehen.« Sie schaut mich an, als sei ich nicht von dieser Welt.
»Du musst warm duschen, Mama, bist ja völlig durchgefroren. So lange, wie du da in der Kälte draußen gesessen hast.«
»Kindchen, in der Buchhandlung war es schön warm, ich habe gelesen und mich dann nett unterhalten. Die haben aber um fünf geschlossen. Wollte noch nicht nach Hause. Deswegen bin ich in den Park.«
Sie ist völlig klar, weiß genau, was sie gemacht hat, das schürt meine Wut. »Und dass wir uns gesorgt haben, ist dir nicht in den Sinn gekommen? Und warum bist du da im Dunkeln noch sitzengeblieben?«
Mathilda senkt den Kopf. Fängt an, sich auszuziehen. »Es tut mir leid, Ruth. Ich hatte wohl wieder eine meiner Dämmerstunden.«
Dämmerstunden, oh ja, und sie mehren sich …
Ich wickle mich auf dem Sofa in eine Decke, das Glas Rotwein steht auf dem Tisch. Den Fernseher habe ich leise gedreht, ihn ganz auszumachen, hätte ich nicht ertragen. Zu still dann, zu sehr das Gefühl, allein zu sein.
Jona hat seiner Oma Brote geschmiert, ungefragt. Muss sein schlechtes Gewissen sein. Alles ist ihm doch nicht gleichgültig. Ich darf ihm das nicht mehr zumuten, dass er auf Mathilda aufpassen muss. Dämmerstunde. So nennt sie es, wenn sie sich wieder nicht erinnert. Manchmal wünsche ich mir auch so einen Zustand herbei, meine eigenen Dämmerstunden, in denen ich vergessen kann. Was, wenn es in Mathilda ganz dunkel wird?
Mathilda
Sie lauscht ins Dunkle, fragt sich, was sie jetzt tun soll. Mitten in der Nacht, wenn alles still ist, so wie oft in ihrem Kopf. Es sind die Tabletten, denkt sie, sie füttern mich damit, dass ich ruhig bin. Die Gedanken sind auf einmal so klar. Sie weiß, was mit ihr geschieht. Auch wenn es schmerzt, will sie diesen Zustand festhalten. Aufstehen, sie muss aufstehen, den Moment nutzen. Ehe sie erneut eine Dämmerstunde einhüllt. Läuft ins Wohnzimmer. Schaltet das Licht an. Soll sie lesen? Oder vielleicht Staub wischen? Ja, dann hätte Ruth weniger zu tun. Die reibt sich doch auf. Mathilda zieht die Schublade im Schrank heraus, verharrt, weiß nicht, was sie braucht. Starrt auf Papiere, Kerzenstummel, Streichhölzer. Öffnet die Schranktür, sieht die Sammeltassen, erinnert sich, dass ihre Schwester die geliebt hat. Warum sind die jetzt hier?
»Mama, was machst du?« Ruth hält ihre Hand fest.
Mathilda schlägt nach ihr, sie hasst es, wenn man sie so hart anpackt. »Ich suche was.«
»Was denn, es ist mitten in der Nacht. Geh zurück ins Bett. Bitte.«
Und wieder diese Dunkelheit. Mathilda denkt an die Sammeltassen und ihre Schwester Klara, strengt sich an, sieht ihr Bild, verschwommen, zitternd, bis es verblasst.
Ruth
Was für ein Mistwetter. Ich laufe durch den Regen, der Wind weht so heftig, dass es mir den Schirm umdreht. Die Kapuze hält die Nässe kaum ab. Hätte doch mit dem Auto fahren sollen, auch wenn es zum Supermarkt nur wenige Straßen sind. Bin noch müde. Nach Mamas Aktion in der Nacht konnte ich lang nicht einschlafen. Wie soll das bloß weitergehen. Meinen Job als Filialleiterin kann ich nicht aufgeben, das Geld brauchen wir dringend. Mamas Rente ist nicht allzu üppig. Chris, mein Ex, ist seit Monaten nicht auffindbar, zahlt nicht und kümmert sich die Bohne um seinen Sohn. Bin ja dankbar, dass ich mit dem Kind, Jona war gerade drei, zu meinen Eltern ziehen konnte. Zumindest die Miete spare ich so, das Haus ist abbezahlt. Dafür hat Papa gesorgt.
Bin keine Minute zu früh am Laden, die ersten Kunden stehen schon vor der Tür. Markus, meine rechte Hand, schließt gerade auf. Zuverlässig ist er, zum Glück.
»Morgen, Markus. Wann kommen die Warenlieferungen? Sind doch heute zwei Fuhren angekündigt.«
»Guten Morgen, Ruth. Ja, leider erst gegen zehn. Wir brauchen dringend das Toilettenpapier. Alles andere eilt nicht.«
Ich genehmige mir im kleinen Aufenthaltsraum einen Kaffee. Setze mich an den Computer und prüfe die Bestellungen.
»Kommst du mal bitte?« Habe höchstens eine halbe Stunde gearbeitet, als Markus den Kopf zur Tür reinsteckt.
»Was ist los?« Nur widerwillig stehe ich auf, mag diese Unterbrechungen nicht.
»Diebstahl«, er verschwindet.
Im Laden, bei den Regalen mit Brotwaren, stehen Markus, Sanne und Kim.
Flankieren einen Typen mit fast schulterlangen fettigen Haaren. Auch die Kleidung sieht nicht sauber und gepflegt aus. Braune Cordhose, ein Norwegerpulli, darüber eine zerschlissene dünne Jacke. Stiefel ohne Schuhbändel. Der Mann ‒ das Alter kann ich nicht schätzen ‒ hält den Kopf gesenkt, hat die Hände gefaltet.
»Er hat das Brot und einen Sandkuchen unter seiner Jacke versteckt.« Sanne hält mir die Ware hin.
Du liebe Zeit, wohl ein Obdachloser, so wie er ausschaut. Und mal keine Schnapsflasche wie öfter bei diesen Menschen. Ob der wirklich Hunger hat?
»Bring ihn in mein Büro«, sage ich zu Markus.
Ich habe ein komisches Gefühl, als der Typ mir da gegenübersitzt. Es ist offensichtlich, dass er sich schämt. Franz Mager heißt er, der Name passt, denn an ihm ist nicht viel dran. Seinen Perso hat er mir gezeigt, ein altes Dokument, verklebt und eingerissen.
»Wo wohnen Sie, Herr Mager?« Als ich die Frage stelle, weiß ich sofort, wie sinnlos die ist.
»Hier und da«, Franz Mager hebt die Schultern, »unsereins hat nur wenige Plätze, an denen es sich leben lässt.« Jetzt schaut er mir in die Augen. Herausfordernd?
»Das tut mir leid, aber dennoch können Sie hier nicht einfach Sachen mitnehmen. Es gibt doch die Suppenküche, wenn Sie Hunger haben …«
Mager hebt die Hand. »Schon gut. Es tut mir leid. Da kann ich erst mittags hin und mir war so kalt.«
Irgendwie rührt mich der Mann.
»Haben Sie gar nichts bei sich?« Normalerweise schleppen doch die Obdachlosen Taschen und Tüten mit sich oder schieben gar Einkaufswagen durch die Gegend.
»Da passt ein Kumpel drauf auf. Ich bin … normalerweise mache ich das nicht. Einfach klauen. Wollte mich ein bisschen aufwärmen, und dann war da der Geruch … kann ich das wiedergutmachen? Oder holen Sie jetzt die Polizei?«
Nicht Bullen, sagt er, seine Sprache ist gepflegt, gutes Hochdeutsch. Der hat mal andere Zeiten gesehen.
Ich fasse einen Entschluss. »Nein. Sie können gehen.« Stehe zeitgleich mit Mager auf.
»Danke«, murmelt er und schlurft zur Tür.
»Warten Sie.« Ich nehme Brot und Kuchen und drücke sie ihm in die Hände. Öffne ihm die Tür.
Eine leichte Röte überzieht sein Gesicht, er streicht sich über die Bartstoppeln. »Wie heißen Sie?« Mit großen Augen schaut er mich an.
»Ruth Jakobi.« Keine Ahnung, warum mir das so schnell rausgerutscht ist.
Die Arbeit geht mir heute nur stockend von der Hand. Meine Gedanken kreisen um Mathilda und immer wieder um Franz Mager.
Mathilda
Das plötzliche Geräusch lässt sie zusammenfahren. Ein helles Schellen, es wiederholt sich. Mathilda weiß nicht, woher es kommt. Aus dem Flur? Sie traut sich nicht nachzuschauen. Ruth müsste doch da sein. Und ihr Enkel, Mathilda erinnert den Namen nicht. Sie fängt an zu zittern. Nimmt den Bilderrahmen vom Nachttischchen. Da ist er noch klein, höchstens fünf. Ein wonniger Kerl, der in die Kamera lacht. Jetzt ist er fast ein junger Mann. Wie heißt er nur? Mathilda schlägt sich gegen die Stirn, mehrmals.
Der schrille Ton hat aufgehört, stellt sie fest. Und da weiß sie plötzlich, dass es das Telefon war.
Ich muss was trinken, denkt sie. Ruth sagt immer, wenn ich viel trinke, funktioniert mein Gedächtnis besser. Sie geht in die Küche, sinkt auf einen Stuhl.
»Jona. Der heißt Jona.« Sie spürt ihr erleichterndes Lächeln im Gesicht. Eilt in ihr Zimmer. In der Schrankschublade ist Papier. Auch Stifte liegen da. Mathilda reißt einen Streifen von einem großen Blatt ab und schreibt den Namen ihres Enkels drauf. Den Zettel legt sie unter den Bilderrahmen. Was wollte sie nur in der Küche? Egal, wird nichts Wichtiges gewesen sein. Sie legt sich aufs Bett, schaltet den kleinen Fernseher ein. Wie ein Kaleidoskop schwirren die bunten Bilder in ihrem Kopf herum. Sie schließt die Augen, lauscht den immer leiser werdenden Stimmen.
Ruth
»Mama? Bist du da?« Achtlos werfe ich Mantel und Schal über den Garderobenständer, streife die Stiefel ab.
Die Küchentür öffnet sich. Mathilda steckt den Kopf raus. »Was schreist du so? Wo sollte ich denn sein? Dir passt das doch nicht, wenn ich rausgehe.« Puh, sie klingt aggressiv, diese wechselnden Stimmungen nerven, von melancholisch bis wütend, alles kann innerhalb eines Tages vorkommen.
»Schon gut, Mama. Ist Jona da?«
»Er ist bei …« Sie zögert, hebt die Schultern, »bei einem Freund halt. Er hat gesagt, er kommt zum Abendessen. Ich habe schon angefangen zu kochen, komm.«
Als ich die Küche betrete, bleibt mir fast das Herz stehen. Der Tisch ist übersäht mit Lebensmitteln, sieht so aus, als hätte Mama den kompletten Kühlschrank leer geräumt. Auf dem Herd vier Töpfe, aus allen steigt Dampf auf. »Mensch, Mama, was kochst du denn da? Und was machen die Sachen auf dem Tisch? Das geht doch nicht.«
Mathilda schüttelt den Kopf. Lässt sich auf einen Stuhl fallen. Ich spüre ihre Verzweiflung, als sei es meine. Setze mich ihr gegenüber, nehme ihre Hand. Dränge den Ärger zurück. Und dann erzähle ich ihr von Franz Mager.
»Du hast ein gutes Herz«, Mama lächelt, als ich schweige. Steht auf, schlurft aus der Küche.
Ich mache mich ans Aufräumen. Dann ans Kochen.
Mathilda
Sie weiß nicht, was sie fühlt. Langeweile? Eher nicht, vielmehr ist sie erschöpft und sich selbst fremd. Ruth war komisch. Bestimmt hat sie es nicht so gemeint, als sie geschimpft hat. Wegen der Küche. Dann hat sie ja von diesem Mann erzählt. Der mit ihr im Supermarkt war. Arbeitet der dort, ob das ihr neuer Freund ist? Mathilda steht mitten im Zimmer. Lichtpunkte tanzen auf den Dielen, sie versucht, die zu zählen. Warum müssen sie sich auch bewegen. Es ist wichtig, dass sie die Anzahl kennt. Dann kriechen Schatten über die Punkte. Mathilda setzt sich in den großen Sessel, sieht den Schatten zu, die sich ausdehnen. Im Zimmer wird es dunkel. Dann in ihr selbst.
Sie schreckt auf, als eine Hand über ihre Wange streichelt.
»Mama, komm essen, es gibt Gemüseauflauf, magst du doch gern.«
Mathilda ist irritiert, als sie in der Küche sitzen. »Wo ist Jona?«
»Der ist noch bei seinem Freund, sie lernen für eine Arbeit. Er hat angerufen.«
Mathilda versteht nicht, reibt sich den Nacken, dann die Augen. »Kann Jona denn schon allein zu einem Freund gehen. Und so spät abends? Ist ja schon dunkel.«
»Er ist dreizehn, Mama. Und es ist erst sieben. Jetzt im Herbst dämmert es halt früh.«
»Wir haben doch gerade erst seinen fünften Geburtstag gefeiert. Man kann doch die Kinder in dem Alter nicht so allein laufen lassen.« Mathilda ist entrüstet.
»Mensch, Mama. Du hast vergessen, dass Jona dreizehn ist. Der geht in die Schule, ist recht selbstständig und er kümmert sich auch um dich.«
Ruth bläst die Backen auf, warum stöhnt sie jetzt?
Die Tür geht auf und da steht er, Jona, ihr Enkel, fast so groß wie sie selbst, mit längeren blonden Haaren, ausgewaschenen Jeans, die aussehen, als verliere er sie.
Mathilda drückt die Faust gegen die Stirn und bricht in Tränen aus.
»Alles gut, Oma.« Der Junge streicht über ihre Arme. Sanft.
Später, als sie im Bett liegt, nimmt sie das Foto von Jona in die Hand. »Ich brauche ein neues, so wie er jetzt aussieht«, sie fährt über das Glas. »Ein neues«, wiederholt sie lauter.
Und während sie langsam in den Schlaf sinkt, spürt sie dem guten Gefühl nach, das sie hatte, als Ruth sie in den Arm genommen und Jona sie getröstet hat.
Ruth
Das ist jetzt nicht wahr. Was will der denn schon wieder hier?
»Guten Morgen«, Franz Mager steht fast frontal vor dem Eingang, ich kann ihn nicht ignorieren.
»Herr Mager, was tun Sie hier? Nach der gestrigen Aktion sollten Sie diesen Ort meiden.« Komme mir richtig schäbig vor, als ich das sage. Vermutlich hat er wieder Hunger und erwartet Hilfe. Ich kann ihm doch nicht jeden Tag was zukommen lassen.
»Ich wollte mich noch einmal bedanken für Ihre Großzügigkeit.«
»Schon okay, aber Sie können hier nicht rumlungern, das kommt nicht gut bei den Kunden.«
»Ich verschwinde dann. Heute gehe ich in die Suppenküche.«
Er lächelt. Die harten Züge werden weicher.
»Machen Sie das, Herr Mager.« Ich will nur noch rein. Hat wieder zu nieseln angefangen, dieser Herbst ist fürchterlich.
Ein Hustenanfall schüttelt Mager, hört sich nicht gut an.
»Einen schönen Tag«, erneutes Husten, »Frau Ruth Jakobi.« Er hat sich meinen Namen gemerkt.
Sein Husten und sein Lächeln begleiten mich den ganzen Tag. Ich ärgere mich. Was habe ich mit einem Obdachlosen zu schaffen? Er tut mir leid, aber helfen kann ich ihm nicht. Hab selbst genug Sorgen. Wenn ich an Mama denke …
Der Tag schleppt sich. Bin froh, als ich am Abend den Laden verlassen kann.
Diesmal steht er seitlich der Tür, neben den Einkaufswagen. In der Hand hält er eine Blume, eine Aster, sehe ich, als ich näher komme. Wo hat er die denn mitgehen lassen? Nicht zu übersehen, dass er friert, kein Wunder, es ist noch kälter als gestern.
»Bitte«, er hält mir die Blume hin, »und keine Sorge, habe sie ganz legal erworben.«
Ich will es nicht, halte aber gleich darauf die Aster in der Hand. »Danke, Herr Mager. Aber ich muss rasch nach Hause, meine Mutter und mein Sohn erwarten mich.« Wie bescheuert, was erzähle ich ihm das?
»Nennen Sie mich bitte Franz.« Er läuft neben mir her, diesmal schleppt er eine Sportumhängetasche mit sich.
Obwohl ich keine große Lust auf Unterhaltung habe, drängt die Frage aus mir raus. »Warum leben Sie auf der Straße?«
»Eine lange Geschichte. Die Kurzform ist schnell erzählt. Ich habe im Altenheim gearbeitet. Und dort verschwanden Geld und Schmuck aus den Zimmern der Bewohner.« Heftiges Husten. »Ich bin in Verdacht geraten, konnte nicht das Gegenteil beweisen. Eine Halskette fand man in meinem Fach. Polizei oder ich sollte freiwillig kündigen. Hab ich dann gemacht. War wohl dumm, denn ich bin unschuldig. Es ging bergab, Alkohol, keine neue Arbeit. Wohnung verloren …« Er kneift die Lippen zusammen.
»Haben Sie keine Familie?« Ein Kloß steckt mir im Hals.
Mager schüttelt den Kopf.
»Ich glaube Ihnen. Und sicher haben Sie Ihren Beruf geliebt.« Was sollte ich auch sonst sagen? Den Rest des Weges schweigen wir. Vorm Haus bleibe ich stehen, wir schauen uns an. Franz hustet.
In mir stülpt sich irgendwas um. »Kommen Sie, wir schauen, ob ich was Trockenes für Sie zum Anziehen finde, all die Sachen von meinem Vater …«, ich halte inne.
»Er ist gestorben.« Das ist keine Frage von Franz. Er nickt. »Es tut mir leid.«
Als ich aufschließe, sage ich: »Meine Mama, sie ist manchmal etwas komisch, erinnert sich oft nicht, was gerade passiert ist, vergisst Namen und Ereignisse.« Blöd, dass ich ihn warne, als sei meine Mutter ein Schandfleck.
»Demenz? Oder Alzheimer? Das ist schwer. Schwer für die Kranken und erst recht für die Angehörigen.«
Im Flur nehme ich Franz die durchnässte Jacke ab. »Mama nennt es ihre Dämmerstunden. Manchmal ist ihr noch bewusst, was mit ihr geschieht.«
»Das Wort trifft wohl diesen Zustand sehr gut. Anfangs muss es ein Gefühl sein, als würde man wegdämmern und irgendwann wieder aufwachen, bis dann …« Er hält inne, kratzt sich über die unrasierte Wange.
»Bis man nicht mehr aufwacht und völlige Dunkelheit die Dämmerung ablöst.« Ich habe schnell gesprochen und mir ist bewusst, wie bitter das klingt.
»Haben wir nicht alle manchmal diese Dämmerstunden? Ein Fliehen, wenn wir meinen, es nicht mehr aushalten zu können? Ich jedenfalls kämpfe des Öfteren mit meinen Dämmerstunden.«
Ich ertrage dieses Gespräch gerade nicht und lenke ab. Rufe: »Mama, ich hab Besuch mitgebracht.«
Keine Antwort. Doch dann schiebt sich Mathilda aus ihrem Zimmer, schaut kurz erstaunt, geht strahlend auf Franz zu, streckt die Hand aus.
Der ergreift sie. »Schön, Sie kennenzulernen. Ich bin Franz Mager und Sie sind Ruths Mutter.«
»Kommen Sie, guter Mann, setzen wir uns ins Wohnzimmer«, Mathilda zieht ihn hinter sich her.
»Ich besorge trockene Kleider.« Die gemurmelten Worte beachten die beiden nicht. Im Schlafzimmer hole ich frische Wäsche, einen Rollkragenpullover und eine schwarze Cordhose aus dem Schrank. Alles Sachen von Papa. Die werden passen, Mager ist so schmal, wie mein Vater zuletzt war. Hocke mich aufs Bett, fühle mich ausgelaugt. Schließe die Augen und meine, nie mehr aufstehen zu können.
»Mama?«
Ich schrecke auf.
Jona steckt den Kopf zur Tür rein. »Alles in Ordnung?«
»Ja, ja, alles gut. Gleich mache ich Essen. Wir haben Besuch. Sitzt mit Oma im Wohnzimmer. Bitte sei freundlich, auch wenn Franz Mager ein bisschen … na ja, runtergekommen aussieht.«
Jona grinst, verzieht das Gesicht, verschwindet. Ich gönne mir noch ein paar Minuten. Bringe dann die Sachen ins Badezimmer.
Mathilda
Was für ein netter Mann, dieser Franz. Mathilda sagt es sich zum wiederholten Male. Ganz entspannt sitzt er neben ihr auf dem Sofa, redet vom Wetter und wie schwierig es im Herbst und Winter ist, ohne Wohnung zurechtzukommen.
Mathilda ist irritiert. »Sie haben keine Wohnung?«
»Nein, leider nicht. Seit einem Jahr lebe ich auf der Straße. Und Ihre Tochter, sie ist so nett. Hat mir geholfen. Gestern und auch heute wieder. Fast hätte ich eine schlimme Dummheit gemacht, in Ruths Supermarkt.«
Mathilda ist betroffen. Irgendwo wabert eine Erinnerung. Hat Ruth nicht was erzählt von dem unglücklichen Mann? Wie ist noch mal sein Name? »Herr … Herr … entschuldigen Sie, ich vergesse so schnell«, Mathilda spürt, dass sie errötet.
»Mager. Franz Mager. Franz genügt. Aber es ist nicht schlimm, wenn Sie es vergessen. Ich weiß ja, dass Sie mich meinen.«
Wirklich nett ist er, so verständnisvoll.
Sie nimmt seine Hand, »Sie würden auch meine Dämmerstunden verstehen.« Mathilda schließt die Augen, fühlt, wie er ihre Hand leicht drückt.
»Ja, diese Dämmerstunden sind Trost und Qual zugleich.«
Ruth
Franz Mager hat sich im Bad umgezogen, betritt zögernd das Wohnzimmer. »Schläft sie?« Er deutet auf Mama, die mit geschlossenen Augen auf dem Sofa sitzt.
»Ich weiß es nicht. Manchmal ist sie wach und döst nur vor sich hin«, ich stehe auf. »Wollen Sie zum Essen bleiben?«
»Ich glaube, ich gehe jetzt besser. Sie haben schon so viel für mich getan.«
»Nein!« Ein Schrei von Mama, die aufspringt, zu Franz hinläuft und sich an seine Hand klammert. »Sie dürfen nicht gehen, Herr …« Sie schaut von mir zu ihm, schüttelt den Kopf, »Sie wissen schon.« Plötzlich strahlt sie. »Fritz, nicht wahr? Bitte bleiben Sie.«
Franz nickt, setzt sich mit Mathilda wieder aufs Sofa. Hebt die Schultern, als er mich anschaut, eine hilflose Geste.
»Ich mache Essen, bin in der Küche.«
Später, wir sitzen wieder im Wohnzimmer, Jona hat mit uns gegessen, sich in sein Zimmer verzogen, steht Mager auf.
»Dann gehe ich jetzt mal. Sie müssen schlafen. Aber vielleicht darf ich wiederkommen? Mit Mathilda reden, Sie ein wenig unterstützen, Ruth.«
Mama hat den Kopf gegen das Sofakissen gelehnt, die Augen geschlossen. In mir scheint sich plötzlich etwas zusammenzufalten. Ich erinnere, wie Franz mir von seinen Dämmerstunden erzählt und wie sehr mich das berührt hat. Ich denke an die Kälte da draußen und dann an all das, was uns noch erwartet, wenn Mamas Dämmerstunden allumfassend werden.
»Franz …«, ich zögere, »nun, wir haben Zimmer genug. Wollen Sie nicht bleiben? Versuchsweise. Mathilda würde sich freuen. Und ich auch. Ich glaube, es täte uns allen gut. Und Sie hätten ein Dach über dem Kopf.«
Franz hat angefangen, die Hände zu kneten, es dauert, bis er mich anschaut. Ich fürchte, er wird ablehnen. Sein Stolz …
»Sie meinen das ernst? Ja. Das ist so … ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Sehr gerne möchte ich Ihnen helfen und für Mathilda da sein.«
»Kommen Sie.« Ich zeige ihm Papas Arbeitszimmer. Die alte Schlafcouch steht noch da. Papa hat sie immer benutzt, wenn er lange gearbeitet hat und Mama dann nicht stören wollte.
»Wir können das Zimmer beizeiten herrichten. Mein Sohn hilft bestimmt.«
»Es ist fantastisch«, sagt Franz.
Nachdem ich ihm Bettzeug gegeben habe, lasse ich ihn allein. Gehe zu Mama ins Wohnzimmer.
Sie ist wach. »Wo ist Fritz?« Irritiert schaut sie mich an.
»Er schläft. In Papas Arbeitszimmer. Und morgen könnt ihr zusammen frühstücken.«
Mathilda lächelt, streicht die grauen Locken aus der Stirn. »Das ist gut. Ja, sehr gut, Ruth.«